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Exil

Dieser Beitrag von Dr. Swen Steinberg erschien 2012 und war Teil des Projekts "Erinnerungsorte der Sozialdemokratie".

„Dieses Land trieb Hundertausende ins Exil“, schrieb Herta Müller im Januar 2013 in einem SPIEGEL-Artikel – „Wir sollten uns daran erinnern“. Die Literaturnobelpreisträgerin störte dabei vor allem eine regelrechte Lücke im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, die bei Flucht und Vertreibung lediglich an Ostpreußen, Nordböhmen oder Schlesien denken. Und eben nicht an jene, die das Deutsche Reich bereits im Frühjahr 1933 und in den folgenden Jahren aufgrund politischer, ideologischer, religiöser, sexueller oder rassistischer Vorurteile beziehungsweise konkreter Verfolgung verließen; ab 1934/38 waren davon auch Personen in Österreich und ab 1935 im Saarland betroffen. Zu dieser Gruppe, deren Zahl bis 1939 auf etwa 320.000 Menschen geschätzt wird, gehörten auch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Der Anteil der aus rassistischen Gründen Geflohenen überwog dabei zwar deutlich, mehr als 85% waren Jüdinnen und Juden. Allerdings stoßen solche Einteilungen bisweilen schnell an Grenzen, wie das Beispiel der im März 1933 in die Tschechoslowakei (ČSR) geflohenen Toni Sender (Siddonie Zippora, auch: Tony) zeigt: Die Reichstagsabgeordnete des Wahlkreises Dresden-Bautzen war als Sozialdemokratin und Jüdin gleichermaßen diffamiert und bedroht worden.

Flucht, Heimatverlust und die Suche nach einer neuen Identität waren also ab 1933 Massenphänomene. Wie kam es dann zu dem beschriebenen Vergessen? Nimmt man die Gruppe der geflohenen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in den Blick, dann lassen sich hierfür verschiedene Gründe finden. So hatte diese Flucht beispielsweise keinen zentralen Ort – weder im Deutschen Reich und schon gar nicht im Ausland. Zwar war etwa der Parteivorstand der SPD (SOPADE) nach einem kurzen Intermezzo in Saarbrücken von 1933 bis 1938 und damit für immerhin fünf Jahre in Prag, in der ČSR erschien auch der „Neue Vorwärts“. Danach folgten aber weitere Stationen: Bis 1940 hielt sich der SOPADE-Vorstand in Paris auf und gab hier ebenfalls sein Parteiorgan heraus. Prag und Paris können bis 1938/40 generell als Zentren des deutschen Exils gelten, die nach der ‚Panik-Flucht‘ in die unmittelbaren Grenzräume große Anziehungskraft entwickelt hatten. Nach dem deutschen Überfall auf Frankreich gelangten einige Vorstandsmitglieder der SOPADE dann auf regelrecht abenteuerliche Weise nach Lissabon – und überlebten schließlich in London und New York.

Dies allerdings war kein exotischer Sonderfall. Denn diese Flucht aus dem Deutschen Reich, von der vor allem auch Landtagsabgeordnete, Stadtverordnete, Redakteure oder Funktionäre der regionalen und lokalen Ebene etwa aus der Parteiorganisation, dem Arbeitersport oder den Gewerkschaften betroffen waren, war bereits früh beziehungsweise generell ein globaler Prozess: Als der Leiter der Sozialdemokratischen Flüchtlingshilfe in Prag, Wilhelm „Willy“ Sander, im Herbst 1937 das „5. Jubiläum“ der Emigration vorbereitete, bat er insbesondere aus der ČSR ‚weitermigrierte‘ Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten um „Erfahrungsberichte“. Die in der Broschüre „Emigranten-Briefe aus fünf Erdteilen“ von ihm zusammengefassten und anonymisierten 59 Schreiben stammten aus 23 Ländern, beispielsweise aus der Schweiz, Südafrika, Paraguay, Britisch-Indien oder Australien. Auch die sozialdemokratische Fluchtbewegung verteilte sich folglich schon vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs über den gesamten Globus. Diese Landkarte von Flucht und Flüchtlingshilfe jenseits der nordwestlichen Hemisphäre wird seit einigen Jahren von der Forschung „neu kartiert“ (Atina Grossmann, Margit Franz, Heimo Halbrainer) – und gehört gleichermaßen zum eingangs zitierten beziehungsweise eingeforderten Prozess des Erinnerns.

Der ausgebliebene Einfluss auf die deutsche Erinnerungskultur verweist bereits auf Aspekte des Vergessens des politischen Exils in den westlichen Besatzungszonen und der späteren Bundesrepublik. Demgegenüber war im Geschichtsbild der SBZ/DDR für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ohnehin kein Platz gewesen, hier wurden nicht kommunistische Traditionsbestände bewusst aus dem Erinnern gedrängt beziehungsweise von vornherein ausgespart. Mehr noch: Auch das Exil jenseits der Sowjetunion wurde zunehmend ‚entwertet‘, kommunistische Remigrantinnen und Remigranten etwa aus Skandinavien oder Mittelamerika machten in der jungen Republik östlich der Elbe spätestens in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zumeist keine Karriere mehr.

Warum aber spielte das politische Exil ab 1933 in der Bundesrepublik kaum eine Rolle? Wieso ließ sich der Fakt, am Ende doch auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden zu haben, für die SPD wenn schon nicht in politisches, so doch in erinnerungskulturelles Kapital umwandeln? Kristina Meyer hat in ihrer unlängst erschienenen, überaus aufschlussreichen Studie über die „SPD und die NS-Vergangenheit“ eine knappe Antwort auf diese Fragen gefunden: Weil die Partei und ihre Leitungsgremien es selbst nicht wollten. Bereits 1945/46 stellt Meyer einen „Gestus demonstrativer Bescheidenheit“ bei der Erinnerung an Widerstand, Ermordung und eben Exil auch in den eigenen sozialdemokratischen Reihen fest – bis hin zu jenen, die bis Kriegsende nicht aufgehört hatten, sich in der Emigration weiterhin als Exilierte zu verstehen und mit dem ‚Gesicht nach Deutschland‘ beziehungsweise aktiv und teils bereits programmatisch auf eine Rückkehr hin zu arbeiten. Die Initiative etwa des Londoner Exil-Parteivorstands für ein „Weißbuch“ der Gegner des Nationalsozialismus wurde aber beispielsweise genau wegen dieser strategischen Ausrichtung schnell zu den Akten gelegt. Das nun einsetzende ‚Beschweigen‘ der sozialdemokratischen Rolle zwischen 1933 und 1945 sowie der damit verbundenen individuellen Schicksale trug mit dazu bei, dass das Exil der SPD in Vergessenheit geriet, oder es wurde lediglich zu einem Thema der Betroffenen selbst, die sich in Organisationen wie der „Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten“ mehr intern und ohne große Breitenwirkung zusammenfanden. Freilich, dem lag zweifelsfrei auch politisches Kalkül zugrunde, mussten sich doch exponierte Persönlichkeiten wie Willy Brandt ihr Exil immer wieder und etwa von Konrad Adenauer oder Franz Josef Strauß zum Vorwurf machen lassen. Die Flucht aus dem Deutschen Reich war folglich – politisch wie erinnerungskulturell – lange Zeit ein ‚Makel‘, an den sich die schon im 19. Jahrhundert als „vaterlandslose Gesellen“ stigmatisierten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten anpassten.

Dies wandelte sich erst zwischen den 1960er und 1980er Jahren, als die deutsche Gesellschaft Fragen von Schuld und Täterschaft neu und anders verhandelte, und als die Partei etwa 1982 mit der Gründung der „Historischen Kommission“ wieder die Initiative zu Deutung und Themensetzung ergriff. Gleichzeitig hatte sich das Thema „Exil“ jedoch auch wissenschaftlich etabliert, was sich beispielsweise an der 1984 erfolgten Gründung der „Gesellschaft für Exilforschung“ ablesen lässt. Es begann ein langer Weg zurück in die deutsche Erinnerungslandschaft, von den 1990er Jahren bis in die Gegenwart, nicht selten bedingt durch parallel laufende gesellschaftspolitische Debatten um Einwanderung, Ausländerfeindlichkeit oder Asyl.

Die beiden hier benannten Aspekte – der dezentrale Charakter der Flucht ab 1933 sowie die bundesrepublikanische Erinnerungskultur und Geschichtspolitik ab 1949 – beeinflussten das Erinnern an das Exil der Sozialdemokratie bis in die Gegenwart. Denn erst der Fall der Mauer und das Zusammenrücken Europas machten bestimmte Orte überhaupt erst wieder zugänglich: Mitte Mai 1990 konnte Willy Brandt in Prag eine Tafel einweihen, die an die Arbeit des SOPADE-Vorstands erinnerte; die Hauptstadt an der Moldau war nach 1945 auf die „Rückseite Europas“ geraten (Karl Schlögel), auch hier war im kommunistisch dominierten Geschichtsbild kein Platz gewesen für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten – und schon gar nicht für Deutsche. Erst jetzt begann zudem ein intensiverer Prozess nicht allein des Erinnerns, sondern auch des ‚Kenntlichmachens‘ eben jener Geschichte, für den der 1997 eingeweihte „Willy Brandts Park“ in Stockholm exemplarisch steht: Die Stadt war ein Zentrum des politischen Exils aus dem Deutschen Reich gewesen, der Park selbst erinnert dezidiert an die Emigration des späteren Bundeskanzlers in Schweden.

Dass die Erinnerung an das politische Exil aber dezentral ist – und vermutlich bleibt –, ist nicht allein den mit der Flucht ab 1933 verbundenen Orten, sondern auch den Formen des Erinnerns geschuldet. Denn diese Dezentralität lässt sich bereits an Wohn- und Wirkungsstätten, daneben aber auch auf den Gräbern der Emigration im Ausland finden – etwa auf dem Grabstein des im September 1939 in Paris gestorbenen Otto Wels auf dem Cimetière nouveau in Châtenay-Malabry, der die Aufschrift „In Erinnerung an unseren Widerstand. SPD“ trägt. Mehr noch sind es aber lokale Erinnerungszeichen wie die Stolpersteine und die „Berliner Gedenkorte“ oder Initiativen wie das Online-Stadtplanprojekt „Geteiltes Prag/Praha sdílená a rozdělená“, die die Orte des politischen Exils ab 1933 verorten helfen beziehungsweise überhaupt erst erkennbar machen. Zudem verdeutlichen sie die soziale Breite des Phänomens „Flucht“ ab 1933. Denn diese lokalen und individuellen Gedenk- und Aneignungsformen ermöglichen die von Wolfgang Benz schon vor einigen Jahren eingeforderte Auseinandersetzung mit dem „Exil der kleinen Leute“ und deren „Alltagserfahrungen“ auch in der Gruppe der politischen Flüchtlinge, die ihrerseits lange im ‚Erinnerungs-Schatten‘ bekannter Politiker oder Schriftsteller gestanden haben.

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