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51 Jahre nach dem Putsch trägt die Verfassung Chiles noch immer die Handschrift der Militärdiktatur. Ihr neoliberaler Kern wirkt bis heute nach. Mit welchen Mitteln und Partnern Chiles Präsident Boric dies ändern möchte, hat er in einer Grundsatzrede in der FES dargelegt.
von: Annette Lohmann
Am 11. September jährt sich zum 51. Mal der Militärputsch in Chile, mit dem der demokratisch gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende gewaltsam abgesetzt wurde. Und noch immer, 35 Jahre nach Ende der Militärdiktatur, hat Chile eine Verfassung aus dieser Zeit. Zwar wurde sie im Laufe der Jahre immer wieder geändert, aber ihr Kerngedanke gilt bis heute: neoliberale Grundprinzipien wie in den Bereichen Gesundheit, Bildung oder der Rente sind hier festgeschrieben. So ist zum Beispiel der Zugang zu höherer Bildung stark abhängig von individuellen, finanziellen Möglichkeiten oder der Aufnahme von hohen Krediten. Diese neoliberale Grundausrichtung hat zu großen sozialen Ungerechtigkeiten und zu vielen sozialen Frustrationen geführt, die sich 2019/2020 in einer sozialen Krise und teilweise sehr gewalttätigen Protesten entladen haben. Damals wurden die Preise für den öffentlichen Nahverkehr geringfügig erhöht – der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Der Leitspruch der Demonstrierenden lautete „Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre“. Damit wurde direkt Bezug genommen auf die seit der Diktatur fortbestehenden sozialen Ungerechtigkeiten. Der Versuch, die chilenische Verfassung in einem progressiven Sinne für mehr soziale Gerechtigkeit zu reformieren, scheiterte in den folgenden Jahren. In diesem Sinne ist bislang der Bruch mit der Diktatur nicht abschließend vollzogen.
Derzeit erlebt Chile eine Verschiebung in der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über den Militärputsch von 1973. Das Erstarken rechter Kräfte führt dazu, dass die Menschenrechtsverletzungen der Putschisten und die Diktatur erneut verharmlost werden, nachdem sie lange gesellschaftlich geächtet waren. Dabei geht es weiterhin um die entscheidende Frage nach einer sozialen und politischen Transformation Chiles, um mehr soziale Gerechtigkeit zu erreichen und um den fragilen gesellschaftlichen Frieden in Chile abzusichern.
Die Wahl von Präsident Gabriel Boric Ende 2021, dem jüngsten Präsidenten in der Geschichte Chiles, ist ein Ausdruck dieser Hoffnungen und der Forderung nach einer sozialen und politischen Transformation. Entsprechend ist seine Regierung mit einer Agenda für einen sozialen und ökologischen Wandel angetreten: Sie schlägt neue, ganzheitliche Lösungen für die Umsetzung einer ökologischen Transformation von Wirtschaft und Energie vor. Die Frage, wie diese Transformation vor dem Hintergrund der sozialen Proteste 2019/2020 gerecht gestaltet werden kann, spielt dabei eine zentrale Rolle.
Zu einer gerechten sozial-ökologischen Transformation gehört, so Boric in einer Rede bei der FES am 11. Juni 2024, auch eine gleichberechtigte Partnerschaft mit Deutschland, um in Zukunft bessere Bedingungen für ein neues Entwicklungsmodell in Chile zu schaffen. Das bisherige extraktivistische Entwicklungsmodell mit seinem Fokus auf Ausbeutung von Rohstoffen hat in eine Sackgasse geführt. Vielmehr gilt es, beispielsweise beim Lithiumabbau, den Schutz der Ökosysteme und die Rechte der lokalen Gemeinden in den Vordergrund zu stellen. Chile verfügt weltweit über eines der größten Vorkommen des für die energetische Transformation so wichtigen Rohstoffs Lithium. Die chilenische Lithiumstrategie sieht vor, dieses Vorkommen für eine progressive, grüne Wirtschaftspolitik zu nutzen, damit nicht nur einige wenige privatwirtschaftliche Akteure davon profitieren. Damit sollen die Voraussetzungen für mehr Umverteilung und Gleichheit geschaffen werden. Zwar hat Chile wenig zur globalen Erderwärmung beigetragen, ist aber von den Auswirkungen stark betroffen. Im Sinne einer Klimagerechtigkeit gilt es hier für den globalen Norden mehr Verantwortung zu übernehmen.
Für Chile ist Deutschland dabei ein wichtiger Partner, um eine neue Ära der Rohstoff- und Energiepartnerschaften einzuläuten. Chile hat sich auf den Weg hin zu einer Dekarbonisierung seiner Energieversorgung gemacht. Bereits heute stammen 41 Prozent der chilenischen Energie aus erneuerbaren Quellen. All dies gibt neue Impulse für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Chile und Deutschland, die auf ökologischer Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit beruht. Mit dieser Transformation kann dann auch das Versprechen von mehr sozialer Gerechtigkeit eingelöst werden und ein Schritt in Richtung politischer und gesellschaftlicher Erneuerung gegangen werden.
Zusammenfassung der Grundsatzrede des chilenischen Präsidenten Gabriel Boric vom 11. Juni 2024 in der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin.
Koordination Dr. Cäcilie Schildberg
Kontakt & Anmeldung Sergio Rakotozafygerechtigkeitswoche(at)fes.de
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