Immer noch zu wenig Vielfalt im Bundestag
Wer sitzt im Bundestag – und wer fehlt? Die Volksvertretung spiegelt die Gesellschaft nur unzureichend wider. Frauen, junge Menschen und Menschen mit Migrationsgeschichte sind unterrepräsentiert – mit möglichen Folgen auf Entscheidungen, geringere politische Beteiligung und wachsenden Gräben. Maja Bisanz und Samuel Brielmaier von Brand New Bundestag analysieren die Ursachen und präsentieren Lösungen, um die Bevölkerung besser im Bundestag zu repräsentieren.
Der neu gewählte Bundestag spiegelt die Bevölkerung nur unzureichend wider. Die Repräsentationslücke – also die Differenz zwischen dem Anteil einer gesellschaftlichen Gruppe in der Bevölkerung und dem Anteil im Bundestag – ist enorm und hinsichtlich mancher Faktoren sogar gewachsen. Der Frauenanteil im Bundestag liegt bei 32,4 %, wohingegen Frauen 50,7 % der Bevölkerung ausmachen. Für ein repräsentatives Abbild der Bevölkerung fehlen demnach 115 weibliche Abgeordnete. Bei jungen Menschen ist die Repräsentationslücke noch größer: Nur 16,2 % der Abgeordneten sind unter 35, dabei macht diese Gruppe 36,5 % der Bevölkerung aus – 128 junge Abgeordnete fehlen.
Mit Blick auf den Bevölkerungsanteil fehlen 114 Abgeordnete mit Migrationshintergrund
Ähnlich gravierend ist die Situation bei Menschen mit Migrationshintergrund[1]. Ihr Anteil im Bundestag beträgt derzeit 11,6 %, während er unter den Wahlberechtigten bei 14,4 % liegt. Zwar ist der prozentuale Anteil seit der Bundestagswahl 2021 leicht gestiegen (2021: 11,3 %), jedoch hat die Wahlrechtsreform dazu geführt, dass die absolute Zahl der Abgeordneten mit Migrationshintergrund von 83 auf 73 gesunken ist – ein Rückgang um zehn Mandate. Noch deutlicher wird die Repräsentationslücke im Vergleich zum gesamten Bevölkerungsanteil von Menschen mit Migrationshintergrund, der bei 29,7 % liegt. Rechnerisch fehlen somit 114 Abgeordnete, um eine proportionale Vertretung sicherzustellen.
Ein Blick in die Fraktionen zeigt Unterschiede: Die SPD stellt weiterhin die meisten Abgeordneten mit Migrationshintergrund und konnte ihren prozentualen Anteil seit 2021 leicht steigern (von 17 % auf 17,5 %). Allerdings hat sie aufgrund des schlechten Wahlergebnisses und der Verkleinerung des Bundestags 14 Abgeordnete mit Migrationshintergrund verloren. Während Grüne, Linke und SPD eine größere Vielfalt in ihren Reihen abbilden, bleibt der Anteil in CDU/CSU und AfD besonders gering. Die Schätzung der Repräsentationslücke für weitere Gruppen, bspw. Arbeiter*innen, Menschen mit Behinderung oder People of Color ist zum jetzigen Zeitpunkt schwierig, da dazu keine öffentlich verfügbaren Daten zur Verfügung stehen.
Fehlende Vielfalt verzerrt politische Entscheidungen
Wer wie im Parlament vertreten ist, ist nicht nur Symbolik. Die Zusammensetzung hat einen Effekt auf die substanziellen politischen Maßnahmen, die das Parlament verabschiedet. Vereinfacht gesagt: Je stärker eine soziodemographische Gruppe, wie Frauen oder junge Menschen, selbst im Parlament vertreten ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihre inhaltlichen Interessen im politischen Prozess abgebildet werden [2-6].
Dazu sagt Politikwissenschaftlerin Dr. Pola Lehmann: „Studien zeigen eindeutig, dass die Präferenzen von Personen mit geringerem Einkommen und geringerem Bildungshintergrund schlechter repräsentiert werden“[7]. Dies liege auch daran, dass die Gruppen im Parlament wenig vertreten sind. Eine unausgewogene Zusammensetzung führt also zu einseitiger Politik.
Warum die Repräsentationslücke wächst
Die sinkende Vielfalt im Bundestag hat strukturelle Ursachen. Ein zentraler Faktor ist der Wahlausgang: Während zwei Parteien mit vielfältigeren Listen- und Direktkandidaturen (SPD, Grüne) Mandate verlieren, gewinnen Union und AfD - zwei Parteien mit weniger vielfältigen Listen – hinzu. Zwar gewinnt mit der Linken auch eine Partei mit hohem Frauenanteil Mandate hinzu, aber auch bei der Linken sinkt der Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund (von 28,2 Prozent im Jahr 2021 auf 18,8 Prozent 2025).
Zudem verschärft die Wahlrechtsreform bestehende Probleme. Direktmandate werden zumindest zahlenmäßig wichtiger (2021: 40,8% aller Sitze waren Direktmandate, 2025: 43,8% aller Sitze sind Direktmandate) – und genau hier ist der Anteil Frauenanteil besonders niedrig (nur 22,1% in 2025, 26,1% in 2021). Auch bei anderen Diversitätsdimensionen ist der Anteil bei Direktmandaten deutlich geringer.
Auch auf Listenplätzen zeigt sich ein Muster: Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und jüngere Kandidierende werden oft auf hintere, weniger aussichtsreiche Plätzen gesetzt. Da nun weniger Listenmandate vergeben werden, schrumpfen ihre Chancen weiter.
Hinzu kommen tief verwurzelte Barrieren: Politik bleibt männlich dominiert – sei es durch intransparente Netzwerke, männerzentrierte Rituale oder unflexible Arbeitszeiten, die Frauen, besonders mit Care-Verantwortung, benachteiligen.
Wege aus der Repräsentationslücke
Um die Repräsentationslücke zu schließen, braucht es gezielte Maßnahmen auf mehreren Ebenen.
Direktförderung für diverse Kandidierende
Programme wie parteiinterne Mentoring-Programme für Frauen, junge Menschen und Menschen mit weiteren diversen Perspektiven oder die Kandidierenden-Förderung von Brand New Bundestag setzen dort an, wo Kandidierende auf konkrete Barrieren stoßen.
Quoten für Listenaufstellungen
Geschlechterquoten oder allgemeiner gefasste Quoten (wie z.B. Neulings-Quoten) bei Listenaufstellungen sind der bislang effektivste Hebel, die Repräsentationslücke zu schließen. Sie greifen aber nur, wenn auchDirektmandate diverser besetzt werden. Eine repräsentative Liste nutzt wenig, wenn eine Partei wie die CSU in Bayern oder die SPD in Niedersachsen fast alle Mandate über Direktwahlen gewinnt – hier müssen anderweitig verbindliche Regelungen eingesetzt werden.
Stärkere Netzwerke und strategische Koordination
Aufstellungsprozesse werden gewonnen, indem man Mehrheiten organisiert. Hierfür sind selbstorganisierte Netzwerke wie BuntGrün für People of Colour bei den Grünen, die Lesben- und Schwulen-Union für Queere in der Union, oder die Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt in der SPD für Menschen mit Migrationsgeschichte von enormer Bedeutung. Sie können gezielt Einfluss auf Aufstellungsprozesse nehmen und Kandidaturen stärken.
Ein Bundestag, der die Vielfalt der Gesellschaft nicht widerspiegelt, kann nicht alle Perspektiven und Bedürfnisse gleichermaßen vertreten. Die Schließung der Repräsentationslücke ist also dringend angezeigt, aber kein Selbstläufer – sie braucht gezielte Maßnahmen, strukturelle Veränderungen und den politischen Willen, echte Vielfalt zu ermöglichen. Nur so kann unsere Demokratie langfristig gerecht und zukunftsfähig bleiben.
[1]Wir folgen hierfür der Definition des statistischen Bundesamtes: „Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde.”
Zu den Autor_innen
Maja Bisanz ist Co-Managing Director von Brand New Bundestag und koordiniert die Kandidierendenunterstützung der Initiative. Die Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt politische Soziologie begleitet seit 2021 Kandidierende auf ihrem Weg in die Parlamente. In ihrer Arbeit legt sie einen besonderen Fokus auf die Förderung diverser Perspektiven und den Abbau struktureller Barrieren in der Politik.
Samuel Brielmaier ist Co-Managing Director von Brand New Bundestag mit einem Schwerpunkt auf politische Strategie und Datenanalyse. Der Politikwissenschaftler hat unter anderem in Konstanz, Grenoble und Oxford studiert und sich in seiner Masterarbeit mit der ungleichen Repräsentation von Bürger*innen je nach Geschlecht und Herkunft befasst. Sein Fokus liegt auf Policy Evaluation und Data Science zur Stärkung demokratischer Teilhabe.
Über Brand New Bundestag
Brand New Bundestag (BNB) ist eine unabhängige und überparteiliche Graswurzel-Organisation, die sich seit 2019 für zukunftsorientierte Politik einsetzt. Sie unterstützte bei der Bundestagswahl 56 Kandidierende in allen demokratischen Parteien – insbesondere Menschen aus unterrepräsentierten Gruppen. Dabei beginnt die Unterstützung bereits vor den parteiinternen Auswahlprozessen für die Direktkandidatur und die Landeslisten und umfasst unter anderem strategische und persönliche Beratung, Öffentlichkeitsarbeit, Rhetorik-Trainings und Workshops zu kampagnenrelevanten Themen wie Social Media, Volunteer-Management, Crowdfunding oder Krisenkommunikation.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.
Quellen:
[1] Griffin, J. D. (2014). When and why minority legislators matter. Annual Review of Political Science, 17(1), 327-336.
[2] Mansbridge, J. (1999). Should Blacks Represent Blacks and Women Represent Women? A Contingent "Yes". The Journal of Politics, 61(3), 628–657. https://doi.org/10.2307/2647821
[3] Campbell, R., Childs, S., & Lovenduski, J. (2010). Do Women Need Women Representatives? British Journal of Political Science, 40(1), 171–194. https://doi.org/10.1017/S0007123409990408
[4] Campbell, R. (2012). What Do We Really Know about Women Voters? Gender, Elections and Public Opinion. Political Quarterly, 83(4), 703–710. https://doi.org/10.1111/j.1467-923X.2012.02367.x
[5] Brunsbach, S. (2011). Machen Frauen den Unterschied? Parlamentarierinnen als Repräsentantinnen frauenspezifischer Interessen im Deutschen Bundestag. Zeitschrift für Parlamentsfragen. 42(1), 3–24. http://www.jstor.org/stable/24240338
[6] Magni, G., Leon, Z. P. de (2021). “Women Want an Answer! Field Experiments on Elected Officials and Gender Bias.” In: Journal of Experimental Political Science 8.3, pp. 273–284.
[7] Schubert, K. (2021) https://zdfheute-stories-scroll.zdf.de/politik-bundestag-abgeordnete-divers/index.html
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