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Über Jahrhunderte lag die Verantwortung für die Absicherung bei Krankheiten, im Alter, im Falle einer Pflegebedürftigkeit oder bei anderen Risiken und Unwägbarkeiten des Lebens bei den Familien und den Einzelnen. Die Sorgearbeit wurde in aller Regel unentgeltlich von Frauen geleistet, zusätzlich zu ihren weiteren gesellschaftlichen Aufgaben. Hilfe für Fremde wurde im christlichen Sinne als Barmherzigkeit und Nächstenliebe (Caritas) interpretiert, die auf Freiwilligkeit beruhte und, z.B. bei Orden, Klöstern und Stiften, meist von missionarischen Absichten begleitet war. Kirchliche und humanitäre Initiativen sowie erste staatliche Sozialprogramme konnten die allgemeine soziale Not ab dem 18. Jahrhundert zwar abmildern, es gab jedoch keinen Rechtsanspruch auf gesundheitliche Versorgung und keinen sozialen Ausgleich.
Erste Sozialversicherungen im 19. Jahrhundert
Die entstehende Arbeiterbewegung forderte deswegen im 19. Jahrhundert grundlegende Strukturen zur Absicherung vor den Belastungen und Gefährdungen bei der Arbeit, bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen, im Alter und in anderen Situationen, in denen Unterstützung benötigt wurde. Solidarische Praktiken wie Unterstützungskassen, Volksküchen, Schwangerenhilfe oder Betreuungsangebote wurden als Formen wechselseitiger Selbsthilfe ins Leben gerufen. Mit der Kranken-, der Unfall- und der Renten- und Invaliditätsversicherung wurden im deutschen Kaiserreich in den 1880er-Jahren vor dem Hintergrund der kapitalistischen Expansion die Grundlagen des Sozialstaats gelegt. Für große Bereiche der Alten-, der Kranken- und der Kinderkrankenpflege sowie für die Betreuung von Menschen mit Kriegsversehrungen und Behinderungen waren diese ersten Sozialversicherungssysteme mit ihrer Fokussierung auf die Industriearbeiterschaft jedoch völlig unzureichend.
Rechtsansprüche und Modellprojekte
Im Ersten Weltkrieg, unter den aufgezwungenen Bedingungen des „Burgfriedens“, wurde eine ganze Reihe von staatlichen Fürsorgestrukturen für Familien geschaffen, um angesichts schwerwiegender sozialer Entbehrungen die Zustimmung der Bevölkerung an der „Heimatfront“ zu erhalten. Die SPD tat sich unter diesen Rahmenbedingungen schwer und spaltete sich an der Kriegsfrage. Aber auch Sozialdemokrat_innen beteiligten sich an vielen Stellen an bürgerlichen und kommunalen Hilfsangeboten, wie etwa dem Nationalen Frauendienst oder den Kinderschutzkommissionen. Soziale Leistungen zur Unterstützung von Kriegsversehrten und Hinterbliebenen wurden dauerhaft institutionalisiert, sie galten allerdings nur für diese speziellen Fälle von Pflegebedürftigkeit.
In der Weimarer Republik trat die Sozialdemokratie für einen umfassenden Wohlfahrtsstaat mit gesetzlichen Regelungen und Rechtsansprüchen auf Unterstützungen ein. Mit der Arbeiterwohlfahrt gründete sie im Dezember 1919 eine eigene Organisation für Wohlfahrtspflege. Sie kooperierte mit den neugeschaffenen föderalen und kommunalen Wohlfahrtsämtern und Fürsorgeausschüssen, schuf darüber hinaus aber auch eigene Einrichtungen, um Modellprojekte zu entwickeln und sich nicht durch die konfessionelle Vorherrschaft oder die finanziellen Grenzen des Sozialstaats einengen zu lassen.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat in den letzten zwei Jahren eine Reihe von Veranstaltungen und Publikationen produziert, die sich mit der Situation der Pflege beschäftigen. Unter dem Stichwort „Care“ werden ganz unterschiedliche soziale Leistungen zusammengefasst, nicht nur die Kranken- und Altenpflege im engeren Sinne, sondern z.B. auch soziale Kontaktpflege, der familiäre Haushalt oder auch Selfcare. Hier wäre z.B. der Blog Corona & Care oder die Kampagne Care to join us? zu nennen, aber auch die Aktivitäten im Bereich Gender, z.B. die Kampagnen The Future is feminist und feministisches Europa – Does Europe Care for Care?. Im Bereich Wirtschafts- und Sozialpolitik entstand im letzten Jahr eine Studie zur 24-Stunde-Pflege. Aktuell erscheinen in der Reihe On the Corona-Frontline Studien zur Situation der Altenpflege in neun europäischen Ländern.
Öffentliche Förderung und Subsidiarität
Die vollständige staatliche Zentralisierung sowie die ideologische Instrumentalisierung sozialer Einrichtungen durch den Nationalsozialismus markierte für die Geschichte der sozialdemokratischen Sozialpolitik eine einschneidende Erfahrung. Nach 1945 schien eine sozialistische Gesellschaft nur noch mit einer starken demokratischen Zivilgesellschaft denkbar. Vorstellungen einer staatlichen Kontrolle aller sozialen Angebote waren diskreditiert. Während in der DDR dennoch ein zentralistisches System in Form des von der SED gelenkten Staatssozialismus installiert wurde, wählte die Bundesrepublik einen anderen Weg, allerdings unter konservativen, liberalkapitalistischen Vorzeichen. Das sogenannte Subsidiaritätsprinzip, das nun sehr häufig als Kriterium herangezogen wurde, sah zwar eine sozialpolitische Rahmengesetzgebung durch den Bund vor, schrieb den großen Wohlfahrtsverbänden und Angeboten in privater Trägerschaft aber eine initiative Rolle beim Aufbau von Alten- und Fürsorgeeinrichtungen zu.
In den 1950er- und 1960er-Jahren entwickelten sich Caritas, Diakonie, Rotes Kreuz, Arbeiterwohlfahrt und paritätischer Wohlfahrtsverband zu den großen Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege. Gestützt auf öffentliche Förderprogramme, schufen sie im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs eine Vielzahl neuer Einrichtungen. Vor allem die Situation der Älteren rückte nach 1960 in den Fokus. Die große Rentenreform von 1957 und der Neubau von großen Altenwohnheimen und Pflegeeinrichtungen trugen dem demografischen Wandel Rechnung. Strukturen wie das 1962 gegründete Kuratorium Deutsche Altershilfe förderten mit Einnahmen aus Lotterien die Bereitstellung von „Essen auf Rädern“ und mobilen Hilfsdiensten für die Versorgung in den eigenen vier Wänden – Tätigkeiten, die nun häufig von Zivildienstleistenden übernommen wurden.
Die Ökonomisierung der Pflege
Der Ausbau des Sozialstaats stieß in den 1970er-Jahren mit dem wirtschaftlichen Abschwung an eine finanzielle Grenze. Auch die Wohlfahrtsverbände mussten aufgrund ihrer ökonomischen Größe und der Personalverantwortung das Sozialmanagement durch die Ausgliederung von Einrichtungen und die Erhöhung der betriebswirtschaftlichen Kompetenz verbessern. Skandale um fehlerhafte Buchführung, Misswirtschaft und Betrug bei einigen trugen zum Eindruck bei, dass das korporatistische System verkrustet und reformbedürftig war. Aber auch die Bedürfnisse wandelten sich: Die multifunktionalen Seniorenheimkomplexe galten als nicht mehr zeitgemäß. In diese Lücke stießen verstärkt kleinere private Angebote ambulanter Pflegedienste und Angebote von familiär erscheinenden Pflegeheimen.
In den 1990er-Jahren verschärften sich diese Tendenzen unter marktliberalen Vorzeichen. Die Wiedervereinigung und die europäische Integration waren hierbei treibende Faktoren. In Ostdeutschland bestanden keine Strukturen der freien Wohlfahrtspflege mit ihrer Mischung aus ehrenamtlichem Engagement und professionellen Dienstleistungen. Hier wurden daher Modellprojekte mit ausgegründeten Einrichtungen und gemeinnützigen GmbHs entwickelt, die auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und fehlender Tarifbindung aufbauten. Der europäische Binnenmarkt brachte Freizügigkeiten für Unternehmen und Arbeiternehmer_innen, sodass es auch auf dem Pflegemarkt vermehrt zur Konkurrenz der freien Wohlfahrtspflege mit profitorientierten internationalen und privatwirtschaftlichen Akteur_innen kam.
Im Krankenhauswesen hatte die Tendenz zur Vermarktlichung noch etwas früher eingesetzt. Eine Vielzahl von kommunalen oder gemeinnützigen Krankenhäusern wurde aus Kostengründen rechtlich ausgegliedert oder ganz privatisiert. Das Abrücken vom Kostendeckungsprinzip und der Übergang zu Fallpauschalen und Sonderentgelten mit dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 setzte die Krankenpflege einem stärkeren Kostendruck aus. Der Zuschnitt der 1995 von Norbert Blüm eingeführten, längst überfälligen Pflegeversicherung bewirkte ebenfalls eine Verdichtung der Arbeitsintensität und beförderte die Konkurrenz zwischen öffentlichen, gemeinnützigen und privaten Angeboten. Der Anspruch auf Pflegegeld erweiterte die Wahlmöglichkeiten von Pflegebedürftigen und ermöglichte das Leben in der eigenen Wohnung, leistete allerdings der prekären Beschäftigung in privaten Haushalten Vorschub. Pflegende Angehörige und Familien wurden so teilweise entlastet, ihre Rolle übernahmen aber vermehrt Arbeitsmigrant_innen, die unter sehr fragwürdigen Konditionen oft Tag und Nacht im Einsatz waren.
Der gegenwärtige Pflegenotstand manifestiert sich u.a. in fehlenden Fachkräften und unzureichenden Arbeitsbedingungen. Bis 2030 werden bis zu einer halben Million weiterer Pflegekräfte benötigt, um dem demografischen Wandel Rechnung zu tragen. Der Personalschlüssel müsste dringend erhöht werden, um den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Ein flächendeckender Tarifvertrag für die Altenpflege ist nach jahrelangen Mühen kürzlich am Widerstand der Caritas gescheitert. Die Forderung nach fairer Bezahlung ist daher aktuell wie nie und geht über symbolische Sonderzahlungen weit hinaus. Dafür müssten allerdings auch neue Finanzierungswege erschlossen und staatliche Förderungen erweitert werden. Eine Mammutaufgabe für die nächsten Jahre.
Philipp Kufferath
Auf der Onlineveranstaltung Gute Pflege – gute Arbeit. Historische und aktuelle Perspektiven auf einen Schlüsselberuf des 21. Jahrhunderts diskutieren wir am 27. April mit hochkarätigen Gästen die Situation der Pflege.
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