Die FES wird 100! Mehr erfahren

Wie Städte die digitalen Rechte von Migrant_innen schützen können

Eine aktuelle Studie zeigt, wie der neue EU-Asyl- und Migrationspakt das Risiko von digitaler Überwachung und diskriminierenden Praktiken gegenüber Geflüchteten und Migrant_innen erhöhen könnte. In diesem Interview beleuchten Léa Lebon und Katharina Bamberg von Eurocities kritisch den Zusammenhang zwischen Asyl- und Digitalpolitik.

In Ihrer Studie diskutieren Sie die wesentlichen Bestimmungen des neuen EU-Migrationspakts. Könnten Sie einen Überblick über die wichtigsten Änderungen geben und erklären, warum Sie glauben, dass diese Regelungen ein Risiko für die digitalen Rechte von Zugewanderten darstellen?


Léa Lebon: Der neue Pakt umfasst mehrere Gesetzespakete zum Management von Migration und zu Asylverfahren, wie das Screening-Verfahren und die Reform der Eurodac-Datenbank. Das Screening wird eingeführt, um biometrische Daten von Drittstaatsangehörigen zu erfassen, die an der Grenze eines Mitgliedstaates ankommen, einschließlich irregulär einreisende Migrant_innen, die innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaates aufgegriffen werden. Vor dem Hintergrund einer restriktiveren Migrations- und Grenzschutzpolitik besteht eindeutig die Gefahr, dass durch den neuen Pakt eine unverhältnismäßige Überwachung verstärkt wird, diskriminierende Verfahren auf der Grundlage von Technologien eingeführt und Verstöße gegen den Datenschutz zunehmen können.
 

Sie erwähnen den zunehmenden Einsatz von biometrischen Daten und Gesichtserkennung zur Migrationskontrolle. Welche spezifischen Gefahren bergen diese Technologien in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre und Grundrechte von Migrant_innen?


Léa Lebon: Eine konkrete Gefahr bei der Verwendung biometrischer Daten und beim Einsatz von Gesichtserkennung betrifft das Recht auf Information und Kontrolle über personenbezogene Daten, da Migrant_innen nur selten ihre Rechte auf Zugang, Berichtigung und Löschung personenbezogener Daten wahrnehmen können. Die Verwendung von Gesichtsdaten zur Verbesserung von Gesichtserkennungsalgorithmen erfolgt oft ohne Wissen oder Zustimmung der betroffenen Personen, und die Weigerung eines Einreisenden, Fingerabdrücke abzugeben, wird häufig als Rechtfertigung für die Erfassung zusätzlicher biometrischer Daten verwendet.

Darüber hinaus besteht das Risiko, dass diese Informationen an Behörden in den Herkunftsländern weitergegeben werden, aus denen die Personen geflohen sind, was das Risiko der Verfolgung für den Einzelnen und dessen Familienangehörigen erhöht.

Ein weiteres großes Problem beim Einsatz biometrischer Daten und Gesichtserkennung ist die Zunahme diskriminierender Polizeipraktiken und des rassistischen Profilings gegenüber Gemeinschaften of Color in Europa. Das Screening-Verfahren beispielsweise wird für alle verdächtigten undokumentierten Migrant_innen an den Außengrenzen und innerhalb der EU gelten, was bedeutet, dass Menschen in einem Mitgliedstaat zur Identitätsüberprüfung festgenommen und bis zu drei Tage lang zur Datenerfassung festgehalten werden könnten. Dies könnte das Risiko von Racial Profiling und willkürlicher Inhaftierung, insbesondere für People of Color, weiter erhöhen.
 

Laut Ihrer Studie spielen Städte eine zunehmend wichtige Rolle beim Schutz der digitalen Rechte von Zugewanderten. Welche Rolle spielen lokale Integrationsmaßnahmen in diesem Zusammenhang?


Léa Lebon: Einige Städte versuchen, die Privatsphäre von Migrant_innen zu schützen, insbesondere bei Personen mit irregulärem Status, indem sie den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen ermöglichen, ohne eine Identifikation zu verlangen, wie es beispielsweise in Amsterdam der Fall ist. Lokale Stadtverwaltungen agieren als Förderer von Organisationen, die normalerweise von der Kommune bereitgestellte Dienstleistungen anbieten, um sicherzustellen, dass irregulär eingereiste Personen ihre Daten nicht preisgeben müssen oder dass die Stadtverwaltung politischem Druck ausgesetzt werden.

Gleichzeitig nutzen Kommunen digitale Werkzeuge wie Sprachmodelle, Datenbanken und Übersetzungsdienste, um lokale Integrationspolitiken umzusetzen.

Katharina Bamberg/Eurocities: Städte sind die erste Adresse, wenn es um die Bereitstellung von Wohnraum, Gesundheitsfürsorge, Bildung und Beschäftigung für die migrantische Bevölkerung geht. Diese Dienste werden zunehmend digitalisiert angeboten, weswegen Städte große Mengen persönlicher Daten von Migrant_innen verarbeiten. Dies macht ihre Politik und die Priorisierung des Datenschutzes zu einem entscheidenden Faktor für die Wahrung der digitalen Rechte von Migrant_innen.
 

Vor welchen Herausforderungen stehen Städte in dieser Rolle, insbesondere mit Blick auf den neuen EU-Rechtsrahmen?


Léa Lebon: Instrumente zur Migrationssteuerung wie Eurodac erschweren es den Städten, ihren rechtlichen und moralischen Verpflichtungen nachzukommen. Umfassende Datenaustauschsysteme erhöhen das Risiko, dass Migrant_innen ohne Papiere beim Zugang zu wichtigen Dienstleistungen aufgegriffen werden, was sie davon abhält, Hilfe zu suchen. Zudem schwächt die reformierte Eurodac-Verordnung den Schutz der Privatsphäre, was in Städten zu Unklarheiten hinsichtlich des Datenschutzes von Geflüchteten und Migrant_innen führt.

Katharina Bamberg/Eurocities: Städte stehen beim Schutz der digitalen Rechte von Migrant_innen im Rahmen des Neuen Pakts für Migration und Asyl vor mehreren Herausforderungen. Diese Herausforderungen ergeben sich aus rechtlichen, operativen und technologischen Strukturen. Zum einen werden Städte nicht in die Entscheidungsprozesse zur Umsetzung der Regelungen des Pakts eingebunden, obwohl sie als wichtige Integrationsakteure auf lokaler Ebene direkt betroffen sind.

Darüber hinaus müssen Städte die Anforderungen an die Speicherung, Verarbeitung und Weitergabe von Daten von Migrant_innen mit dem Schutz ihrer Privatsphäre in Einklang bringen, insbesondere um sicherzustellen, dass die Datenerfassung nicht zu Rechtsverletzungen oder diskriminierenden Praktiken führt, vor allem wenn die Datenbanken interoperabel werden. Den Städten fehlen oft die Ressourcen und das Fachwissen, um zu verstehen, wie diese Daten von anderen Behörden weitergegeben oder verwendet werden, was das Risiko des Datenmissbrauchs erhöht.

Wir von Eurocities unterstützen Städte bei der Bewältigung dieser Herausforderungen. Im Rahmen des EU finanzierten CONSOLIDATE-Projekts bieten wir Schulungen und Unterstützung bei der Einhaltung der Datenschutzgrundverordnung an, damit sie den Zugang zu Dienstleistungen gewährleisten können, ohne den Datenschutz zu gefährden.
 

Welche konkreten Schritte können Städte unternehmen, um ihre Beteiligung an der Gestaltung digitaler Migrationspolitiken zu stärken?


Katharina Bamberg/Eurocities: Städte sollten sich in Partnerschaften und Netzwerken wie Eurocities zusammenschließen, wie etwa in unserer Arbeitsgruppe Migration & Integration und der Taskforce "Digitale Kluft", um sich effektiver für ihre Beteiligung in migrationspolitische Diskussionen einzusetzen. Durch die Vorstellung lokaler Lösungen für die Integration von Migrant_innen können sie ihr Fachwissen unter Beweis stellen und sicherstellen, dass ihre Perspektiven auf nationaler und EU-Ebene berücksichtigt werden.
 

Sie sprechen von "Techno-Solutionismus" im Zusammenhang mit Migrationsmanagement. Was genau meinen Sie damit, und welche spezifischen Auswirkungen hat dieser Ansatz auf Migrant_innen?


Léa Lebon: Der Begriff bezieht sich auf den Einsatz von Hightech-Lösungen zur Steuerung der Migration durch Regierungen, die sich auf KI, Blockchain, Biometrie und Datensysteme stützen. Dies wirft ethische Fragen auf und hat Auswirkungen darauf, wie Gesellschaften mit Menschen auf der Flucht umgehen und sich um sie kümmern - wohl wissend, dass viele von ihnen unter psychischen und physischen Problemen leiden.

So verlassen sich Behörden beispielsweise auf KI-basierte Lösungen, um zu entscheiden, ob jemand in Bezug auf seine Herkunft lügt (z.B. iBorderctrl). Einige spezifische Verwundbarkeiten können jedoch nur von Menschen erkannt werden. Darüber hinaus haben Untersuchungen gezeigt, dass Migrant_innen aus korrupten Ländern diesen Systemen oft misstrauen, was das Vertrauen in die öffentlichen Verwaltungen schwächt.
 

Sie sprechen aber auch Chancen an, welche digitale Werkzeuge bieten können. Wie können Städte digitale Technologien nutzen, um die Inklusion von Migrant_innen und Geflüchteten zu verbessern, ohne deren Rechte zu gefährden?


Léa Lebon: Digitale Werkzeuge verbinden Menschen, die sich auf den Weg machen, mit wichtigen Dienstleistungen und zuverlässigen Informationen. Die Technologien bieten auch die Möglichkeit, die Verwaltung von Migrationssystemen zu erleichtern und gleichzeitig die Integration von Migrant_innen zu verbessern. So hat die Berliner Governance-Plattform das Programm Re:Match entwickelt, das einen Matching-Algorithmus nutzt, um ukrainische Geflüchtete in verschiedenen Gemeinden in Deutschland zu vermitteln und zu verteilen.

Der Matching-Algorithmus berücksichtigt biografische Daten und Präferenzen sowohl der Menschen als auch von aufnahmebereiten Städten, einschließlich Informationen über verfügbare Dienstleistungen, Arbeitsmärkte, Diaspora-Organisationen und Aufnahmezentren für Geflüchtete vor Ort. Zum Schutz ihrer Rechte sollten Geflüchtete die Kontrolle über ihre Daten haben, Risikobewertungen durchgeführt werden, und Städte sollten sich mit marginalisierten Gruppen über ihre Erfahrungen mit Überwachung austauschen.
 

Algorithmen und künstliche Intelligenz werden zunehmend in Migrationsprozessen eingesetzt. Welche Schutzmaßnahmen sollten implementiert werden, um sicherzustellen, dass diese Technologien fair und ohne Diskriminierung angewendet werden?


Léa Lebon: Die Daten und Methoden, auf denen KI-Systeme basieren, sind nicht neutral. Daher müssen Schutzmaßnahmen ergriffen werden, um sicherzustellen, dass diese Technologien nicht zu Diskriminierung führen. KI sollte nicht als alleiniges Entscheidungsinstrument eingesetzt werden, sondern als unterstützendes Werkzeug für ausgebildete Fachkräfte. Folgenabschätzungen zur Gleichstellung und der Dialog mit Communities vor Ort können dazu beitragen, Diskriminierungsrisiken zu verringern. Städte sind aufgrund ihrer Nähe zu den Einwohnern und lokalen Organisationen gut positioniert, um mit marginalisierten Gemeinschaften über ihre Erfahrungen mit Überwachung und Kontrolle zu sprechen.
 

Sie haben mehrere politische Empfehlungen gegeben, um die digitalen Rechte von Migrant_innen zu schützen. Welche dieser Empfehlungen sollten Städte Ihrer Meinung nach vorrangig umsetzen und warum?


Léa Lebon: Meiner Meinung nach und laut zahlreicher Organisationen, die sich auf die digitalen Rechte von Migrant_innen spezialisiert haben, ist die dringendste Maßnahme die Einrichtung einer Firewall zwischen den öffentlichen Dienstleistungen und den Einwanderungsbehörden. Solche Schutzmaßnahmen sind für Städte von entscheidender Bedeutung, da sie ihnen ermöglichen, sich auf ihre Kernaufgaben zu konzentrieren, ohne durch zusätzliche administrative Lasten belastet zu werden. Firewalls sind unerlässlich, um Vertrauen zwischen den Stadtverwaltungen und Zugewanderten aufzubauen und es den Städten zu ermöglichen, Informationssysteme zu nutzen, ohne die Sicherheit von Migrantinnen und Migranten zu gefährden.

Städte müssen jedoch auch die Kohärenz des interoperativen Rahmens über die verschiedenen Verwaltungsebenen hinweg verstehen, um die Einhaltung der Vorschriften zu gewährleisten. Mitarbeitende in den Bereichen Migration und soziale Angelegenheiten müssen mit den erforderlichen Fähigkeiten und dem Wissen ausgestattet werden, um zu verstehen, wie diese Systeme funktionieren.

Katharina Bamberg/Eurocities: Während alle Empfehlungen unglaublich dringend sind, möchte ich hervorheben, dass Städte finanzielle und technische Unterstützung von den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission benötigen, um ihre digitale Infrastruktur aufzubauen und die digitalen Rechte von Migrant_innen zu schützen. Darüber hinaus müssen Städte in regierungsübergreifende politische Diskussionen einbezogen werden, um Herausforderungen und Engpässe anzugehen, auf die sie im Zusammenhang mit den Vorschriften des Neuen Pakts und deren Auswirkungen auf die digitalen Rechte von Zugewanderten stoßen.
 

Wie sehen Sie die Rolle der Städte im Kontext der zunehmenden Digitalisierung in der Migrationspolitik? Was müssen Städte tun, um sich auf die kommenden Herausforderungen vorzubereiten?


Léa Lebon: Städte haben die Möglichkeit, ihr Engagement für den Schutz der Menschenrechte von Migrant_innen durch lokale Datenschutzrichtlinien unter Beweis zu stellen. Im Rahmen ihrer Kapazitäten können Städte Schutzmaßnahmen ergreifen, die als Schutzschild dienen und die Risiken eines feindseligen Datenaustauschumfelds verringern.

Die neue Regelung unterstreicht auch die Bedeutung freiwilliger Initiativen, die von Städten geleitet werden und oft Kampagnen umfassen, die sich an irregulär eingereiste Migrant_innen und Geflüchtete richten, um sie über ihre Rechte und Ansprüche aufzuklären.

Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen in Städten entscheidend für die Entwicklung digitaler Technologien, die vom Menschen ausgehende Ansätze unterstützen, anstatt sie zu ersetzen. Der Dialog mit kommunalen Entscheidungsträger_innen und Strafverfolgungsbehörden bietet Städten die Möglichkeit, ein Gleichgewicht zwischen der Gewährleistung der Sicherheit der Menschen und ihrer Güter sowie dem Schutz der Grundrechte aller zu finden.

Katharina Bamberg/Eurocities: Städte müssen sicherstellen, dass digitale Systeme für Dienstleistungen sicher, zugänglich und respektvoll gegenüber der Privatsphäre sind, während sie Herausforderungen wie die digitale Ausgrenzung von vulnerablen Migrant_innen angehen. Investitionen in digitale Infrastruktur und Kompetenzen sowie eine stärkere Rolle in der politischen Entscheidungsfindung werden den Städten helfen, diese Herausforderungen zu meistern und die Rechte von Zugewanderten zu schützen.

 

Das Interview führte Joana Marta Sommer.


Zur Person

Léa Lebon ist Politikwissenschaftler_in mit einem Master-Abschluss in internationalen und lokalen Beziehungen und internationaler Zusammenarbeit. Während des Studiums verfasste Léa Lebon zwei Masterarbeiten über (I) die Multi-Level-Governance in der Europäischen Union und die Regionalisierung der EU-Politik und (II) die Europäische Union und die Herausforderungen der digitalen Integration auf lokaler Ebene.

Im Verlauf der beruflichen Laufbahn hat Léa in lokalen und internationalen NGOs gearbeitet, welche sich mit digitaler Integration und europäischen Angelegenheiten beschäftigen. Im letzten Jahr arbeitete Léa für das Eurocities Digital Forum, wo Léa sich für Menschenrechte und soziale Inklusion im digitalen Zeitalter einsetzte, unter anderem durch die transnationale Initiative "Cities Coalition for Digital Rights". Léa berät nun die Bordeaux Métropole, um die Cities Coalition for Digital Rights (unter der Leitung von Bordeaux Métropole und elf weiteren Städten) bei ihrem Engagement für digitale Menschenrechte auf lokaler, europäischer und globaler Ebene zu unterstützen.

Katharina Bamberg ist Leiterin des Bereichs Migration bei Eurocities, dem größten Netzwerk europäischer Städte. Eurocities zählt über 200 große Städte zu seinen Mitgliedern und vertritt mehr als 150 Millionen Menschen in 38 Ländern, innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Die Mission des Netzwerks ist es, Orte zu schaffen, an denen Menschen ein gutes Leben in einer gesunden, grünen Umgebung führen können, wo kohlenstoffarme und intelligente Lösungen für sauberere Luft und bessere öffentliche Dienstleistungen sorgen. Orte, an denen sich Menschen nachhaltig fortbewegen, sich mit ihrer Gemeinschaft verbunden fühlen und alle Neuankömmlinge willkommen geheißen werden.

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.


„Good Society“, die „Gute Gesellschaft“ - Was macht eine solche Gesellschaft aus?

zur Startseite des Projekts

„Willkommenskultur und Willkommensstruktur“

weitere Informationen
nach oben