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Gut reagiert: Die EZB in der Covid-19-Krise

von Silke Tober



Vor dem Hintergrund von mittlerweile 21 Jahren Erfahrung hat die Europäische Zentralbank (EZB) auf den wirtschaftlichen Abschwung im Zuge der Corona-Krise genau richtig reagiert. Sogar die Aussage von EZB-Präsidentin Christine Lagarde Mitte März 2020, das Problem der Unterschiede bei den Renditen der Staatsanleihen der Euroländer liege in der Verantwortung „anderer Akteure“, kam zum richtigen Zeitpunkt. Damit setzte sie ein deutliches Zeichen hinsichtlich der Grenzen des EZB-Mandats und des dringenden Handlungsbedarfs der Regierungen, die wirtschaftspolitischen Grundpfeiler des Euroraums zu reparieren bzw. fehlende institutionelle Elemente zu ergänzen. Ebenso schlagkräftig waren dann aber auch die ergriffenen geldpolitischen Maßnahmen: Mitte März 2020 erhöhte die EZB ihre Anleihenkäufe und führte wegen der Pandemie ein neues Kaufprogramm (Pandemic Emergency Purchase Programme – PEPP) ein, das es ihr ermöglicht, ihre Anleihenkäufe auf jene Staatsanleihen von Euroländern zu konzentrieren, die schwierigen Marktbedingungen ausgesetzt sind. Zudem verbesserte sie die Bedingungen und den Umfang ihrer Refinanzierungsoperationen, über die sie die Liquiditätsversorgung der Banken im Euroraum steuert.

Momentan ist die EZB dabei, ihre geldpolitische Strategie zu überarbeiten. Dabei wird sie ihre politischen Instrumente und Ziele, ihr Inflationsziel sowie ihre Kommunikation mit den Regierungen und der allgemeinen Öffentlichkeit unter die Lupe nehmen. Seit der letzten strategischen Überprüfung im Jahr 2003 hat sie bei der Weiterentwicklung ihrer geldpolitischen Strategie erhebliche Fortschritte gemacht. Die wichtigsten Elemente, die im Rahmen der aktuellen Überprüfung erhalten werden sollten, sind das flexible Inflations-Targeting mit einem symmetrischen Inflationsziel – eine Unterschreitung wird als ebenso problematisch angesehen wie eine Überschreitung – und die Berücksichtigung von Hysterese-Effekten – der Gefahr, dass sich aus kurzfristigen, konjunkturellen Fehlentwicklungen infolge einer unzureichenden geldpolitischen Reaktion längerfristige, strukturelle Probleme in den Volkswirtschaften ergeben können.

In der aktuellen Krise stabilisiert die EZB die Wirtschaft, indem sie zinssenkend wirkt und Liquiditätsengpässe verhindert, die den Abschwung verstärken könnten. Bereits vor Covid-19 war die Inflation im Euroraum sehr niedrig – mit einer Gesamtrate von 1,4 Prozent und einer politisch relevanteren Kerninflationsrate, die die Preissteigerung ohne die Preisentwicklung im Bereich Energie, Lebensmittel, Tabak und Alkohol misst, von 1,1 Prozent im Januar 2020. Im Zuge der steigenden Arbeitslosigkeit wird sich der Inflationsdruck – ausgehend von dem gegenwärtig ohnehin niedrigen Niveau – in den kommenden Monaten zweifelslos weiter abschwächen und eine noch stärkere Verfehlung des EZB-Inflationsziels in Höhe von 1,9 Prozent bewirken. Es wäre allerdings ein schwerer Fehler, das Mandat der EZB allein auf die Gewährleistung einer stabilen und niedrigen Inflation zu reduzieren. Preisniveaustabilität ist das oberste Ziel der EZB, weil hohe Inflationsraten die wirtschaftliche Stabilität und die Beschäftigung beeinträchtigen würden, jedoch nicht weil eine geringe Inflationsrate ein herausragendes Ziel an sich darstellt. Als eine von nur zwei Makropolitiken trägt die Geldpolitik vielmehr auch die Verantwortung dafür, mit Blick auf einen hohen Beschäftigungsstand für eine hinreichende gesamtwirtschaftliche Nachfrage im Euroraum zu sorgen – insofern dies mit Preisniveaustabilität vereinbar ist.

Inflations-Targeting: Eine flexible Strategie für niedrige Inflation und hohes Wachstum

Während der Präsidentschaft von Mario Draghi (2011 bis 2019) entwickelte sich die Strategie der EZB hin zum expliziten Inflations-Targeting. Diese Strategie beruht auf drei entscheidenden Elementen: einem konkreten Inflationsziel, einer fundierten Inflationsprognose und einer nachvollziehbaren geldpolitischen Analyse. Das Inflationsziel, das im Jahr 2003 als „unter, aber nahe zwei Prozent“ neu definiert wurde, ist nicht symmetrisch und eher kryptisch, aber Draghi begann im Laufe seiner Präsidentschaft, den allgemein üblichen Wert von 1,9 Prozent als Inflationsziel zu verwenden, und es ist wahrscheinlich, dass im Rahmen der aktuellen Überprüfung ein eindeutiges mittelfristiges Ziel in Höhe von zwei Prozent festgelegt wird. Die aktuelle Strategie ist zudem sinnvollerweise mittelfristig angelegt. Das bedeutet, dass die EZB ihre Politik nicht an der aktuellen Inflation ausrichtet, sondern an einer Inflationsprognose. Wird erwartet, dass die Inflation das Ziel mittelfristig unterschreitet, lockert die EZB die geldpolitischen Zügel. Droht eine Abweichung nach oben, wird die Geldpolitik gestrafft. Während der Präsidentschaft von Mario Draghi stand eine Straffung allerdings nie zur Debatte: Die EZB befindet sich bereits seit 2009 im Krisenmodus, und abgesehen von Ölpreisschocks war die Inflation seither stets zu niedrig.

Kurz bevor Mario Draghi im Jahr 2011 sein Amt übernahm, hatte sein Vorgänger Jean-Claude Trichet zweimal – im April und Juli 2011 – die Zinsen erhöht, um damit auf einen Ölpreisschock zu reagieren, der die Gesamtinflation auf über zwei Prozent angehoben hatte. Das kann als geldpolitische Fehlentscheidung gewertet werden, denn in dieser Zeit stagnierte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Euroraums bereits und die Kerninflationsrate lag deutlich unter zwei Prozent. Unter Draghi begann die EZB dann, die Kerninflation in den Vordergrund zu stellen. Das ist wichtig, weil eine geldpolitische Reaktion auf kurzfristige Preisschocks – wie steigende Lebensmittelpreise infolge von Ernteausfällen oder höhere Ölpreise aufgrund geopolitischer Spannungen – die betroffenen Preise, wenn überhaupt, nur minimal beeinflusst. Stattdessen wird die zugrunde liegende Inflationsdynamik gebremst, was zu einer niedrigeren Inflationsrate führt, sobald der vorübergehende Preisschock nachlässt. Inflation ist ein Prozess, der durch eine Lohn-Preis-Spirale in Bewegung gehalten wird – einmalige Preisschocks erfordern daher keine geldpolitische Reaktion. Das ist der Grund, warum die US-Notenbank Federal Reserve eine Kerninflationsrate als Zielgröße hat und das EZB-Inflationsziel zu Recht mittelfristig definiert ist, sodass die EZB temporäre oder Einmaleffekte ignorieren kann.

Die entscheidende Herausforderung für Zentralbanken liegt darin, die Veränderungen der zugrundliegenden Inflationsdynamik zu erkennen. Dabei bieten Kerninflationsraten – ebenso wie Lohnerhöhungen – eine gewisse Orientierung. Um aber vorübergehende von langfristigen Effekten unterscheiden zu können, ist ein breites und detailliertes Wissen über ökonomische Fakten und Zusammenhänge notwendig. Beispielsweise sind Lohnerhöhungen in den Euroländern mit Preisstabilität vereinbar, wenn sie der Summe aus dem EZB-Inflationsziel und der mittelfristigen Produktivitätssteigerung entsprechen. Daher muss die EZB die mittelfristige Produktivitätssteigerung abschätzen, die von vielen Faktoren wie beispielsweise der Investitionsrate abhängig ist.

Makroökonometrische Modelle und mechanische geldpolitische Regeln können dabei lediglich zur Orientierung dienen, da ihre Ergebnisse von den jeweils gesetzten Annahmen abhängen, die –  angesichts der Komplexität und des ständigen Wandels unserer Volkswirtschaften – selbst ständig überprüft werden müssen. Insbesondere das geschätzte Produktionspotenzial einer Volkswirtschaft stellt eine unumgängliche und folgenschwere Annahme sowohl in makroökonometrischen Modellen als auch in strikten geldpolitischen Regeln dar.

Das Produktionspotenzial: Eine flexible Outputgrenze

In der Theorie sind das Produktionspotenzial und das potenzielle Wachstum überzeugende Konzepte, da sie anzeigen, wie viel eine Volkswirtschaft nachhaltig produzieren kann, das heißt ohne dass die Inflationsrate das Inflationsziel übersteigt. Empirisch lässt sich das Produktionspotenzial allerdings nicht präzise quantifizieren. Sogar Schätzungen, die auf detaillierten Produktionsfunktionen beruhen – wie die Berechnungen der EU-Kommission –, liefern lediglich Zeitreihen für das Produktionspotenzial, die letztendlich nur weniger volatile Versionen der tatsächlichen BIP-Zeitreihen der analysierten Volkswirtschaft darstellen.

Ein wichtiger Bestandteil der auf Produktionsfunktionen beruhenden Schätzung des Produktionspotenzials ist die inflationsstabile Arbeitslosenquote. Sie beschreibt den Anteil der Erwerbstätigen, die arbeitslos sein müssen, damit das Wachstum nachhaltig (im Sinne von inflationsstabil) ist. Die EU-Kommission betrachtet die inflationsstabile Arbeitslosenquote als Begrenzungsfaktor für das nachhaltige, inflationsstabile Wachstum einer Volkswirtschaft. Allerdings haben empirische Analysen wiederholt gezeigt, dass die inflationsstabile Arbeitslosenquote ohne signifikante Einbeziehung des Lohndrucks geschätzt wird.

Empirisch wird die inflationsstabile Arbeitslosenquote daher im Wesentlichen als Trend geschätzt, der auf den vergangenen und erwarteten tatsächlichen Arbeitslosenquoten beruht. Entsprechend lag beispielsweise die deutsche inflationsstabile Arbeitslosenquote laut der Frühjahrsprognose 2020 der EU-Kommission im Jahr 2019 bei 3,4 Prozent, während die tatsächliche Arbeitslosigkeit 3,2 Prozent betrug. Im Jahr 2010, als die tatsächliche Arbeitslosigkeit noch bei sieben Prozent lag, berechnete die EU-Kommission für das gleiche Jahr eine inflationsstabile Arbeitslosenquote von 7,9 Prozent. Verändert sich die tatsächliche Arbeitslosigkeit, verändern sich folglich die aktuellen und vergangenen Werte der geschätzten inflationsstabilen Arbeitslosigkeit in die gleiche Richtung: Aus heutiger Perspektive liegt der Wert für die inflationsstabile Arbeitslosenquote für 1999 über einen Prozentpunkt höher als vom Jahr 2006 aus betrachtet – obwohl sich der Lohndruck im Jahr 1999 offensichtlich nicht verändert hat.

Das spanische Beispiel ist noch verblüffender: Die aktuelle Frühjahrsprognose der EU-Kommission kommt zu dem Ergebnis, dass Spaniens tatsächliche Arbeitslosenquote von 14 Prozent im Jahr 2019 auf einen übermäßig angespannten Arbeitsmarkt hindeutete. Laut den Berechnungen der EU-Kommission müssen 16,4 Prozent der spanischen Erwerbstätigen arbeitslos sein, damit die Inflation stabil und das Wachstum nachhaltig ist. Etwa vier Millionen Arbeitslose als Voraussetzung für nachhaltiges, inflationsstabiles Wachstum zu bezeichnen ist schon an sich erstaunlich. Angesichts der spanischen Kerninflationsrate – die 2018, 2019 und Anfang 2020 bei 1,1 Prozent lag – erscheint dies sogar absurd. Während der Eurokrise stieg die spanische Arbeitslosigkeit im Jahr 2013 auf 26,1 Prozent. Die EU-Kommission berechnete in 2013 eine inflationsstabile Arbeitslosenquote in Höhe von 23,2 Prozent für dieses Jahr und definierte damit letztlich ein zyklisches Problem größtenteils in ein strukturelles Problem um. Aus heutiger Perspektive lag die inflationsstabile Arbeitslosenquote 2013 den Berechnungen der EU-Kommission zufolge um 4,5 Prozentpunkte niedriger, wobei der Hauptgrund für diese Neueinschätzung der erhebliche Rückgang der tatsächlichen Arbeitslosigkeit seit 2013 ist, der ein Abflachen des als inflationsstabile Arbeitslosenquote interpretierten Trends bewirkte.

Das tatsächliche Produktionspotenzial einer Volkswirtschaft ist von vielen schwer abzuschätzenden Faktoren abhängig, die ihrerseits zudem durch die Geldpolitik selbst beeinflusst werden können. Damit ist es erstens schwer zu quantifizieren und stellt zweitens keine starre Größe dar. Es gibt drei Hauptkanäle, über die die Geldpolitik das Produktionspotenzial verändern kann: Erstens fördern niedrigere Zinsen die Investitionstätigkeit, was den Kapitalstock und damit die Produktionskapazitäten erhöht. Zweitens haben Investitionen häufig die Einführung neuer, produktivitätssteigernder Technologien und innovativer Produktionsprozesse zur Folge. Und drittens bewirken höhere Wachstumsraten tendenziell eine zunehmende Beschäftigung durch ein steigendes Arbeitsangebot, da desillusionierte Arbeitnehmer_innen auf den Arbeitsmarkt zurückkehren und sich so die strukturelle Arbeitslosigkeit verringert. Umgekehrt kann eine zu restriktive Geldpolitik – oder, allgemeiner, eine makroökonomische Ausrichtung, die das Wirtschaftswachstum begrenzt – zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden, indem sie die Investitionen verringert, die Produktivitätsfortschritte verlangsamt und das unmittelbar einsetzbare Arbeitsangebot verkleinert, da die Langzeitarbeitslosigkeit steigt und sich desillusionierte Arbeitnehmer_innen vom Arbeitsmarkt zurückziehen.

Geld- und Fiskalpolitik: Grenzen des inflationsstabilen Wachstums testen

Da das Produktionspotenzial folglich nicht hinreichend genau geschätzt und zudem von der Geldpolitik selbst verändert werden kann, verfolgt die EZB ihre Inflations-Targeting-Strategie richtigerweise, ohne sich dabei auf Schätzungen des Produktionspotenzials zu verlassen. Während die EZB Schätzungen des Produktionspotenzials mittlerweile zu Recht wenig Beachtung schenkt, spielen diese angeblichen Grenzen für nachhaltiges, inflationsstabiles Wachstum bei der Bewertung und Ausrichtung der nationalen Fiskalpolitiken der Euroländer im Rahmen der fiskalischen Regeln (Schuldenbremse, Fiskalpakt etc.) weiterhin eine wichtige Rolle. Das hat in den vergangenen Jahren zu erheblichen fiskalpolitischen Fehlentscheidungen im Euroraum geführt, allen voran zu einer ausgeprägten, fehlgeleiteten Austeritätspolitik während der Eurokrise. Obwohl die geld- und fiskalpolitische Antwort auf die aktuelle Krise schnell und stark genug war, um den Schaden zu begrenzen und eine schnelle Erholung einzuleiten, ist abzuwarten, ob die Fiskalpolitik auch in den kommenden Jahren angemessen bleibt.

Wird die fiskalpolitische Unterstützung zurückgefahren, bevor sich der Wachstumsprozess selbst trägt, könnte dies die Zukunft des Euroraums gefährden. Die vergangenen neun Jahre haben gezeigt, dass die Geldpolitik allein nicht in der Lage ist, die Wirtschaft hinreichend zu stärken, um die Inflation mit dem Inflationsziel in Einklang zu bringen. Höhere Wachstumsraten sind zudem nötig, um die öffentlichen Schuldenstandsquoten und die hohe Arbeitslosigkeit in vielen Regionen des Euroraums zu senken. Gleichzeitig sind enorme öffentliche Investitionen erforderlich, um den für eine klimaneutrale Wirtschaft nötigen Strukturwandel voranzutreiben. Daher muss die Fiskalpolitik in den kommenden Jahren einen stärkeren Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung leisten. Die EZB ist zwar gesetzlich dazu verpflichtet, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der EU zu unterstützen, nicht aber dazu angehalten, Aufgaben zu übernehmen, die die Regierungen der Euroländer nicht bereit sind zu erfüllen.
 


Über die Autorin

Dr. Silke Tober leitet das Referat Geldpolitik am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind geldpolitische Strategie und Transmission, Produktionspotenzial, Finanzmarktstabilität und das Zusammenspiel von Fiskal- und Geldpolitik.


Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

 

 


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