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In den tiefen Wäldern des Böhmerwalds, im absoluten Süden der Tschechischen Republik, nur wenige Kilometer vor der Grenze zu Österreich, liegt das Dorf Langstrobnitz/Dlouhá Stropnice. Hier wurde vor nunmehr 125 Jahren Wenzel Jaksch geboren. Jaksch gehört zu den wichtigsten politischen Persönlichkeiten der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. Nach dem Krieg schloss er sich der SPD an und gehörte später immerhin zum Schattenkabinett Erich Ollenhauers. Lange Jahre stand er der Seliger-Gemeinde vor, der bis heute existierenden Nachfolgeorganisation der sudetendeutschen Sozialdemokratie.
Wenzel Jaksch wurde in einfache Verhältnisse geboren. Der Arbeit wegen ging er als Heranwachsender nach Wien und fand hier Anschluss an die Arbeiterbewegung. Den Ersten Weltkrieg erlebte er als Soldat und erlitt eine schwere Verwundung. Nach dem Krieg hatte sich die politische Landkarte Mitteleuropas gewaltig verändert: Aus dem großen Österreich-Ungarn entstanden neue zahlreiche Nachfolgestaaten, welche sich als Nationalstaaten verstanden, aber große Minderheiten innerhalb ihrer Grenzen zählten. Dies gilt insbesondere für die Tschechoslowakei, in der rund 3,5 Millionen Sudetendeutsche lebten. Vor allem die Grenzgebiete Böhmens und Mährens waren überwiegend deutschsprachig. Die politischen Parteien der Sudetendeutschen hatten direkt nach dem Krieg unter Berufung auf das durch den amerikanischen Präsidenten Wilson formulierte Selbstbestimmungsrecht den Anschluss an die Republik Österreich gefordert. Unter ihrem Vorsitzenden Josef Seliger mobilisierten auch die Sozialdemokrat_innen gegen den Anschluss an die Tschechoslowakei. Als die Pariser Friedenskonferenzen jedoch die Grenzen der Republik bestätigten, änderte die Sozialdemokratie ihre Taktik und versuchte nun, Verbesserungen für die Minderheiten durch eine konstruktive Politik auf dem Boden des tschechoslowakischen Parlaments zu erreichen. Diesem Bekenntnis zur Demokratie blieb die sudetendeutsche Sozialdemokratie bis 1938 treu, als die Tschechoslowakische Republik unter dem Druck der Nationalsozialisten zerschlagen wurde.
Der junge Jaksch begann für die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei (DSAP) – so nannte sich die Partei offiziell ab 1919 – zu arbeiten. Zunächst war es seine Aufgabe, die Landbevölkerung für die Sozialdemokratie zu gewinnen. Dann aber begann er, für Parteizeitungen zu schreiben und bewies dabei großes Talent. Mitte der 1920er-Jahre entstanden Sozialreportagen, für die Jaksch durch das Sudetenland reiste und das Elend der Menschen aufzeichnete. In den letzten Jahren erschienen diese Reportagen erstmalig auf Tschechisch und in einer deutschen Gesamtedition. Ab Mitte der 1920er schrieb er für das Kopfblatt der Partei, den Prager „Sozialdemokrat“ und befand sich somit im politischen Zentrum des Landes. Seine Partei suchte zunehmend die Nähe zur tschechoslowakischen Sozialdemokratie, mit der man sich direkt nach dem Krieg in Minderheitenfragen erbittert gestritten hatte. 1929 traten beide Parteien schließlich in eine Koalitionsregierung ein. Ludwig Czech, der auf den 1920 unerwartet verstorbenen Josef Seliger als Parteivorsitzender gefolgt war, wurde Minister und Wenzel Jaksch zog erstmalig ins Parlament ein.
Zu Beginn der 1930er-Jahre sah sich die Tschechoslowakische Republik mit großen Herausforderungen konfrontiert. Die einsetzende Weltwirtschaftskrise traf insbesondere die industrialisierten deutschsprachigen Gebiete. Arbeitslosigkeit und Not begünstigten den Aufstieg nationalistischer Kräfte. 1933 gründete sich die Sudetendeutsche Heimatfront, die 1935 unter der Bezeichnung Sudetendeutsche Partei einen erdrutschartigen Wahlsieg holte. Diese Bewegung mit einer klaren Nähe zum reichsdeutschen Nationalsozialismus setzte die sudetendeutschen Demokrat_innen unter großen Druck. Jaksch warb in dieser Zeit für eine Erneuerung sozialdemokratischer Politik und kritisierte deutlich den Parteivorsitzenden Czech. Sozialdemokratie sollte, so Jaksch, alle Schichten der Gesellschaft ansprechen und vor allem auch eine klare Position in der Minderheitenfrage beziehen. Nur so könne man den Nationalisten den Wind aus den Segeln nehmen. Die Sozialdemokrat_innen stärkten in diesen Jahren ihr Bekenntnis zur demokratischen Tschechoslowakei und zeigten sich kampfbereit gegen den Nationalsozialismus. Sie unterstützten aufopferungsvoll die aus dem Deutschen Reich geflüchteten Genoss_innen der SPD.
Mitte der 1930er-Jahre versuchte Hitler, seinen Einfluss auf die Sudetendeutschen zu stärken. In der Presse wurde das vermeintliche Joch der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei beschrieben. Im September 1938 lösten Anhänger der Sudetendeutschen Partei Unruhen aus, um eine internationale Lösung der Sudetenfrage zu erzwingen. In München beschlossen Frankreich, Großbritannien, Italien und das Deutsche Reich den Anschluss der Sudetengebiete an das nationalsozialistische Deutschland. Den Gegnern des Nationalsozialismus blieb nur die verzweifelte Flucht ins Inland oder nach Prag. Eine sichere Zuflucht war dies allerdings nur für wenige Wochen, denn bereits im März 1939 marschierte die Wehrmacht auch in Prag ein. Jaksch flüchtete sich im letzten Augenblick in die britische Botschaft, verbrachte hier einige Tage und entkam der aufmerksamen Gestapo in einer Verkleidung als Handwerker. Getarnt als Tourist fuhr er mit dem Zug gen Osten und überquerte auf Skiern die Grenze nach Polen. Vom polnischen Hafen in Gdingen gelangte er per Schiff nach Schweden und von hier nach Großbritannien. Dort wurde er zum Anführer der Exilorganisation Treuegemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten, die zudem weitere größere Gruppen in Schweden und Kanada umfasste. Zunächst suchte die Organisation die Nähe zur tschechoslowakischen Exilregierung unter Edvard Beneš. Zur Auseinandersetzung kam es schließlich, als sich die Vertreibung der Sudetendeutschen für die Zeit nach dem Krieg abzeichnete.
Der tatsächlichen Vertreibung nach Kriegsende standen Jaksch und die sudetendeutschen Sozialdemokrat_innen hilflos gegenüber. In so genannten Antifa-Transporten wurden letztlich auch die Sozialdemokrat_innen aus der Tschechoslowakei ausgesiedelt. In ihrer großen Masse kamen sie nach Bayern und beteiligten sich am Aufbau der bayerischen SPD. Auf Druck der tschechoslowakischen Regierung wurde Jaksch die Einreise nach Deutschland verweigert, allzu sehr fürchtete man, er könne die vertriebenen Sudetendeutschen hinter sich vereinen. Erst nach Gründung der Bundesrepublik konnte er einreisen. Er schloss sich der SPD an und vertrat diese ab 1953 im Bundestag. Somit war er der einzige Demokrat, der sowohl dem tschechoslowakischen Parlament als auch dem Bundestag angehört hatte.
Für die hessische Landesregierung erstellte er einen Plan zur Integration der Heimatvertriebenen. In Ollenhauers Regierungsmannschaft zur Bundestagswahl 1961 war er als Vertriebenenminister vorgesehen, was sich auch darauf zurückführen ließ, dass er Vizepräsident der Sudetendeutschen Landsmannschaft war und von 1964 bis zu seinem Unfalltod 1966 auch Präsident des Bundes der Vertriebenen. Seine Heimat hatte Jaksch aber vor allem in der 1951 gegründeten Seliger-Gemeinde, der Nachfolgeorganisation der sudetendeutschen Sozialdemokratie.
Bis heute steht die Seliger-Gemeinde in der Tradition der sudetendeutschen Sozialdemokrat_innen und setzt sich von daher für einen aufrichtigen und nachhaltigen deutsch-tschechischen Dialog ein. Sie führt unterschiedliche Projekte durch, um an den Kampf und das Schicksal der deutschen Sozialdemokratie aus den böhmischen Ländern zu erinnern. Darüber hinaus bietet sie Bildungsseminare und Exkursionen an. In Zusammenarbeit mit der bayerischen SPD-Landtagsfraktion verleiht sie einmal jährlich einen Preis an Menschen, die sich für die deutsch-tschechische Verständigung eingesetzt haben. Der Preis trägt den Namen Wenzel Jakschs, jenes großen Sozialdemokraten, vor 125 Jahren geboren in den tiefen Wäldern des Böhmerwalds.
Thomas Oellermann
Literatur:
Wenzel Jaksch: Verlorene Dörfer, verlassene Menschen: Reportagen 1924–1928. Verlagsbuchhandlung Sabat 2020.
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