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Junge Stimmen finden im politischen Diskurs oft nicht ausreichend Gehör. Mit einer Textreihe von Stipendiat_innen der FES wollen wir unseren Teil dazu beitragen, dass sie an der strategischen Debatte teilnehmen. Im vierten Text der Reihe betrachtet Jan Hillgruber die europapolitische Debatte innerhalb der SPD zur Sicherheits- und Friedensarchitektur und versucht dabei, die sozialdemokratische Vision von Europa in Erinnerung zu rufen.
Wer die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik verstehen möchte, dem genügt ein Besuch am Berliner Hauptbahnhof. Schon beim Einfahren in die gläserne Haupthalle sieht man zwei zentrale politische Orte Deutschlands: den Deutschen Bundestag sowie das Bundeskanzleramt. Nach dem Ausstieg aus dem Zug hat man zwei Möglichkeiten den Bahnhof zu verlassen. In nördliche Richtung weist ein Schild den „Europaplatz“ aus, während der „Washingtonplatz“ in die südliche Richtung zeigt. Europa oder Washington – in diesem Spannungsfeld verkehrte historisch die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik. Trotz des Voranschreitens der Europäischen Integration, ab 1993 auch mit Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik, betonte Deutschland stets die Kompatibilität dieser mit der besonderen Partnerschaft zu den USA. So ist es nur folgerichtig, dass demjenigen, der die Machtzentralen der Bundesrepublik vom Berliner Hauptbahnhof erreichen möchte, bis heute nur eine Wahl bleibt: der Ausgang „Washingtonplatz“.
Mit der russischen Großinvasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 erlebte Europa den Zusammenbruch seiner bisherigen Friedens- und Sicherheitsordnung. Ein bis dato unvorstellbarer Vorgang. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht daher zurecht von einer Zeitenwende. Gleichzeitig schwindet die Verlässlichkeit der USA, die Sicherheit ihrer europäischen Verbündeten – unsere Sicherheit – zu garantieren. Für uns, die sich inmitten von Europa befinden, heißt das: die scheinbar veraltete Frage, wie wir unsere Sicherheit mit Europa und den USA organisieren, muss neu gestellt werden. Der deutschen Sozialdemokratie fällt hierbei als führende Regierungspartei eine entscheidende Rolle zu. Daher lohnt es sich, einen Blick auf die aktuelle europapolitische Debatte in der SPD zu werfen.
Eine überdauernde Friedensordnung für Europa
Angelehnt an die theoretische Konzeption des positiven Friedens schlägt dieser Text auch für das Konzept von Sicherheit ein möglichst breites Verständnis vor. So ist eine demokratische Gesellschaft nur wirklich sicher, wenn sowohl die militärischen Bedrohungen von außen minimiert sind als auch der gesellschaftliche Zusammenhalt im Inneren stark ist. Dieser kann nur in einer gerechten und solidarischen Gesellschaft erreicht werden, die Chancen zulässt und ermöglicht. Sicherheit ergibt sich im sozialdemokratischen Verständnis also aus dem Zusammenspiel klassischer Sicherheits- bzw. Verteidigungspolitik mit Wirtschafts- und Sozialpolitik in einem demokratischen Staats- und Gesellschaftsgefüge.
Angesichts der Notwendigkeit einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur steht die Sozialdemokratie nun vor der Herausforderung, diese Säulen von Sicherheit nicht national, sondern europäisch zu denken. Die Europäische Union (EU) bietet dazu die Chance. Ihre Kompetenzen können dabei genutzt werden, die sozialdemokratischen Säulen von Sicherheit in weiten Teilen Europas einheitlich umzusetzen und damit dem Ideal vom positiven Frieden näher zu kommen. Die (Neu-) Gestaltung der EU muss also im Zentrum einer sozialdemokratischen Friedens- und Sicherheitspolitik für Europa stehen. Auf Grundlage des Europawahlprogramms und der Grundsatzrede von Lars Klingbeil auf der Tiergartenkonferenz 2023 widmet sich folgender Abschnitt den sozialdemokratischen Vorschlägen für die EU in eben jenen Bereichen, die im sozialdemokratischen Verständnis für Sicherheit notwendig sind: eine demokratischere EU, europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik und klassische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Demokratische Sicherheit – Reformen für ein demokratischeres Europa
Teilhabe an einem demokratischen System bedingt Sicherheit. Die EU wird häufig dafür kritisiert, sie besäße zu wenig demokratische Legitimation. Zentraler Kritikpunkt ist hierbei die Schwäche des direkt-gewählten Europäischen Parlaments und die Stärke indirekt-legitimierter EU-Institutionen. Das Europawahlprogramm der SPD stellt daher eine Reform der bestehenden EU-Institutionen in Aussicht, um dadurch die EU als Ganzes nicht nur demokratischer, sondern auch handlungsfähiger zu gestalten. Hierfür soll der Europäische Rat, der Rat der Staats- und Regierungschefs, künftig in allen Politikfeldern mit Mehrheit entscheiden. Momentan herrscht beispielsweise in der Außen- und Sicherheitspolitik noch das Einstimmigkeitsprinzip, wodurch Entscheidungen häufig zu lange dauern und zu unpräzise sind. Darüber hinaus wird vorgeschlagen, die Rolle des Europäischen Parlaments zu stärken. So soll es ein Initiativrecht für Gesetzgebungsprozesse erhalten, das bisher nur die Europäische Kommission innehat. Auch die Besetzung des Präsidentenamts der Kommission soll aus dem Parlament heraus erfolgen. Hierzu präsentiert jede europäische Partei vor der Wahl ihre transnationale, also europaweit einheitliche Kandidierendenliste mit einem klaren Spitzenkandidierenden für das Präsidentenamt.
Ökonomische und soziale Sicherheit - Europäische sozial-ökologische Marktwirtschaft
Zu einer sicheren Gesellschaft gehört eine aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik. So fordert Lars Klingbeil „einen wirtschaftlichen Aufbruch in Europa“. Ziel sei es, das „wirtschaftliche Potential Europas […] voll aus[zu]schöpfen“. Dazu schlägt die SPD eine Energieunion vor. Gerade in einer Zeit, in der Energie als militärisches und außenpolitisches Druckmittel genutzt wird, soll die EU mit einer koordinierten Energiepolitik die Verfügbarkeit sauberer Energie – also erneuerbare Energien und sauberer Wasserstoff – sicherstellen und somit das Fundament für den wirtschaftlichen Aufschwung bilden.
Außerdem braucht es eine europäische Industriepolitik mit sozialem Anstrich. In strategisch bedeutsamen Wirtschaftszweigen, der sauberen Energieerzeugung, der Elektromobilität sowie der Halbleiter- und Batterieproduktion, sollen gemeinsame europäische Investitionen und eine Reform des EU-Stabilitäts- und Wachstumspaktes für eine wettbewerbsfähige und resiliente Wirtschaft und für eine faire Verteilung innerhalb der EU sorgen. Für die in der ökologischen Transformation neu entstehenden und bereits bestehenden Arbeitsplätze sollen europaweit soziale Standards gelten. Hierzu erfolgte bereits mit der europäischen Mindestlohnrichtlinie von 2022, die die Tarifbindung in den Mitgliedstaaten auf 80% steigern soll, ein wichtiger Schritt. Weitere Mindeststandards für Arbeitsmärkte und Sozialpolitik, wie die Verstetigung der in der Pandemie temporär eingeführten europäischen Arbeitslosenversicherung SURE, sollen als zusätzliches Protokoll an die EU-Verträge angefügt und als Voraussetzung für die Vergabe von EU-Mitteln definiert werden.
Klassische Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Zwischen Sicherheits- und Verteidigungsunion
Zuletzt gehört natürlich die Abwesenheit von Krieg zu einer sicheren Gesellschaft. Daher fordert der SPD-Vorsitzende die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einer Sicherheitsunion. Was Klingbeil Sicherheitsunion nennt, titulieren andere als Verteidigungsunion. Denn im Kontext seiner Rede und unserer Zeit meint Klingbeil damit nicht die bereits 2016 beschlossene und zur gemeinsamen Bekämpfung von Terrorismus ausgerufene Sicherheitsunion, sondern die Stärkung der „Verteidigungsfähigkeit der Europäischen Union“. Dafür stellt er die Initiative des Bundeskanzlers für den Schutz des gemeinsamen Luftraums prominent heraus: die European Sky Shield Initiative, der mittlerweile 19 europäische Staaten angehören. Darüber hinaus zählt Klingbeil gemeinsame Rüstungsprojekte mit europäischen Partnern, wie das deutsch-französisch-spanische Future Combat Air System (FCAS), auf. Die EU spielt bei diesen Projekten jedoch keine Rolle, da es sich ausschließlich um zwischenstaatliche Kooperationen zur Stärkung der europäischen Säule der NATO handelt. Das Einzige, das Klingbeil nennt und im Rahmen der EU umzusetzen sei, ist die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes für Verteidigung. Von der angekündigten Sicherheitsunion ist diese Strukturreform des gemeinsamen Wirtschaftsraums aber weit entfernt.
Im Unterschied zu Klingbeil betont das Europawahlprogramm der SPD auch verteidigungspolitische Maßnahmen für die EU. Neben finanziell besser ausgestatteten europäischen Fördertöpfen zur gemeinsamen Beschaffung stellt es eine Europäische Armee als langfristiges Ziel in Aussicht. Auf dem Weg dahin solle über die Harmonisierung der Ausbildung von Soldaten hinaus auch die kontroverse Frage nach der Entscheidungshoheit über diese Armee geklärt werden. Hier bleibt das Wahlprogramm vage, indem es die Rolle des Europäischen Parlaments, des Hohen Beauftragten der EU für Außen- und Sicherheitspolitik stärken und einen Rat der Verteidigungsminister einberufen möchte.
Plädoyer für eine europäische Verteidigung
Laut Klingbeil scheinen weitere Schritte hin zu einer Europäischen Armee aktuell nicht die Priorität der Parteispitze zu sein, sondern vielmehr der Ausbau zwischenstaatlicher Kooperationen. Dies wäre eine vertane Chance und die SPD sollte die Idee der Europäischen Armee ernsthaft diskutieren.
Im Jahr 2022 schätzt die EU, dass die europäischen Länder etwa 240 Milliarden Euro für ihre Verteidigungsfähigkeit ausgeben haben und damit etwas weniger als China und dreimal so viel wie Russland. Dennoch ist Europa militärisch weiterhin abhängig von den USA, sowohl bei der Unterstützung der Ukraine, als auch bei der eigenen Abschreckung gegenüber Russland. Eine Europäische Armee, die die Vielzahl nationaler Armeen zusammenfasst, wäre hier effizienter. Sie wäre nicht nur eine robustere Abschreckung, sondern auch kostengünstiger. Aus sozialdemokratischer Perspektive wäre die Integration nationaler Armeen in eine Europäische Armee somit doch gelebte Abrüstungspolitik bei gleichzeitigem Gewinn an Sicherheit und Autonomie.
Ein pragmatischer Anknüpfungspunkt mag hierfür die 2022 beschlossene EU-Eingreiftruppe sein. Ab 2025 sollen 5 000 Soldaten für eine schnelle Antwort der EU auf Krisensituationen bereitstehen. Transnationale Armeestrukturen, eine wesentliche Grundlage für eine transnationalen Armee, werden dafür aufgebaut und erprobt. So richtig diese Entwicklung auch ist, krankt auch dieser neueste Vorstoß am strukturellen Problem der EU-Außen- und Sicherheitspolitik: der Einstimmigkeit im Rat. Daher erinnert dieser Text an den zu debattierenden Vorschlag, der ähnlich auch im Hamburger Grundsatzprogramm zu finden ist, dass diese neue Eingreiftruppe fortan vom Europäischen Parlament für bestimmte Aufgaben entsandt werden kann.
Fazit
Die Rede Klingbeils und das Europawahlprogramm der SPD versprechen viel und lassen auf eine neue „Leidenschaft für die europäische Idee“ in der deutschen Politik hoffen. Trotz der verbliebenen Unklarheit in der Verteidigungspolitik scheint die grundsätzliche Stoßrichtung der Sozialdemokratie für eine umfassende europäische Sicherheitsordnung klar zu sein: mehr Europa wagen!
Nun kommt es darauf an, diese Forderungen mutig als Vision zu kommunizieren sowie entsprechende Taten folgen zu lassen. Die Wahl zum Europäischen Parlament ist dabei wichtig, jedoch nicht entscheidend. Leider wissen wir, dass die EU nicht allein aus dem Europäischen Parlament heraus reformiert werden kann. Es sind die Nationalstaaten, die den Schlüssel zur tieferen Integration, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik, in der Hand halten. Wer die Europäische Union ändern will, muss dies auch aus dem Deutschen Bundestag oder dem Kanzleramt heraus tun. Es ist also wichtig, dass sich nicht nur die Europakandidierenden den weitreichenden Forderungen des Europawahlprogramms verpflichtet fühlen, sondern auch die Mitglieder des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung. Ansonsten bleiben die richtigen Forderungen des Europawahlprogrammes nur leere Worthülsen. Aussagen, die Forderungen seien auf Grund des Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat nicht umzusetzen, lassen sich mit dem Hinweis auf das gültige Grundsatzprogramm der SPD von 2007 entkräften. Dieses besagt, dass bei Blockadesituationen einzelner Länder die weitere europäische Integration im Zweifel in einer „Koalition der Willigen“ fortgeführt werden sollte. Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung sollte hier also stärker voran gehen und Weitsicht über den Washingtonplatz hinaus beweisen. Ansonsten ist unsere Sicherheit in Gefahr. Die Zeit drängt. Lasst uns mehr Europa zur Realität machen!
Jan Hillgruber ist Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung und einer der Sprecher des stipendiatischen Arbeitskreises Europa und Osteuropa.
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Dr. Dietmar MolthagenMolthadg(at)fes.de
Günther SchultzeSchultzg(at)fes.de
Zukunft der Demokratie
Dr. Dietmar MolthagenMolthagd(at)fes.de
Stefanie HankeStefanie.Hanke(at)fes.de