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Die Corona-Krise als Anstoß für einen doppelten Paradigmenwechsel

Jetzt ist das Zeitfenster, die Gesellschaften und die Wirtschaft zu „immunisieren“! Ein Beitrag von Dr. Stefanie Elies.

Bei allen Herausforderungen, welche die weltweite Krise durch die Corona-Pandemie derzeit mit sich bringt, wird sehr deutlich, dass jenseits der akuten sowie mittel- bis langfristigen Strategien zur Abmilderung der Folgen wenig über den grundlegenden Bedarf für einen grundsätzlichen systemischen Wandel gesprochen wird. Dabei ist diese Krise ein möglicher Anstoß für mindestens zwei grundsätzliche Paradigmenwechsel: einen in Bezug auf die Sorgearbeit, einen in Bezug auf die institutionellen Veränderungen hinsichtlich menschlicher Sicherheit. 

Kern dieses doppelten Paradigmenwechsels ist ein Umlenken von Investitionen in nachhaltige und vorsorgende Systeme, welche die Versorgung und die Sicherheit von Menschen in den Mittelpunkt stellen. Diese Umverteilung steht nicht gegen ökonomische Interessen, sondern im Interesse einer durchgreifenden sozio-ökologischen Transformation.

ERSTENS: Paradigmenwechsel zur gerechten Entlohnung von und Investition in Sorgearbeit

Die Coronavirus-Pandemie hat eines ganz deutlich gemacht: In der weltweiten Krise sind es vor allem Frauen, die für die Aufrechterhaltung der „Systeme“ zuständig sind - ob im öffentlichen Raum in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und  Supermarktkassen oder im häuslichen Bereich  als Lehrerinnen, Elternteile oder pflegende Angehörige. In all diesen Bereichen stellen Frauen bis zu mehr als 70 Prozent der Erwerbstätigen, oder sie leisten den Großteil der unbezahlten Arbeit.

Und so groß die emotionale Wertschätzung für diese Arbeit in diesen Tagen auch sein mag – für die wenigsten (mit Ausnahme der oben genannten Lehrkräfte oder Ärztinnen) schlägt sich diese auch ökonomisch nieder. 

Daher ist jetzt die richtige Zeit, um endlich den Paradigmenwechsel vor allem in punkto Sorgearbeit herbeizuführen, den wir schon lange aus feministischer Sicht gefordert haben. 
 

Wir müssen:

  • die Produktivitätslogik des neoliberalen Wirtschaftsmodells endlich durchbrechen,
     
  • eine grundlegende Umverteilung von Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge und in die Errichtung von resilienten Care-Regimes vollziehen,
     
  • unbezahlte Sorgearbeit a) geschlechtergerecht aufteilen und b) für berufstätige pflegende Angehörige mit Zeitbudgets und Lohnersatz vergüten,
     
  • die Aufwertung und bessere Entlohnung von sozialen Berufen vollenden sowie prekäre Beschäftigung minimieren, (inkl. die  gewerkschaftliche Organisation und tarifvertragliche Absicherung der Beschäftigten angehen),
     
  • die globalen Pflegeketten durchbrechen durch a) gute Arbeit für Pflegekräfte in den „entsendenden“ Ländern und b) eine Aufwertung und Qualifizierungsoffensive für Pflegeberufe in den „aufnehmenden“ Ländern.
     

Angesichts einer drohenden Wirtschaftskrise als Folge der Pandemie richtet sich das Augenmerk wieder in erster Linie auf die produzierenden Sektoren. Doch auch schon bei vergangenen Epidemien und Wirtschaftskrisen waren es vor allem die Frauen, die letztlich den höchsten Preis zu zahlen hatten und zurückblieben. Studien zu den Pandemien Ebola und Zika haben beispielsweise ergeben, dass bei den Krisenreaktionen strukturelle Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern ausgeklammert wurden und sich dadurch die negativen Auswirkungen für Frauen verschärft haben. Eingriffe in sexuelle Selbstbestimmung und reproduktive Rechte erstreckten sich nur auf den weiblichen Teil der Bevölkerung. Die Sorgeverantwortung verbleibt ebenfalls zum Großteil bei ihnen. 

Bei der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Austeritätspolitik in vielen Ländern massiv die Ungleichheiten verstärkt und Geschlechterungerechtigkeit manifestiert. Umverteilungen etwa durch die Abwrackprämie und Kurzarbeitergeld wurden durch Kürzungen in der sozialen Infrastruktur bezahlt. Männliche Industriearbeitsplätze wurden zu Lasten von Frauen, die vor allem in anderen Sektoren beschäftigt sind, gesichert. Auch jetzt sind Frauen überproportional vom Existenzverlust bedroht, vor allem viele Klein- und Soloselbstständige –  und hier wiederum sehr viele Frauen: Frisörinnen, Schneiderinnen, Künstlerinnen oder Buchhändlerinnen. Teilzeitarbeit ist vor allem für Frauen der Weg, Sorgearbeit und Beruf miteinander zu verbinden, doch hierdurch manifestieren sich auch die Einkommensungleichheit und Altersarmut.

Diese Ungerechtigkeiten haben tiefe Verwerfungen hinterlassen, die bis heute nachwirken. 

Fehler aus der Vergangenheit vermeiden 

Weitere Epidemien und Krisen sind unvermeidlich. Deshalb: Jetzt ist das Zeitfenster, die Gesellschaften und die Wirtschaft zu „immunisieren“! Vor allem muss der Argumentation entgegengewirkt werden, die Geschlechterfrage sei eine Nebensache oder nur eine Ablenkung von der wirklichen Krise. Im Gegenteil, sie ist zentral.

Die Coronavirus-Krise  ist global und wird lange anhalten, sowohl medizinisch als auch wirtschaftlich. Sie bietet aber auch eine Chance. Sie könnte die erste weltweite Krise sein, bei der Geschlecht und Geschlechterunterschiede erfasst und von Forscher_innen und politischen Entscheidungsträger_innen berücksichtigt werden. Erste makroökonomische Analysen sind bereits unterwegs.

Zu lange ist die Politik davon ausgegangen, dass die Sorgearbeit von Privatpersonen, vor allem Frauen, aufgefangen werden kann, die damit wiederum die bezahlt Beschäftigten in anderen Wirtschaftssektoren indirekt subventionieren. Es ist an der Zeit, dass sozialdemokratische Politik mit dieser Verzerrung Schluss macht. Das bedeutet, das Care-Paradigma zu ändern, die Pflegeketten zu durchbrechen und die Bedingungen für Sorgearbeit innerhalb und außerhalb des Pflege und Gesundheitssektors zu verbessern. Die bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit muss im Zentrum der makroökonomischen Politikgestaltung stehen!

ZWEITENS: Paradigmenwechsel zu einem System für „Menschliche Sicherheit“

Auch aus globaler Sicht ist klarer denn je, dass es keine regionalen oder supranationalen Systeme gibt, die im Falle einer krisenhaften Entwicklung greifen können. Stattdessen sind es oft nationale Verfassungen, Rettungspläne, Gesetzgebungen und staatliche Institutionen, die beim Krisenmanagement zum Tragen kommen. 

Die weltweite Pandemie hat eines deutlich gemacht: die immensen Defizite und die Inneffektivität der Präventionssysteme, die in Bezug auf die menschliche Sicherheit zur Verfügung stehen. Maßnahmen zur „Menschlichen Sicherheit“ (human security) sind seit Jahrzehnten schlechter ausgestaltet und ausgestattet, als traditionelle Sicherheitssysteme, sprich Verteidigungs- und Militärhaushalte. Erst jetzt wurde wiederum von der deutschen Regierung das Ziel bestätigt, die Militärausgaben gemäß den Vereinbarungen der NATO auf 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu steigern. 

Um für zukünftige Pandemien - und sie werden gewiss kommen - besser vorbereitet zu sein, sind ganz neue Risikobewertungen und auch –folgenabschätzungen, auch mit Blick auf inter- und suprastaatliche Lösungen, notwendig. Fragen menschlicher Sicherheit (inklusive Migration, ökologischer Nachhaltigkeit) machen vor den nationalen Grenzen nicht Halt und müssen Priorität vor anderen, traditionellen Sicherheitsfragen haben. Diese neuen Sicherheitsfragen erfordern ebenso prioritäre Investitionen. Diese müssen nicht nur in die Gesundheits- und Sozialsysteme gehen. Auch die organisierte Zivilgesellschaft, Freiwilligendienste und gemeinnützige Organisationen müssen in der Lage sein, mit diesen Risiken umzugehen und sie zu mindern.

Zeit zu handeln!

Es ist Zeit für einen disruptiven Wandel, der uns weg führt von den Mustern der Rhetorik und weg von den Antworten des Krieges  - hin zu einer solidarischen und gemeinschaftlich getragenen menschlichen Sicherheitsarchitektur.

Wann, wenn nicht jetzt, ist es an der Zeit, die weltweit weiter expandierenden Militärhaushalte einzufrieren oder zu kürzen und  Investitionen in Gesundheit, Bildung, Klimaschutz, Fluchtursachenbekämpfung und öffentliche Infrastrukturen zu erhöhen?

Corona ist ein weiterer Katastrophenfall für die Menschheit, der signalisiert, dass mit zunehmender Globalisierung und Urbanisierung auch die Risiken für die menschliche Sicherheit zunehmen. Es ist nur zu wahrscheinlich, dass es wieder neue virulente und tödliche Virenstämme geben wird. In der Zwischenzeit werden uns auch die Auswirkungen des Klimawandels und extremer Wettermuster noch stärker beeinflussen. Wachsende Ungleichheit schürt Konflikte, militärische Auseinandersetzungen, Flucht und Vertreibung, die aber mit traditionellen Sicherheitsmaßnahmen, zumindest in ihren Ursachen, nicht bekämpft werden können. 

Der Gestaltungsauftrag für sozialdemokratische Politik für die Gewährleistung der Voraussetzungen für menschliche Sicherheit wächst mit diesen neuen Risiken.  Sie sollte bei der Frage der Umverteilung im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation vor allem auch den Verteidigungshaushalt nicht verschonen. Ein doppelter Paradigmenwechsel, der Investitionen in menschliche Sicherheit und nachhaltige und geschlechtergerechte Sorgearbeit kanalisiert, ist die Chance aus der Krise.

Der Text wurde auch ins Spanische übersetzt und ist erschienen in der von der FES herausgegebenen spanischsprachigen gesellschaftspolitischen Zeitschrift für Lateinamerika, Nueva Sociedad, Mai 2020

Autorin:

Dr. Stefanie Elies leitet das Referat Forum Politik und Gesellschaft der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. 


Kontakt

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Stefanie Hanke
Stefanie.Hanke(at)fes.de

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