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Stück für Stück fällt Afghanistan in die Hände der Taliban. Dr. Magdalena Kirchner, Leiterin des FES-Projekts vor Ort gibt einen Einblick in ein verzweifeltes Land.
FES: Sie sind seit 2019 Leiterin des FES-Büros in Kabul. In aller Kürze: Wie haben sich die Lebensbedingungen für die Afghan_innen in dieser Zeit verändert?
Die Lebensbedingungen innerhalb des Landes variierten schon immer, Afghanistan ist ein sehr diverses Land und von starker sozialer Ungleichheit geprägt. Die Pandemie und die anhaltende Gewalt, die zehntausende Zivilist_innen getötet oder verwundet hat, aber auch die Folgen des Klimawandels haben die Armut im Land verschärft. Für Frauen und Mädchen sind die Lebensbedingungen noch einmal schwieriger. Nach Schätzungen von Expert_innen haben 90% der afghanischen Frauen schon einmal häusliche Gewalt erfahren. Dazu kommt die schon immer instabile Sicherheitslage, die natürlich alle trifft. Doch Frauen und Mädchen werden auch gezielt angegriffen: So gab es in Kabul 2020 und 2021 zwei besonders brutale Anschläge auf eine Geburtsstation und eine Mädchenschule mit weit über 100 Toten. Gleichzeitig gab es in den letzten Jahren aber natürlich auch Erfolgsgeschichten, wie die Ernennung der ersten Wirtschaftsministerin oder eine stetig steigende Zahl von Uniabsolventinnen.
Inwiefern hat es Sie überrascht, dass der Abzug der USA, aber auch Deutschlands nun so schnell vollzogen wird und die afghanische Regierung spätestens Ende August auf sich alleine gestellt sein wird?
Dass der Abzug schnell gehen muss, war klar, denn die Abzugsfrist, zu der sich die USA verpflichtet hatten, ist ja eigentlich am 1. Mai abgelaufen und die NATO-Staaten hatten große Sorgen vor Angriffen auf ihre eigenen Soldat_innen. Mich hat allerdings überrascht, dass der Abzug nun plötzlich bedingungslos – also unbenommen der Gewalt oder der ausbleibenden Fortschritte im Friedensprozess – vollzogen werden sollte. Damit wurde der Regierung in Kabul auch ein psychologischer Schlag versetzt. Auf einmal konnte sie sich nicht mehr der bedingungslosen Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sicher sein.
Wie wurde und wird diese Entwicklung in der afghanischen Bevölkerung aufgenommen?
Bei den Unterstützern der Taliban sicher mit Genugtuung. Auf der Seite der Unterstützer der Republik: Unglauben, Realitätsverweigerung, Schockstarre und Enttäuschung darüber, von der „Schutzmacht“, die viele in der ja sehr jungen afghanischen Bevölkerung schon ihr ganzes Leben begleitet hat, verlassen worden zu sein. Viele haben nun Angst, dass sich die Sicherheitslage in Kabul dramatisch verschlechtert, einige fürchten, als Mitarbeitende der NATO-Streitkräfte oder internationaler Organisationen ihre Existenz oder gar ihr Leben zu verlieren. Viele versuchen, das Land zu verlassen.
In den letzten Jahren hat die Bundesregierung auch in Informationskampagnen vor Ort über die Gefahren und die Erfolgsaussichten von Asylgesuchen in Deutschland investiert (so z.B. die Webseite www.rumorsaboutgermany.info ). Als wie sinnvoll erachten Sie derartige Informationskampagnen hinsichtlich der Wahrnehmung Deutschlands und Europas?
Ich drehe es mal um: Die meisten Afghanen_innen wissen, teils aus eigener Erfahrung, wie schlecht die Situation von Geflüchteten im Iran und in Pakistan ist. Trotzdem überquerten Ende Juli mehr als 20.000 Familien die Grenze dorthin, aus Mangel an Alternativen. Meiner Meinung nach profitieren Schlepper von der Verzweiflung der Menschen und vom Mangel an legalen Wegen – nicht unbedingt davon, dass Afghan_innen naive Vorstellungen vom Leben in Deutschland haben.
Presseberichte in Deutschland thematisieren zunehmend die Möglichkeit eines starken Anstiegs der Zahl an Flüchtenden aus Afghanistan in Richtung Europa. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation, aber auch die Dynamik der Entwicklung ein?
Ich sehe eine Zwei-Phasen Entwicklung. Die Hürden für Afghan_innen überhaupt erst einmal das Land zu verlassen, haben sich in den Monaten extrem erhöht. Viele Grenzübergänge werden von den Taliban kontrolliert, allein die türkische Botschaft in Kabul hat Berichten zufolge von mehreren zehntausend Anträgen gesprochen. Um die 3.000 Menschen stellen sich jeden Morgen bei der Passstelle an, um Reisedokumente zu bekommen. Schwarzmarktpreise für Visa gehen in die Tausende US-Dollar und mit dem Verweis auf die Corona-Pandemie haben die Vereinigten Arabischen Emirate, Indien und die Türkei Einreisebestimmungen weiter verschärft. Meine Annahme ist, dass viele, die jetzt das Land verlassen, zunächst in den Transitstaaten Iran, Pakistan und Türkei bleiben werden, bis sie das Geld für die Weiterreise zusammen bekommen. Inwieweit es dann zu einem Anstieg der afghanischen Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln kommt, wird auch davon abhängen, welchen Kurs die EU und die Türkei in ihrer weiteren gemeinsamen Migrationspolitik einschlagen.
2015 war die deutsche Regierung und auch Öffentlichkeit vom raschen und schnellen Anstieg der Zahl von Asylsuchenden aus Syrien überrascht worden, obwohl der Konflikt und die Problemlagen der geflüchteten Syrer_innen schon lange bekannt waren. Sollte sich die Sicherheitslage in Afghanistan weiter verschlechtern, für wie wahrscheinlich halten Sie eine ähnliche Entwicklung mit Blick auf Afghanistan?
Ich habe den Eindruck, wir laufen hier in ein ähnliches Dilemma wie 2015. Die verzweifelte Situation der afghanischen Schutzsuchenden in den Anrainerstaaten ist bekannt und eine Rückkehr nach Afghanistan bis auf Weiteres nicht absehbar. Wenn wir nicht aktiv die Resettlementquoten erhöhen, wird sich dies auch – auf dem Rücken der Schutzsuchenden – an unserer Außengrenze bemerkbar machen.
Was sollte die deutsche Bundesregierung Ihrer Meinung nach jetzt tun, um die Menschen vor Ort zu unterstützen und Zukunftsperspektiven zu schaffen?
Ich stelle es mir, ehrlich gesagt, sehr schwer vor, in einem der brutalsten Gewaltkonflikte derzeit mit wechselnden Fronten überall im Land, aktuell von außen Zukunftsperspektiven schaffen zu können, die Emigration verhindern sollen. Wir wissen ja nicht einmal, wie lange und unter welchen Bedingungen es eine entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Afghanistan noch geben wird. Ja, viele Menschen verlassen das Land wegen fehlender Perspektiven, aber jetzt wollen auch viele weg, die noch ein sicheres Einkommen und Jobs haben, aus Angst um das eigene Überleben. Meiner Meinung nach sollte die Bundesregierung viel stärker, als bisher, mit den Transit- und Aufnahmestaaten kooperieren und sowohl Schutzsuchende als auch Aufnahmegesellschaften dort unterstützen. Innerhalb des Landes ist jetzt vor allem humanitäre Hilfe nötig, aber auch im Wiederaufbau von zerstörter Infrastruktur.
Was bedeutet der Vormarsch der Taliban für die Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung vor Ort und auch für diejenigen, die diese bisher in hohem Maße getragen haben – also die lokalen afghanischen Mitarbeiter_innen?
Unsere lokalen Mitarbeiter_innen teilen natürlich die Ängste der meisten Afghan_innen in Kabul – seit 2019 ist die Büroleitung nicht mehr dauerhaft in Kabul präsent und Corona hat regelmäßige Aufenthalte noch schwieriger gemacht. Unser Büroalltag ist also meistens virtuell, doch manchmal kämpfen wir auch mit Stromausfällen, weil Stromleitungen angegriffen wurden. Obwohl es in Kabul noch keine Gefechte gibt, haben unsere Mitarbeiter_innen die Konsequenzen der Gewalt täglich vor Augen: Ein Park unweit unseres Büros ist seit ein paar Tagen Anlaufstelle hunderter Familien, die vor der Gewalt z.B. in Kunduz geflohen sind und dort Schutz suchen. Veranstaltungen außerhalb Kabuls haben wir bis auf Weiteres einstellen müssen, gleichzeitig wollen wir – so lange es geht – zivilgesellschaftlichen Austausch ermöglichen und unsere Präsenz und Ressourcen vor Ort nutzen, um beispielsweise auf die dramatische sozio-ökonomische Lage im Land hinweisen zu können. Doch natürlich machen wir uns auch viele Gedanken um die Sicherheit unserer Kolleg_innen. Sie haben nicht nur Angst, dass ihre Arbeit für uns – zum Teil schon von den ersten Schritten der FES in Kabul 2002 an – nun ein großes Risiko für ihr Leben, aber auch das ihrer Familien darstellt, sollten die Taliban die Hauptstadt einnehmen und sich an vermeintlichen „Spionen“ rächen wollen. Sie sind auch in Sorge um ihre Söhne und Töchter, in deren Ausbildung sie jeden Afghani, also all ihr Geld, gesteckt haben, um ihnen eine bessere Zukunft bieten zu können. Jede_r unserer Mitarbeiter_innen hat in der Vergangenheit bereits Fluchterfahrung sammeln müssen und gehofft, eine solche Situation nicht noch einmal zu erfahren. Angesichts der dramatischen Lage bemühen wir uns als Stiftung derzeit natürlich aktiv darum, unsere Mitarbeiter_innen in Sicherheit zu bringen.
Dr. Magdalena Kirchner
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Afghanistan.
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