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Matthias Jobelius und Jochen Steinhilber

Demokratieförderung: Worauf es in Zukunft ankommt

Hongkong, Minsk, Washington - Demokratie weltweit auf dem Rückzug?

2007 wurde der 15. September von der Generalversammlung der Vereinten Nationen zum Internationalen Tag der Demokratie erklärt. An diesem Tag soll die Demokratie gefeiert, aber auch daran erinnert werden, dass sie noch nicht überall errungen wurde und vor allem demokratische Rechte stets geschützt und verteidigt werden müssen.

13 Jahre später scheinen demokratische Kräfte einen schweren Stand zu haben. In Hongkong ist die Meinungsfreiheit in Gefahr, der wichtigste Oppositionspolitiker Russlands wird mit einem chemischen Kampfstoff vergiftet, in Minsk lässt der Präsident die Demokratiebewegung niederknüppeln und in Washington rätselt die Öffentlichkeit, ob der Präsident bei einer Wahlniederlage auch tatsächlich das Weiße Haus räumen wird. Tatsächlich ist schon länger die Rede von einer »Krise der Demokratie« und Indizien für eine solche Krise sind allgegenwärtig: Einschränkungen von Freiheitsrechten oder eine Machtverschiebung zugunsten der Exekutive werden in einigen Ländern zum Dauerzustand. Junge und alte Demokratien sehen ihre Legitimität herausgefordert, da sie die in sie gesetzten Hoffnungen auf Teilhabe, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit nicht ausreichend zu erfüllen scheinen. Während demokratische Prozesse mehr und mehr auf effiziente Regierungstechniken und kluges Marketing verkürzt werden, scheint das emphatische Verständnis von Demokratie als Lebensform und Experimentierfeld für Formen des Zusammenlebens einen Bedeutungsverlust zu erfahren. Zahlreiche wissenschaftliche Beiträge über »defekte Demokratien«, »pluralistische Autokratien« oder »antagonistische Mehrheitsdemokratien« zeigen, dass eine Vielfalt sich ständig wandelnder hybrider politischer Systeme existiert. Zudem wird Demokratie heute, anders als noch in den 1990er Jahren, auch auf der Diskursebene herausgefordert. Immer offener erklären Staatenlenker und Intellektuelle den Liberalismus für tot. Und da viele antiliberale und antidemokratische Akteure zugleich nationalistisch eingestellt sind, erscheint die Krise der Demokratie auch als Krise des Multilateralismus.

Demokratieförderung muss sich vom Zeitgeist der 1990er Jahre verabschieden

Für die internationale Demokratieförderung, wie sie seit über einem halben Jahrhundert von internationalen Organisationen, westlichen Staaten, NGOs und politischen Stiftungen betrieben wird, ist dieses Lagebild eine Herausforderung, aber kein Grund zu verzagen. Auch zu Beginn der 2020er Jahre befinden sich menschliche Freiheitsrechte und Teilhabechancen noch immer auf einem historischen Hoch. Zudem sind die Menschen wachsamer geworden. Farbrevolutionen und Protestwellen machen noch keinen demokratischen Frühling. Aber sie zeigen, dass es im 21. Jahrhundert eine Hochrisikostrategie ist, auf autoritäre oder diktatorische Praktiken zu setzen. Die Liste politischer Anführer autoritärer Projekte, die sich im Exil oder im Gefängnis befinden, ist lang.

Doch auch wenn es für einen Abgesang auf die Demokratie keinen Anlass gibt, verlangen die Herausforderungen der Demokratie im 21. Jahrhundert eine engagierte, strategische und transformative Demokratieförderung. Im liberalen Zeitgeist der 1990er Jahre wurden viele Demokratieförderer unpolitischer, ahistorischer und technischer. Dies muss sich angesichts des weltweiten Drucks auf die Demokratie und des Erstarkens antiliberaler Kräfte ändern. Vier Punkte sind dabei zentral:

Demokratische Standards verteidigen

Geschichte lehrt: Demokratien entwickeln sich nicht linear, sie bleiben stets ein Experiment mit offenem Ausgang. Rückschritte der Demokratisierung markieren nicht sogleich autoritäre Zeitenwenden, bringen aber die Gefahr der De-Institutionalisierung. Demokratische Systeme können in Gefahr geraten, wenn es in kleinen Schritten zu einer Erosion demokratischer Spielregeln kommt. Nicht nur die Weiterentwicklung, auch der Erhalt der Demokratie ist eine Aufgabe, für die demokratische Kräfte und Demokratieförderer in die gesellschaftliche Auseinandersetzung gehen müssen.

It’s the economy, again.

Inhaltlich muss Demokratieförderung dem ebenso produktiven wie spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus mehr Aufmerksamkeit schenken. Es bedurfte in der Geschichte immer wieder demokratischer Korrektive und regulatorischer Interventionen, um den Kapitalismus davor zu bewahren, sich selbst die eigene Existenzgrundlage zu entziehen. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus in den letzten vier Jahrzehnten verschoben hat. Wachsende Ungleichheit und soziale Exklusion wirken auf Demokratien ebenso zerstörerisch wie eine von Profitmaximierung angetriebene, permanente Übernutzung natürlicher und menschlicher Ressourcen. Wirtschaft muss auch eine gemeinschaftliche Aufgabe sein, denn von Investitionen, Standortverlagerungen und Strukturbrüchen hängt das Schicksal ganzer Gesellschaften ab. Gerade bei Strukturbrüchen haben in der Vergangenheit viele erfahren, dass Veränderungen in der Wirtschaft meist ohne ihre Mitsprache und oft auch gegen ihre Interessen durchgesetzt wurden.  Mehr Demokratie wagen, heißt heute auch mehr Wirtschaftsdemokratie wagen, mit dem Ziel, ökonomische Macht zu verteilen.

One size doesn’t fit all

Unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte brauchen jeweils maßgeschneiderte Strategien. Wer als Demokratieförderer gesellschaftliche Auseinandersetzungen der Gegenwart verstehen und mitgestalten möchte, muss ihre sozialhistorische Textur kennen. Dafür bedarf es einer »eingebetteten« Demokratieförderung, die Resonanzbeziehungen zu progressiven Kräften und verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren aufbaut und pflegt. Eine solche Demokratieförderung erfordert einen langen Atem und strategischen Weitblick, und sie ist das Gegenteil von technokratischen Förderlogiken und regime change-Ansätzen.

Demokratie ist eine Story

Ohne ausstrahlungsfähige Narrative kam bislang noch keine erfolgreiche Demokratiebewegung aus. Aktuell fehlt, was für viele Demokratien lange eine ihr wichtigsten Produktivkräfte war: eine visionäre und zugleich wirklichkeitsschaffende Idee vom Zukünftigen. Diese Produktivkraft gilt es, wieder zum Leben zu erwecken. Weil »Demokratie« kein Selbstläufer mehr ist, wird von Demokratieförderern verlangt, ihre Vorstellungen von gesellschaftlichem Zusammenleben nicht nur diskursiv zu verteidigen, sondern sie auch zum Kern einer neuen Idee für eine wünschenswerte Zukunft zu machen. Es bedarf wieder einer überzeugenden und machtvollen Erzählung von Demokratie, einer Erzählung, die in der Praxis der Demokratieförderung mobilisierend und allianzbildend wirkt und mit der es gelingt, verschiedene gesellschaftliche Kräfte zu Reformkoalitionen zusammenzuschließen. Eine solche Erzählung muss die Leistungsfähigkeit von Demokratie im Angesicht beschleunigter gesellschaftlicher Veränderungen unterstreichen und zugleich eine normative Idee für die Gestaltung dieser Veränderungen vermitteln.

 

Matthias Jobelius leitet das Referat Mittel- und Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung. Im Anschluss an seine Arbeit im FES-Büro in Indien war er Landesvertreter der Stiftung in Rumänien und der Republik Moldau sowie in Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Er hat Politikwissenschaft und Development Studies in Berlin und London studiert.

Jochen Steinhilber leitet das Referat Globale Politik und Entwicklung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die internationale Entwicklungsagenda, sozial-ökologische Transformationsprozesse sowie Fragen der globalen Ökonomie. Zuvor leitete er das FES-Büro in Brasilien.

 

Jobelius, Matthias; Steinhilber, Jochen

Progressive Demokratieförderung

Was uns die Geschichte lehrt, wenn wir die Zukunft der Demokratie sichern wollen
Berlin, 2020

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