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Wolfgang Thierse: "Nach 30 Jahren wissen wir, dass die deutsche Vereinigung noch nicht zu Ende ist"

Wolfgang Thierse über die erste gesamtdeutsche Bundestagssitzung am 4. Oktober 1990:

Am 4. Oktober vor 30 Jahren, also einen Tag nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands, fand die erste gemeinsame Bundestagsdebatte statt. Es war gewissermaßen der parlamentarische Vollzug der Einheit, der Beginn ihres demokratischen Alltags. In den bis dahin westdeutschen Bundestag waren 77 von der frei gewählten Volkskammer entsandte Abgeordnete eingetreten, sie erlebten nun die erste gemeinsame parlamentarische Diskussion und zwar – sehr angemessen – im Berliner Reichstag.

Rede über die wunderbare Wendung der deutschen und europäischen Geschichte

Ich war nicht nur dabei, sondern durfte sogleich meine erste Bundestagsrede halten. Ich werde das nicht vergessen, denn es war für mich wirklich ein großes Erlebnis: Akteur werden zu können in einer erfolgreichen parlamentarischen Demokratie – das war die Erfüllung einer politischen Sehnsucht von Jugend an. Eines Traumes, an dessen Einlösung ich bis zur friedlichen Revolution 1989 niemals habe glauben können. Genau deshalb habe ich in meiner Rede von der staunenden Freude über die wunderbare Wendung der deutschen und europäischen Geschichte gesprochen.

In dieser Rede findet sich auch der besorgte, warnende Satz: "Machen wir die deutsche Einigung nicht zum Sieg der einen über die anderen!" Denn gewiss war die Vereinigung nicht das Zusammenkommen von Gleichen: Der eine Teil war stark und erfolgreich, der andere Teil war ein gescheitertes, zusammengebrochenes System. Das eine wurde die Norm, die der andere zu übernehmen hatte. Da sind die Gewichte klar verteilt. Die einen werden zu Lehrlingen, die anderen zu Lehrmeistern. Bei den einen muss sich alles ändern, die anderen können sich einbilden, bei ihnen müsse sich nichts ändern. Ich sage das ohne Vorwurf. Geschichte ist selten gerecht. Aber daraus resultierte eine Besorgnis, die sich in meiner Rede in einem Appell ausdrückte: "Mein Bekenntnis zu Deutschland ist kein Bekenntnis zu einer Vergangenheit, die uns jetzt wieder einholt, kein Bekenntnis zum Gegebenen der Bundesrepublik Deutschland, sondern es ist ein Ja zu einer Aufgabe, zu einer auf für uns neue Weise gestaltbaren Zukunft, ein Ja zu einem Deutschland, wie es werden soll." (Damals bekam man für solche Sätze noch den Beifall des ganzen Hauses.)

Die Arbeit am gemeinsamen Deutschland, an dessen Reform, sollte die Chance sein, dass die Ostdeutschen mit ihrer ganz anderen Geschichte und Erfahrung als Gleichberechtigte agieren und wirken könnten. Das war mein Wunsch damals. Es hat lange gedauert, bis auch die Westdeutschen, bis auch die Abgeordneten der Kohl-Koalition die Reformbedürftigkeit des Landes zu begreifen lernten und bis endlich die notwendigen und schmerzlichen Reformen mehrheitsfähig wurden.

Die deutsche Vereinigung ist noch nicht zu Ende

Nach 30 Jahren wissen wir, dass die deutsche Vereinigung noch nicht zu Ende ist. Ökonomisch-soziale Unterschiede sind noch sichtbar, trotz aller erheblichen Kraftanstrengungen. Vor allem aber haben wir zu begreifen, dass die deutsche Vereinigung auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, also ein Prozess des menschlichen Austauschs, der Mentalitätsveränderungen, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen ist. Und wahrscheinlich wird dieser Teil des Prozesses von besonderer Unabschließbarkeit sein! Eine Aufgabe, die gewiss weit über Politik hinausgeht. Für den Bundestag aber bleibt es bei der Verpflichtung, alles Notwendige zu tun zur "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" (Art. 72 GG).

In den vergangenen Jahren bin ich immer mal wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene "innere Einheit" der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nur nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Wenn also die Unterschiede zwischen Ost und West so sind, wie der Unterschied z. B. zwischen Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg. Ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren ja immer und sind noch heute deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen. Könnte oder sollte das nicht allmählich erreicht sein – 30 Jahre nach friedlicher Revolution und staatlicher Vereinigung! Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame deutsche und inzwischen wohl auch europäische Geschichte.

Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a.D. und Mitglied des Vereins der Friedrich-Ebert-Stiftung 

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