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Ihren allergrößten Wahlerfolg erzielte die SPD auf Bundesebene 1972 - mit Bundeskanzler Willy Brandt und einem einzigen Foto ...
45,8 Prozent! Am Abend des 19. November 1972 wurde recht schnell klar, dass die SPD die vorgezogene Bundestagswahl mit einer bis dato (und auch seitdem) nicht erreichten Zustimmungsrate haushoch gewonnen hatte und die sozialliberale Regierung unter Bundeskanzler Willy Brandt fortsetzen konnte. In den ersten Monaten des Jahres hatten im Deutschen Bundestag mehrere Überläufer in Richtung CDU/CSU die parlamentarische Mehrheit der Koalition ins Wanken gebracht und ein konstruktives Misstrauensvotum der Opposition heraufbeschworen, das jedoch knapp und spektakulär scheiterte. Da das Stimmenpatt die Bonner Republik weiterhin lähmte, stand bereits im Juni fest, dass es Neuwahlen geben müsse. Diese wurden nach einigem Hin und Her über die Sommerpause hinweg hinausgezögert und in den Herbst gelegt, auch um die Olympischen Sommerspiele in München nicht zu stören.
Als am 22. September eine bewusst verlorene Vertrauensfrage die Auflösung des Parlaments und die Notwendigkeit von Neuwahlen herbeiführte, war die SPD auf einem Abwärtstrend in ein veritables Umfragetief gerutscht. Dass sie und die Freien Demokraten, die ausschließlich die bisherige Koalition fortsetzen wollten, am Ende nicht nur knapp, sondern deutlich die Nase vorn haben würden, war alles andere als ausgemacht, zumal der rekordverdächtig kurze wie heftige Wahlkampf anfänglich vor allem um wirtschafts- und finanzpolitische Fragen kreiste. Der Rücktritt von Bundesfinanzminister Schiller im Juli galt vielen als Menetekel, ebenso wie das mörderische Attentat auf die Olympia-Mannschaft Israels allseits neue Befürchtungen um die innere Sicherheit schürte. Erst zum Ende hin rückte mit den am 7. November erfolgreich abgeschlossenen Verhandlungen zum Grundlagenvertrag mit der DDR die Ostpolitik wieder mit voller Wucht in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung, so dass die SPD das Ruder noch herumreißen und die Bundestagswahl als Neuauflage des Misstrauensvotum-Duells Brandt vs. Barzel bestreiten konnte, nur diesmal eben als Abstimmung für alle Wahlberechtigten, als Plebiszit über die sozialliberale Entspannungspolitik und - ganz im Sinne des plakatierten Leitmotivs "Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen" - als solidarische Absicherung des Bundeskanzlers und der Bundesregierung für ihren innenpolitischen Modernisierungskurs. Eine Wahlbeteiligung von heutzutage unvorstellbaren 91,1 % zeugt von der Welle des politischen Engagements in allen Schichten der Bevölkerung; da das aktive Wahlalter inzwischen von 21 auf 18 Jahre herabgesenkt worden war, waren außergewöhnlich viele Erstwähler_innen mit von der Partie - unter diesen 18- bis 25-Jährigen holte die SPD die absolute Mehrheit, mit der FDP zusammen sogar zwei Drittel aller abgebenenen jungen Stimmen.
Was in der SPD der "Willy-Wahl" '72 vorausging, darf getrost - mit 1998 und 2021 - zu den Top 3 der wirkungsvollsten SPD-Wahlkampagnen auf Bundesebene gezählt werden. Die Wahlstrategen - Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter Holger Börner, die für Konzeption, Planung und kommunikative Umsetzung aller Maßnahmen verantwortliche Abteilung Öffentlichkeitsarbeit beim SPD-Parteivorstand mit Albrecht Müller an ihrer Spitze sowie Harry Walter von der Düsseldorfer SPD-Werbeagentur ARE - agierten höchst professionell, handwerklich modern und sie blieben bis zum letzten Tag hellwach, um den gegnerischen Parteien und ihren Attacken möglichst immer mindestens einen Schritt voraus zu sein.
Die Sozialdemokrat_innen vermittelten ihre Argumente und Botschaften geschickt auf vielfältige Weise. Neben klassischen Informationen nahm auch die Sympathiewerbung durch noch mehr Prominente als bereits 1969 breiten Raum ein. Auf ihren zentralen Plakaten setzte die SPD auf knackige Slogans und mit "Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land" auf einen für sozialdemokratische Verhältnisse geradezu revolutionären Nationalstolz, freilich im Sinne eines modernen, offenen und friedfertigen Deutschlands. Bei der Personalisierung legte die SPD ebenfalls einen Zahn zu und bewarb ihren Bundeskanzler ("Willy Brandt muss Kanzler bleiben", "Kanzler des Vertrauens") mit nur einem einzigen Foto.
Dieses Foto hat Wahlkampfgeschichte geschrieben. Aus vielen, theoretisch in Frage kommenden Motiven war es ausgewählt und für so zugkräftig befunden worden, dass sich nahezu alle Werbemittel - Plakate, Broschüren, Flyer, Presseanzeigen oder auch die von Regisseur Michael Pfleghar produzierten TV-Werbespots - dieser einen Aufnahme bedienten, immer und immer wieder: Willy Brandt, wie er vor oder in einer Menschenmenge steht, den Kopf leicht anwinkelt, andeutungsweise lächelt und souverän wie in sich ruhend in die Kamera blickt. Harry Walter hat seither des öfteren die Anekdote zum besten gegeben, dass der bekannteste Plakatspruch zunächst "Deutsche, wir können stolz sein auf Willy Brandt" lauten sollte, doch der derart Angepriesene habe das kurzerhand in "unser Land" geändert und zu Walter gemeint: "Wenn du das Bild daneben klebst, weiß jeder, was du meinst!"
Das Porträt, mit dem die SPD ihren gesamten Willy-Wahlkampf illustrierte, war kein Kunstprodukt, keine auf dem Reißbrett erdachte und im Atelier mühsam arrangierte Fotografie, sondern es ist ein Schnappschuss, ein qualitativ hochwertiger Zufallstreffer von Harry Walter, der später zu Protokoll gab, wie er das Bild "auf einer Rundreise durch bayerische Kur- und Badeorte geschossen" habe, als Willy Brandt "gerade aus einem Rathaus" kam, "wo er sich ins Gästebuch eingetragen hatte" - "ein Kinderblasorchester mit Rieseninstrumenten" habe gespielt, Willy Brandt "blieb stehen, hörte zu und beobachtete die Szene. Da entstand das Bild."
Viele Unterlagen der Werbeagentur ARE - auch jene zur Bundestagswahl 1972 - werden im Archiv der sozialen Demokratie verwahrt und so sind inzwischen etliche von Harry Walter aufgenommene Fotografien in der audiovisuellen Sammlung erschlossen, darunter längere Serien, die auf Reisen entstanden. Impressionen auf rund fünfzig aus ihren Rahmen befreiten Dia-Positiven zeigen Willy Brandt an einem einzigen Tag in wahlkampftypischen Szenen.
Einige Bilder lassen sich mit Hilfe eines klar erkennbaren Schilds dem Bahnhof von Bad Aibling im oberbayrischen Landkreis Rosenheim zuordnen und so sind die Fotos nach kurzer Recherche in den Terminkalendern und Tagesplänen des Willy-Brandt-Archivs zweifelsfrei auf den 18. August 1972 datiert, als der Wahlkampf noch gar nicht angelaufen war: Willy Brandt hatte sich - nach seinem in Norwegen mit viel Sonne verbrachten Sommerurlaub - vielmehr auf eine kurze Informationsreise begeben und in Niedersachsen und in Bayern Kurorte als Zentren des Fremdenverkehrs mit zahlreichen Einrichtungen des Gesundheitswesens aufgesucht. Am 17. August war er durch Winterberg im Sauerland, Bad Pyrmont und Bad Lauterberg im Harz getourt; tags darauf lagen im Freistaat vor Bad Aibling und Oberaudorf auch - weiter westlich gelegen - Grainau, Garmisch-Partenkirchen und Murnau am Staffelsee auf seinem Weg. Willy Brandt wagte sich gewissermaßen in die Höhle des CSU-Löwen, in den Wahlkreis von Franz Josef Strauß. Der Vormittag war wolkenverhangen, es regnete in Strömen. Und genau dort ist das im Bundestagswahlkampf 1972 eingesetzte Porträt entstanden.
Ebenso wie Harry Walter war sein Kollege, der Fotograf Jupp Darchinger auf der Reise dabei; mehr als zwanzig Filme hat er in den zwei Tagen gefüllt und da seine Negative stets fein säuberlich nach Filmen getrennt aufbewahrt und die entsprechenden Filmstreifen auch nicht in ihre Einzelbilder zerschnitten worden sind, zeigen Darchingers Aufnahmen vom gleichen Ort zwar nicht alles, aber immerhin verdeutlichen sie einige Abläufe: Willy Brandts Ankunft vor einem Rathaus, während auf der Straße eine Kapelle spielt, seine Ansprache per Mikrofon, die Formalitäten der Begrüßung und der Eintragung ins Goldene Buch im Innern und schließlich noch - aus einem Fenster heraus aufgenommen - die Musiker_innen, die draußen alle bis zur Abfahrt des Bundeskanzlers ausharrenden Bürger_innen bei Laune halten.
Harry Walters fragmentierte Dia-Einzelbilder aus Bayern lassen sich nicht so einfach mithilfe ihrer Filmnummern präzise aneinanderreihen. Ihre ursprüngliche chronologische Abfolge ist scheinbar futsch - zu viele misslungene oder unbrauchbare Motive sind entsorgt oder woanders einsortiert worden, die hierdurch gerissenen Lücken erschweren das Zusammensetzen des Puzzles erheblich. Außerdem kommen manche Filmnummern doppelt und dreifach vor, die Fotos entstammen also mehreren Filmen (desselben Herstellers), die wiederum in zwei verschiedenen Kameras eingelegt waren, welche abwechselnd, also parallel belichtet worden sind. So schälen sich zwar einige zusammenhängende Bildfolgen heraus, aber ihr genauer Zusammenhang bliebe rätselhaft, wäre da nicht die Position jeder Filmnummer am unteren Rand des Filmstreifens in Relation zum Bildmotiv und zu den Perforationslöchern, die sich innerhalb eines Films kaum wesentlich bzw. nur allmählich verschiebt. So lassen sich die Aufnahmen doch noch den einzelnen Filmen zuweisen und auf dem Zeitstrahl halbwegs exakt verorten.
Apropos Ort: einige Bilder bestätigen von selbst, dass das berühmte Foto in Murnau vor dem Rathaus mit seiner charakteristischen Fassade entstand - bei einem Termin, der in den schriftlichen Planungen gar nicht auftaucht, denn eigentlich wollte Willy Brandt nach Ankunft des Sonderzuges am Murnauer Bahnhof ausschließlich das Müttergenesungsheim der Arbeiterwohlfahrt besuchen. Auf dem Weg dorthin lag im Ortskern das Rathaus; vermutlich hatte sich der Bürgermeister erst spät dazu bereiterklärt, dem Herrn Bundeskanzler die Ehre zu erweisen? Einige Zeitungsartikel berichteten im Nachgang von verbalen Spitzen und Seitenhieben des CSU-Lokalpolitikers, während sich der Gast ins Goldene Buch eintrug, doch von dieser schrägen Begleitmusik ahnte Brandt noch nichts, als er unmittelbar nach seiner Ankunft neben dem Eingang verweilte und vom Jugendblasorchester Murnau ein (oder zwei?) Ständchen dargeboten bekam.
Harry Walter wird schnell realisiert haben, dass sich ihm unverhofft an einem guten Standort bei günstigen Lichtverhältnissen eine ideale Gelegenheit für Porträtaufnahmen bot und dass es nun darauf ankam, den richtigen Augenblick zu erhaschen. Mittendrin endete einer seiner 36er-Filme; er hat ihn sofort hektisch gewechselt, um noch einige weitere Aufnahmen machen zu können, bevor die musikalische Darbietung enden und Brandt zum aufgestellten Mikrofon gehen würde. Was die Kapelle spielte, wissen wir nicht, aber es ist doch anzunehmen, dass Brandt neben dem Zuspruch der vielen vor dem Rathaus versammelten Bürger_innen auch darüber erfreut und gerührt gewesen sein dürfte, wie tapfer die jungen Musiker_innen - ohne wasserdichte Kleidung und ohne Regenschirme - ihm zuliebe den Widrigkeiten des Wetters trotzten. In seinen tagebuchartigen Notizen, die er zu dokumentarischen Zwecken Mitte August begann und bis zum Wahltermin durchzog (und die von Beginn an zur Veröffentlichung vorgesehen waren), erwähnt Brandt konkret von seiner Stippvisite in Murnau nicht allzu viel, nur den "etwas knurrigen CSU-Bürgermeister" und den "Regen, der bei mir fast immer auf die Stimmung drückt". Dass man ihm eben dies auf den Fotos vor dem Rathaus nicht ansieht, ist sicherlich das Verdienst des Jugendblasorchesters Murnau.
Wer das Foto No. 36 mit dem Wahlkampf-Motiv vergleicht, wird bemerken, dass beide nicht identisch sind. Die viel zu nahe Hand des Mitarbeiters - wahrscheinlich vom Personenschutz - mitsamt dem Griff des über Brandt aufgespannten Regenschirms ist verschwunden. Brandts Kopf scheint freigestellt und vor eine andere Aufnahme desselben unscharfen Hintergrunds (der rote Farbtupfer am linken Bildrand ist ein Regenschirm) gesetzt worden zu sein, so dass absolut nichts vom Porträtierten ablenkt. Das wäre bei näherem Hinsehen aber noch längst nicht alles: Wieso schaut Willy Brandt auf Foto No. 36 an der Kamera leicht vorbei, wo er doch auf den Plakaten den Betrachter_innen werbewirksam direkt ins Auge blickt? Sind seine Pupillen äußerst dezent feinjustiert, also retuschiert worden? Entweder wurde im Foto auf zweierlei Weise nahezu unmerklich getrickst - oder aber Foto No. 36 ist in Wahrheit gar nicht die Vorlage. Denn auf einem 36er-Kleinbildfilm war oftmals noch etwas mehr Platz, so dass es mitunter für ein oder zwei weitere Motive reichte. Ob Harry Walter so schnell wie möglich erneut auf den Auslöser drückte, Willy Brandt sich aber derweil sekundenlang nicht rührte, außer dass er der Kamera nun direkt ins Objektiv blickte? Ob sein Leibwächter zufälligerweise oder geistesgegenwärtig seine Hand mitsamt Regenschirmgriff hinter Brandts Kopf verschwinden ließ, wo der Regenschirm nur noch mit dem schmalen Stab am oberen Bildrand zu erahnen ist? Wenn dem so war, dann hätte Harry Walter Glück gehabt, dass der magische Moment einige Sekunden länger anhielt und das zusätzliche Foto noch auf den Film passte. In diesem Fall wäre das im Wahlkampf 1972 verwendete Porträt rundherum authentisch – und so lange ein Mysterium, bis das originale Dia-Positiv gefunden wird ...
Das Foto aus Murnau war als werbetechnischer Geniestreich im Oktober/November 1972 omnipräsent und avancierte im Laufe der Zeit zu einem der bekanntesten Willy-Brandt-Porträts, da ganze Generationen hiermit rückblickend die geschichtsträchtige Stimmung im Jahre 1972 verbinden. Es wurde regelrecht zu einer Ikone, die eben nicht zeitlos wirkt: mag dieses Bild auch gelegentlich in anderem Kontext verwendet werden, so ist dieses Porträt doch vornehmlich untrennbar mit dem Bundestagswahlkampf vor fünfzig Jahren verbunden, spiegelt gerade deshalb heute noch - wie der "Willy wählen"-Button - bei vielen damaligen Wähler_innen das Lebensgefühl jener Zeit und weckt all jene Emotionen, mit denen sich so viele Bürger_innen für Willy Brandt und die SPD engagierten.
Sven Haarmann
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