Das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen
Die Bilder des Sonnenblumenhauses in Rostock-Lichtenhagen, dem Ort des Geschehens, gingen um die Welt. In dem Gebäude mit dem berühmten Blumenmosaik befand sich den 1980er-Jahren ein Wohnheim für Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam und seit 1990 zudem die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST) in Mecklenburg-Vorpommern. Die Kapazitäten der Rostocker ZAST waren seit Längerem überlastet: Asylbewerber:innen mussten auf der Wiese vor dem Haus kampieren, es herrschten katastrophale hygienische Zustände. Die zuständigen Politiker:innen und Behörden taten lange nichts dagegen und trugen so zur Verschärfung der Lage bei. Die Geflüchteten wurden alleingelassen und zugleich wuchs der Unmut von Anwohner:innen des Viertels.
Am 22. August sammelten sich Neonazis und gewaltbereite Rassist:innen vor der Aufnahmestelle, warfen Steine auf das Haus und riefen den rechtsextremen Slogan jener Jahre: „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“. In den folgenden Tagen setzte die Menge ihre Angriffe mit Steinen und Brandsätzen gegen das Haus und später auch gegen die Polizei fort. Bis zu 3.000 Menschen beobachteten die gewalttätigen Übergriffe, johlten und applaudierten. Erst am dritten Tag wurden die Asylbewerber:innen evakuiert. Obwohl sich die gewaltbereite Menge weiterhin vor dem Sonnenblumenhaus befand, zog sich die Polizei zurück.
Der rassistische Hass der Angreifenden richtete sich nun gegen die im Haus verbliebenen Vietnames:innen. Molotowcocktails schlugen in mehreren Wohnungen ein, das Haus, in dem sich noch etwa 150 Personen, darunter der Ausländerbeauftragte der Stadt Rostock und ein Kamerateam des ZDF befanden, brannte. Die Menschenmenge vor dem Haus hinderte die Feuerwehr am Löschen des Brandes. Nur aus eigener Kraft konnten die Eingeschlossenen den Flammen über das Dach entkommen und wurden schließlich evakuiert.
Rassistische Gewalt in den frühen 1990er-Jahren
Die Gewalt begann keineswegs in Rostock-Lichtenhagen, sondern reihte sich ein in eine ganze Welle von rassistischen Anschlägen in den frühen 1990er-Jahren. Schon das Pogrom im sächsischen Hoyerswerda im Herbst 1991 sowie weitere rassistische Übergriffe auf Einzelpersonen markierten eine Verschärfung der Lage.
Der Rassismus trat sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland auf. Im Osten entstand durch den politisch-gesellschaftlichen Umbruch im Zuge der deutschen Einheit eine besondere Situation, die das Erstarken des Rechtsextremismus ermöglichte: Krise und Umbruch der Institutionen, Arbeitslosigkeit und ein in der DDR unter dem Mantel der „Völkerverständigung“ gedeckelter Rassismus waren einige der Gründe.
In Westdeutschland hatte sich in den 1980er-Jahren der Rassismus gegen Türk:innen und Asylbewerber:innen verschärft, der auch durch die Debatte über die Einschränkung des Asylrechts angeheizt wurde. Rechtsextreme Parteien, Boulevardmedien und konservative Politiker:innen verbreiteten die rassistisch geprägten Stereotype von Asylbewerber:innen, die sich Sozialleistungen erschleichen würden. Die immer wieder bemühten Darstellungen von flüchtenden Menschen als Flutwellen oder Masse, die ein Boot zum Kentern bringen könne („Das Boot ist voll“), ließen hilfesuchende Menschen als Bedrohung erscheinen.
Die Asyldebatte prägte auch den Diskurs in der vereinigten Bundesrepublik. Zwar stiegen die Geflüchtetenzahlen etwa wegen des Zuzugs von deutschen „Spätaussiedlern“ aus der ehemaligen Sowjetunion oder wegen Menschen, die vor den Kriegen aus dem ehemaligen Jugoslawien flüchteten, aber erst die medial geschaffenen Bedrohungsszenarien verschärften die Stimmung maßgeblich und verschoben in der Wahrnehmung der Bevölkerung die Relevanz des Themas: In Umfragen gaben Befragte zwischen Juni 1991 und Juli 1993 die Themen „Asyl/Ausländer“ als wichtigstes „Problem“ an, noch vor damals virulenten Fragen wie „Arbeitslosigkeit“ oder die „Deutsche Einheit“.
Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen wirkte als Fanal. Danach nahmen die gewalttätigen Angriffe auf Migrant:innen massiv zu. Bei zwei der schlimmstenn Angriffe der deutschen Nachkriegsgeschichte ermordeten Rechtsextreme in Mölln und Solingen acht Menschen, weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Jeweils nachts attackierten die Täter die Wohnhäuser der türkischen Familie Arslan in Mölln bzw. der Familie Genç in Solingen mit Brandsätzen. Insgesamt gab es in den Jahren 1991/92 mindestens 4.000 rechtsextreme Gewalttaten.