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Nach dem Militärschlag in Bergkarabach schildert Marcel Röthig, Landesvertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung für Georgien, Aserbaidschan und Armenien, in diesem Interview seine Einschätzung zu den Folgen für die Region und die Menschen vor Ort. Er verweist dabei auch auf die politischen Handlungsspielräume des Westens.
Die Fragen stellte Eva Ellereit.
Aserbaidschan hat am 19. September einen groß angelegten Militärschlag gegen die von Armenierinnen und Armeniern bewohnte selbsternannte „Republik Arzach“ im international als Teil Aserbaidschans anerkannten Bergkarabach durchgeführt, Nach nur einem Tag musste „Arzach“ kapitulieren. Was bedeutet diese Kapitulation nun für die Zukunft dieser Region?
Marcel Röthig: Aserbaidschan hat die Kontrolle über sein international anerkanntes Staatsgebiet gewaltsam zurückerlangt. Die armenische Bevölkerung in Bergkarabach steht vor einer ungewissen Zukunft. Die Armee der nicht-anerkannten „Republik Arzach“ wird aufgelöst, ihre Waffen und Technik wurden entweder von Aserbaidschan erbeutet oder soll den russischen Friedenstruppen vor Ort übergeben werden, die die Kapitulation vermittelt haben. Mit der Armee dürften auch alle quasistaatlichen Strukturen der Armenierinnen und Armenier in Bergkarabach verschwinden. Damit ist aber längst nicht der jahrzehntelang brodelnde Konflikt gelöst: Es ist fraglich, ob der aserbaidschanische Präsident Alijew jene schmerzhafte Lehre beherzigt, die einst die Armenier_innen in Bergkarabach für sich ziehen mussten: dass ein militärischer Sieg Anfang der 1990er-Jahre und das Verweigern von Kompromissen keinen Frieden brachte. Da Aserbaidschan sich nun für den Weg der Gewalt entschieden hat, scheint die Chance auf einen gerechten Frieden vertan.
Bereits seit Monaten ist der Latschin-Korridor, der einzige Versorgungsweges nach Armenien blockiert. Nun der militärische Angriff Aserbaidschans und die Kapitulation „Arzachs“. Was wird aus der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach?
Marcel Röthig: Es droht die Gefahr einer ethnischen Säuberung durch Vertreibung: Aserbaidschan verweigert der armenischen Bevölkerung Autonomierechte und fordert unter der Rhetorik, dass sie die gleichen Rechte wie alle Bürger_innen Aserbaidschans genießen sollen, de facto eine Assimilation der verbliebenen Armenier_innen. Angesichts der langjährigen Spirale der Gewalt und des Hasses auf beiden Seiten sowie der nun erfolgten militärischen Übernahme des Gebiets ist ein friedliches Zusammenleben jedoch schwer vorstellbar. Es ist zudem wahrscheinlich, dass ein Teil der Streitkräfte „Arzachs“ in den Untergrund gehen und die Kämpfe von dort aus weiterführen wird. Bei den begonnenen Verhandlungen hat Aserbaidschan die Bereitschaft zur Einrichtung eines humanitären Korridors am Latschin-Korridor erklärt, über den die Zivilbevölkerung nach Armenien ausreisen dürfe. Es bleibt jedoch fraglich, ob insbesondere die männliche Bevölkerung frei ausreisen darf: Aserbaidschan hat offenbar eine Liste von männlichen Armeniern übergeben, die angeblich Kriegsverbrechen begangen haben und an Aserbaidschan überstellt werden sollen. Es gibt ein Amnestieangebot an die armenischen Kämpfer, von dem jedoch die Kombattanten des Ersten Karabachkrieges der 1990er Jahre ausgenommen sind. Zudem mehren sich Berichte von teilweise willkürlicher Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, die man aufgrund der fehlenden internationalen Präsenz nicht unabhängig prüfen kann. Auch wenn die Führung „Arzachs“ durch die Kapitulation womöglich ein schlimmeres Blutvergießen verhindert hat, die Wahrscheinlichkeit einer ethnischen Säuberung durch Vertreibung bleibt.
Zudem muss es schnell gehen: Die humanitäre Lage ist katastrophal. Es fehlt nach Monaten der Blockade an Medikamenten, Nahrungsmitteln und Heizgeräten. Hunderte Menschen werden noch vermisst, das Mobilfunknetz ist gekappt und zahlreiche Dörfer sind von Aserbaidschan umzingelt oder besetzt. Mehrere Tausend Menschen haben in der russischen Militärbasis Schutz gesucht und hoffen auf Evakuierung durch die russischen Truppen. Gleichzeitig herrscht eine hohe Skepsis gegenüber den durch Untätigkeit aufgefallenen russischen Friedenstruppen.
Russland, traditionelle Schutzmacht der Karabach-Armenier_innen, hat durch den Krieg in der Ukraine andere militärische Prioritäten. Auch die Bereitschaft Armeniens ein gemeinsames Militärmanöver mit den USA abzuhalten, dem internationalen Strafgerichtshof beizutreten und der Ukraine humanitäre Hilfe zu leisten, könnte Russland verärgert haben. Hat der russische Krieg gegen die Ukraine auch Auswirkungen auf die Kaukasus-Region?
Marcel Röthig: Wir erleben möglicherweise das Ende der russischen Ordnungsmacht im Südkaukasus. Durch die militärische Schwächung Russlands kann es in seiner Peripherie nicht mehr wie bislang für ein dauerhaftes Einfrieren der zahlreichen Konflikte sorgen. Zudem ist die Türkei wirtschaftlich und politisch immer relevanter im Südkaukasus geworden und Aserbaidschan aufgrund seines Rohstoffreichtums deutlich stärker und selbstbewusster als noch in den 1990er Jahren. Zum anderen stellt sich die Frage, ob Russland überhaupt gewillt ist Armenien, welches 2018 mit der „Samtenen Revolution“ eine parlamentarische Demokratie wurde, die sich seitdem zaghaft nach Westen orientiert, zu helfen: Sicherlich hat die russische Passivität auch das Ziel, den aus Moskauer Sicht unliebsamen Premierminister Paschinjan abzustrafen, ihn aufgrund der Enttäuschung vieler Armenier_innen zum Rücktritt zu zwingen und moskautreuen Eliten zurück an die Macht zu verhelfen, die ein weiteres Abdriften Armeniens gen Westen verhindern würden. Für viele im Westen unbemerkt hat Moskau zwei Tage vor der Invasion der Ukraine zudem ein Militärbündnis mit Aserbaidschan geschlossen: Eine klare Verschiebung der eigenen Prioritäten.
Der letzte Krieg in Bergkarabach 2020 hatte keine nennenswerten internationalen Folgen für Aserbaidschan. Ist es dieses Mal anders? Welche internationalen Kräfte haben Einfluss auf die Geschehnisse und auf Aserbaidschan und was wird von der Europäischen Union und von Deutschland erwartet? Was könnte den Menschen in Bergkarabach konkret helfen?
Marcel Röthig: Der Westen hat 2020 auch aufgrund der eigenen Politik gegenüber der russischen Okkupation der Krim nicht entschlossen auf die kriegerische Veränderung des Status quo durch Aserbaidschan reagiert: Da die Krim zurecht als Teil der Ukraine anerkannt wird, gilt gleiches auch für Bergkarabachs Zugehörigkeit zu Aserbaidschan. Ausgeklammert wurde dabei jedoch der schon in anderen Konflikten aufgetretene Widerspruch zwischen der territorialen Integrität und des Selbstbestimmungsrechts der Menschen, die in einem bestimmten Gebiet leben. Der Konflikt in Bergkarabach hat eine ethnische Dimension. Da Aserbaidschan nun erneut den Weg der Diplomatie verlassen hat, in den die EU viel investiert hat, droht eine Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Aserbaidschan und dem Westen. Insbesondere die Türkei hat jedoch einen großen Einfluss auf Aserbaidschan: In Ankara hat man ein Interesse an einer Aussöhnung mit Armenien, der Öffnung der Grenze und einem freien Warenverkehr von der Türkei bis zum Kaspischen Meer. Zudem hat der Iran, dessen einzige Landverbindung zur Eurasischen Wirtschaftsunion und somit zum russischen Markt durch Armenien verläuft, eine rote Linie einer weiteren Eskalation gegen armenisches Territorium gezogen. Diese beiden wichtigen Regionalmächte können dafür sorgen, dass die Eskalation auf Bergkarabach beschränkt bleibt und nicht zu einem größeren Krieg wird.
Der Westen muss wiederum auf Baku einwirken, um eine ethnische Säuberung zu verhindern und eine internationale Präsenz in Bergkarabach einzurichten. Die EU hat in diesem Jahr eine Beobachtungsmission in Armenien auf die Beine gestellt. Es wäre eine sinnvolle Idee, dass diese auch in Aserbaidschan insbesondere in Bergkarabach wirken kann. Aller Voraussicht nach werden zudem tausende Menschen Bergkarabach in Richtung Armenien verlassen. Hier kann sich die EU für eine Integration der Geflüchteten einsetzen. Letztlich müssen wir auch an Armeniens Entwicklung denken: Die Vision von „Arzach“ war seit der armenischen Unabhängigkeit das verbindende politische Thema des Landes. Mit dem Ende dessen ist Armenien in eine tiefe politische Depression gefallen, die möglicherweise Paschinjan das Amt kosten und im schlimmsten Fall der fragilen Demokratie Armeniens schaden wird. Viele junge Menschen orientieren sich längst nach Europa, zu dem man sich kulturell gehörig fühlt und mit welchem man über die große Diaspora ohnehin eng verbunden ist. Armenien braucht ein neues verbindendes Ziel. Die Betonung der langfristigen europäischen Perspektive und die Unterstützung des Friedens- und Aussöhnungsprozesses in der Region sollte unsere große Aufgabe sein.
Marcel Röthig ist Leiter des Regionalbüros Südkaukasus der Friedrich-Ebert-Stiftung und zuständig für Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Zuvor war er Landesvertreter in der Ukraine und der Republik Moldau, Repräsentant für Belarus sowie stellvertretender Landesvertreter in der Russischen Föderation.
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