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Chinas Aufstieg im Nahen Osten: ein Paradigmenwechsel in der internationalen Politik

China spielt auch im Nahen und Mittleren Osten eine zunehmend bedeutende Rolle. Von einer anti-kolonialen Phase bis zur aktuellen Rolle als "honest broker" zwischen Iran und Saudi-Arabien - blicken wir im Interview mit Dr. Daniel Krahl auf die Geschichte von vielschichtigen Beziehungen.

 

Die Fragen stellte Hanna Voß.

 

Herr Krahl, wie würden Sie die verschiedenen Phasen des chinesischen Interesses am Nahen Osten kennzeichnen?

 

Bis in die 1970er Jahre war das Verhältnis von China und den Staaten des Nahen Ostens vom gemeinsamen anti-kolonialen Kampf geprägt und dem Versuch Chinas, allen voran Mao Zedongs, das Führungsland des globalen Südens zu werden. Das hat sich mit der Annäherung an die USA in den 1970ern gewandelt. Die Sowjetunion wurde der Hauptfeind, gleichzeitig ist der eigene Reformprozess in den Vordergrund getreten: Waffenexporte und Energieimporte stiegen in dem rasanten Maße, in dem sich auch die chinesische Wirtschaft entwickelte.

 

Wie ging es mit dem Ende des Kalten Krieges weiter?

 

Ab den 90er Jahren hat man dann einen betont neutralen Kurs verfolgt, und das wird auch wichtig für heute: Man bewahrt zwar einerseits einen anti-kolonialen Entwicklungsland-Status, betont auf der anderen Seite aber, politisch neutral zu sein. Insbesondere im Nahen Osten ist man darum bemüht, diesen Spagat zu schaffen: einerseits einen enormen wirtschaftlichen Fußabdruck zu hinterlassen und sich andererseits aus regionalen Konflikten herauszuhalten. Das war in den vergangenen Jahren immer schwierig und scheint derzeit zum ersten Mal zu funktionieren.

 

Noch im Krieg um Syrien hat es nicht funktioniert, China wurde als Verbündeter Assads wahrgenommen.

 

Was China nicht wollte. Sie hatten versucht, sich politisch neutral, aber gegen internationale Interventionen zu positionieren. In der Region kam das aber, weil man eben keinen Druck auf das Assad-Regime ausgeübt hat, so an, als stünde man an dessen Seite. Die Chinesen waren dann wenig erfreut, als Assad schließlich seinen „guten Verbündeten“ Iran, Russland und China gedankt hat. Daran sieht man, dass dieser Neutralitätsanspruch in der Region traditionell eigentlich nie funktioniert hat, sondern auch eine neutrale Vermittlerrolle immer mit einer gewissen Sicherheitspräsenz verbunden sein musste. Doch jetzt haben die Chinesen es womöglich geschafft, die Idee des honest broker, die die USA ursprünglich in die Region gebracht haben, tatsächlich auszufüllen.

 

Sie meinen damit, dass China die Entspannungsinitiative zwischen den beiden regionalen Hauptakteuren, Iran und Saudi-Arabien, verhandelt hat?

 

Ja. Den USA wurde die Rolle des honest broker nie vollends abgenommen, weil sie letztlich doch stets an der Seite ihrer Verbündeten, allen voran Israels und Saudi-Arabiens, vermutet wurden. China dagegen scheint es derzeit zu gelingen, diese Rolle tatsächlich zu etablieren und auch beiden Parteien in Teheran und Riad klarmachen zu können, dass es von Vorteil ist, eine Großmacht zu haben, die sich nicht auf eine Seite stellt, sondern zu allen Akteuren gute Verbindungen unterhält. China positioniert sich dabei als Gegenentwurf zu den USA, die Fronten zu Iran, Russland und China aufbauen, während China bereit ist, mit allen zu sprechen.

 

Welche Länder in der Region sind für China von besonderer Bedeutung?

 

Es gibt natürlich die strategisch besonders wichtigen Partner, das sind Iran, Saudi-Arabien und Ägypten und die Türkei, außerdem Katar und die VAE. Ägypten als Tor nach Europa und nach Afrika und in die arabische Welt, die Vereinigten Arabischen Emirate als Umschlagplatz für chinesische Waren, Katar aufgrund seiner energiepolitischen Bedeutung, Saudi-Arabien und Iran noch stärker in ihrer regionalpolitischen Präsenz. Die Türkei war als Regionalmacht, NATO-Mitglied und selbsterklärte Schutzmacht der Turkvölker wichtig.

Eine besonders interessante Beziehung stellte immer jene zu Iran dar, zu dem man bereits in den 19070ern enge Verbindungen hatte. Zwar war Iran einerseits eine Monarchie, ein Partner des Westens, der sich andererseits aber auch immer wieder anti-imperialistisch gebärdete und als Verbündeter wahrgenommen wurde. Das wurde über die Islamische Revolution hinweg beibehalten. Die politische Ordnung Irans wird in China weniger als religiös-fundamentalistisch, sondern mehr als anti-westlich, anti-imperialistisch wahrgenommen. Darum ist man auch überhaupt nicht bereit, die Isolation Irans mitzutragen. Und dadurch hat man sich genau die Ausgangslage geschaffen, die man jetzt bei den Verhandlungen zwischen Saudi-Arabien und Iran nutzen konnte.

 

Hat China diesen Plan lange strategisch verfolgt oder ist es in die Lücke reingestoßen, die die USA hinterlassen haben?

 

Ich wäre mit Begriffen wie Plan und Strategie, die wir im Westen immer gerne mit China verbinden, vorsichtig. China tastet sich vor. Man hat das große Ziel, bis zur Mitte des Jahrhunderts wieder ein „Reich der Mitte“, also die Weltmacht im Zentrum internationaler Beziehungen, zu werden. Wie man das erreichen kann, weiß man noch nicht und probiert deshalb verschiedene Methoden aus. Als Teil dessen versucht China unter anderem, Europa und die USA unter Druck zu setzen, indem man den Weg über die Entwicklungs- und Schwellenländer sucht.

Wichtig ist dabei: China möchte eine neue Rolle formulieren und nicht die nächsten USA werden. Man hat sich genau angeschaut, warum die Sowjetunion zerfallen und der Abstieg der USA in den vergangenen Jahren erfolgt ist. Einen Grund dafür sieht man in dem Hereingezogen werden in regionale Konflikte, wirtschaftlich wie politisch. Also versucht man, das zu vermeiden. Dabei geht es vornehmlich darum, die wirtschaftliche Einbindung in die Welt und auch die große wirtschaftliche Abhängigkeit, die in vielen Regionen inzwischen gegenüber China besteht, in eine politische Rolle zu überführen.

 

Wie gelingt es China, insbesondere die Entwicklungsländer zu überzeugen?

 

China profitiert zweifellos von dem Unmut der Entwicklungsländer über die Arroganz des Westens. Man hat es bei der Fußball-WM der Männer in Katar gesehen, als die chinesische Werbeindustrie den Druck der europäischen Verbände übertrumpfen konnte und die One-Love-Kapitänsbinde keinen Auftritt in den Stadien fand. China wird als Partner empfunden, der helfen kann, den als solchen wahrgenommenen Kulturimperialismus des Westens zurückzudrängen und auch als Kraft, die international dafür sorgt, dass alle Stimmen, auch die kleinen, gehört werden.

 

Man fürchtet den Export eines chinesischen Weltbilds nicht?

 

Das globale kommunistische Weltbild ist auch für Peking gescheitert. China hat das durch sogenannte „chinesische Charakteristika“ ersetzt und keinen Anspruch, sein Weltbild in andere Teile der Erde zu exportieren. Das wird bei uns oft als Schwäche wahrgenommen, ist aber auch eine Stärke. Die Chinesen können sagen, wir wissen, was in China richtig und wichtig ist, aber wir wissen nicht, was für Männer und Frauen in anderen Teilen der Welt richtig und wichtig ist. Stattdessen entscheiden die Länder selbst, wie sie sich kulturell ausrichten möchten. Und das ist ein Trumpf für die chinesische Außenpolitik. Insbesondere in den Ländern des Nahen Ostens wird es als geradezu erfrischend empfunden, dass ein Land keine Meinung zu diesen Themen mitliefert und nicht verurteilend ihnen gegenüber auftritt.

 

Spielt es denn die Situation der Uighuren und anderer Muslime in China bei den Beziehungen zu den arabischen Staaten keinerlei Rolle?

 

Verwunderlicherweise nicht. Grundsätzlich findet eine als solche wahrgenommene Diskriminierung des Islam, passiert diese in Europa oder den USA, in der arabischen Welt viel lauteren Widerhall als etwa die Situation der Uiguren in China. Das liegt unter anderem auch daran, dass Chinas Gesellschaft und Kultur im Nahen Osten generell wenig Beachtung geschenkt wird, während das kulturelle Interesse an Europa und den USA groß ist. Das wiederum ist einerseits ein Nachteil für China, schafft andererseits aber auch Freiräume und tote Winkel. Und dann hat man natürlich im Nahen Osten auch selbst genug Probleme, als dass der Schutz der Musliminnen und Muslime in China ganz oben auf der Prioritätenliste stünde.

 

Hat sich China in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit denn immer als ausschließlich vertrauenswürdiger und verlässlicher Partner erwiesen?

 

Ich glaube, da herrscht in der Region eine differenzierte Wahrnehmung. Es gab immer auch viel Ärger über China, wirtschaftlich etwa bei der Einwanderung chinesischer Händler in arabische Märkte. Traditionell gelten in der sehr statusbewussten arabischen Gesellschaft chinesische Produkte als Billigware, vor allem im Vergleich zu den westlichen Luxusmarken. Gleichzeitig war natürlich allen arabischen Ökonomen klar, welche herausragende Rolle China spielt und noch spielen wird. Der makroökonomische Trend zeigte das eindeutig. Auch die Handelsreisen arabischer Politiker nach China machen allen bewusst, welche gewaltige Nachfrage nach Ressourcen aus China besteht und dass der Großteil der Produkte, die sich die arabischen Bevölkerungen leisten können werden, aus China stammen müssen. Da hat man also seit jeher ein geteiltes Bild.

 

Dies spiegelte sich auch in der Frage nach der Verlässlichkeit Chinas als politischer Partner wider. Beim Thema Israel zum Beispiel passiert es immer wieder, dass China nicht bereit ist, kritische Passagen in Abschlusserklärungen hineinzuschreiben oder sich generell negativ zu Israel zu äußern, das für China ein wichtiger Partner etwa im Technologiehandel ist.

 

Hinzu kommt noch, dass ein kultureller Austausch so gut wie überhaupt nicht besteht und auch kein großes Interesse daran. Traditionell stehen die Menschen im Nahen Osten dem Westen kulturell sehr nah. Ironischerweise könnte man aber auch sagen, dass durch die kulturelle Distanz zu China auch der Ärger der Menschen im Mittleren Osten seltener die Chinesen trifft.

 

Was bedeutet Chinas wachsende diplomatische Bedeutung für den politischen Westen?

 

Prinzipiell ist es erstmal ein interessanter teilweise neuer Ansatz. Wenn wir die Prämisse zugrunde legen, dass nicht alle Handlungen des Westens in den vergangenen sieben Jahrzehnten zu einer Verminderung der Konflikte im Nahen Osten beigetragen haben, könnte man durchaus sagen, es ist mal einen Versuch wert. Alles, was dazu führt, dass Regionalkonflikte abnehmen, ist erstmal gut und auch nicht prinzipiell gegen die Interessen des Westens. Weniger Konflikte können etwa zu weniger Druck in der Flüchtlingssituation führen. Da kann man also erstmal abwarten, ob es funktioniert. Der Nahe Osten insgesamt verändert sich. Die regionalen Mächte handeln die regionale Ordnung stärker unter sich aus.

 

Aber hat Chinas Engagement für den Westen nicht auch Nachteile?  

 

Natürlich ist es so, dass sich dadurch die Spielräume und Einflussmöglichkeiten für den Westen verringern. Doch wir haben jahrelang von den Chinesen gefordert, dass sie ihre globale Rolle stärker wahrnehmen, und das tun sie jetzt. In den Augen Chinas werden sie kritisiert, wenn sie nichts tun und nun auch, wenn sie handeln. Stattdessen könnte man es erstmal wohlwollend abwartend beobachten.

 

Was für eine Weltordnung haben dann wir zu erwarten?

 

Generell müssen wir davon ausgehen, dass die westliche Hegemonie und die unipolare Position der USA einfach nicht mehr haltbar sind. Und, dass die neu aufstrebenden Staaten die Dinge anders machen als wir. Und da sehen wir angesichts der Entwicklungen im Nahen Osten bereits einen Teil der neuen Realität. Das sind die ersten Einblicke in neue Weltordnung, von der wir noch nicht genau wissen, wie sie aussehen wird, aber in jedem Fall anders als die, die wir kennen.

 

Daniel Krahl arbeitete zwei Jahre als Dozent unter anderem zur Politik des Mittleren Ostens an der Schule des chinesischen Außenministeriums. Als FES-Stipendiat schrieb er später seine Doktorarbeit zu Chinas Rolle im Mittleren Osten und war zwei Jahre Gastwissenschaftler an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Er ist heute als Berater in der internationalen Zusammenarbeit tätig.

 

Die in diesem Interview geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich die des Interviewpartners und spiegeln nicht notwendigerweise die Positionen oder Meinungen der Organisationen wider, für die der Interviewpartner tätig ist.

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