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Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wird in Deutschland über die jüngere sozialdemokratische Geschichte gestritten. Es wird behauptet, bereits die Entspannungspolitik vor 1989 sei über die Interessen der osteuropäischen Länder hinweggegangen und auf Russland ausgerichtet gewesen. Im „FEShistory Impuls“ gehen wir dieser Kritik nach und diskutieren die Unterschiede der historischen Entspannungspolitik und der deutschen Russlandpolitik seit 1991.
Eine Bedingung der Politik Brandts und Bahrs waren zwei sich feindlich gegenüberstehende Blöcke und das parallel vorhandene Potenzial globaler Vernichtung: Die Entspannungspolitik war die Kehrseite des Atomkriegs. Willy Brandt und die SPD nutzten den Spielraum, den ihnen die Supermächte gaben. Dieser war vorhanden, da die atomare Hochrüstung dermaßen viele Ressourcen verschlang, dass die USA und die UdSSR beide an Abrüstung interessiert waren.
Nicht die Suche nach Frieden war Ausgangspunkt der Entspannungspolitik. Im Zentrum standen Erleichterungen für die Menschen im anderen Teil Deutschlands und in einer langen Perspektive die deutsche Einheit. Die Neue Ostpolitik der Regierung Brandt zielte auf die DDR und das geteilte Berlin.
Von der Strategie des Friedens zum Wandel durch Annäherung
Die Neue Ostpolitik knüpfte an die von John F. Kennedy entwickelte „Strategie des Friedens“ an. Im Frühsommer 1963 formulierte der damalige US-Präsident in der American University das Ziel von Abrüstungsverhandlungen mit der UdSSR und sprach von einer friedlichen Koexistenz der Systeme. Die USA und die UdSSR müssten sich nicht lieben, so Kennedy, hätten aber ein tiefes Interesse, den Rüstungswettlauf zu beenden. Die Neuorientierung der USA 1963 folgte nach zwei Krisen, welche die Kriegsgefahr immens gesteigert hatten: Der Mauerbau in Berlin 1961 und die Kubakrise 1962. Einerseits verschlang die Rüstung Unsummen, andererseits war ein Atomkrieg ohne große eigene Verluste nicht mehr führbar. „Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter“ war die daraus folgende allgemeine Erkenntnis. Die Umorientierung auf die „Strategie des Friedens“ führte schließlich Ende 1969 zu den SALT-I-Gesprächen (Strategic Arms Limitation Talks) und im Mai 1972 zum ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty), in dem beide Seiten auf den Bau neuer Interkontinentalraketen und U-Boot-gestützter Atomwaffen verzichteten.
Egon Bahr stellte sein Konzept „Wandel durch Annäherung“ am 15. Juli 1963 auf einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie Tutzing vor – rund vier Wochen nach der Rede Kennedys. Bahr nahm ausdrücklich Bezug auf Kennedy, stellte aber die Teilung Deutschlands ins Zentrum seiner Überlegungen. Er kritisierte, dass die Bundesrepublik bislang freie Wahlen in der DDR (also eine demokratische DDR) als Voraussetzung für deutsch-deutsche Gespräche forderte. Eine solche Haltung ignoriere die Fakten. Die Niederschlagung der Aufstände in der DDR 1953 und Ungarn 1956 hätten gezeigt, dass ein Sturz des SED-Regimes aus dem Inneren nicht möglich und freie Wahlen vorerst utopisch seien. Wenn man den Status quo, also die deutsche Teilung, ändern wolle, so die Überlegung Egon Bahrs, müsse man ihn zunächst als Grundlage der eigenen Politik anerkennen. Jeder innere oder äußere Druck auf die Regime im Osten würde die Repression lediglich erhöhen.
„Wandel durch Annäherung“ meinte also, dass der „Westen“ glaubhaft auf die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der kommunistischen Staaten verzichtete (auf einen militärischen Konflikt sowieso). Die Annäherungspolitik sollte den kommunistischen Eliten Raum für vorsichtige innergesellschaftliche Reformen eröffnen. Es ginge, so Bahr, um „den schmalen Weg der Erleichterung für die Menschen in so homöopathischen Dosen, daß sich hierdurch nicht die Gefahr eines revolutionären Umschlags ergibt, die das sowjetische Eingreifen aus sowjetischen [sic] Interesse zwangsläufig auslösen würde“. Das Ziel dieser Politik der „Annäherung“ war also der „Wandel“ im kommunistischen Machtbereich – mit dem Ziel, den Menschen ihr Leben zu erleichtern. Schon vor dem Regierungswechsel 1969 gelangen Willy Brandt und der SPD mit den sogenannten Passierscheinabkommen ein wichtiger Erfolg. Erstmals zu Weihnachten 1963 konnten West-Berliner Bürger:innen nach dem Mauerbau wieder ihre Verwandten im Ostteil der Stadt besuchen.
Ostverträge
In den Verträgen mit der UdSSR und Polen (1970) brachte die Bundesrepublik die Anerkennung der europäischen und globalen Realitäten zu Papier. Sie erkannte die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens an, akzeptierte die Staatsgrenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR und verzichtete für alle Zukunft auf Gebietsansprüche im Osten. Im Prager Vertrag (1973) erklärte die Bundesrepublik ferner das Münchener Abkommen von 1938 für nichtig, das die Abtretung des Sudetengebiets an NS-Deutschland unter Gewaltandrohung festgelegt hatte. Im Gegenzug wurde mit dem Viermächteabkommen über Berlin (1971) der Status West-Berlins gesichert. Die Sowjetunion betrachtete West-Berlin als „eigenständige politische Einheit“ ohne besondere Bindung an die Bundesrepublik und hatte seit der ersten Blockade 1948 mehrfach mit dem Abschnüren der Stadt gedroht. Mit der Kontrolle der Transitautobahnen von der Bundesrepublik über DDR-Gebiet nach West-Berlin verfügte der Osten über ein starkes Druckmittel. Im Viermächteabkommen wurde nun festgehalten, dass West-Berlin zwar nicht zur Bundesrepublik gehöre und nicht von ihr regiert werde, aber besondere Beziehungen zu ihr unterhalte. Der Status der Stadt und insbesondere die Zugangswege nach West-Berlin waren fortan gesichert. Dies wurde im Grundlagenvertrag mit der DDR 1972 weiter spezifiziert.
Das Ziel der Ostverträge bestand somit zweifelsohne in der rechtssicheren Paraphierung von Menschenrechtsfragen. Die Verträge ermöglichten die Entwicklung vielfältiger zwischengesellschaftlicher Beziehungen. Gegenseitige Besuche wurden vereinfacht, insbesondere Reisen westdeutscher Bürger:innen und West-Berliner:innen in die DDR.
Wandel durch Handel
Wirtschaftliche Verflechtungen nahmen eine zentrale Rolle im Konzept des Wandels durch Annäherung ein. Die gesellschaftlichen Beziehungen sollten intensiviert und es sollte ein höherer Lebensstandard in der DDR erreicht werden, um dort Druck vom Regime zu nehmen. Friedenspolitik, Nichteinmischung und Wirtschaftsbeziehungen ergänzten sich. „Wandel durch Handel“ folgte einer politischen Logik und hatte in den 1960er-Jahren kaum etwas mit westdeutschen Wirtschaftsinteressen zu tun. Diese gab es zwar, insbesondere im „Ostausschuss der deutschen Wirtschaft“, allerdings hatten sie keinen Einfluss auf politische Entscheidungen. Das Erdgasröhrengeschäft von 1970, in dem die Bundesrepublik Großröhren an die UdSSR lieferte und dafür Erdgas bezog, stellte den Beginn sich intensivierender Handelsbeziehungen dar. Die Prämisse war jedoch, dass der Handel nicht die Sicherheit Westeuropas oder der USA infrage stellen durfte – dies formulierten Kennedy in der „Strategie des Friedens“ und auch Bahr im Konzept „Wandel durch Annäherung“. Bis weit in die 1980er- Jahre hinein galt in der Bundesrepublik die Maxime, sich nicht einseitig abhängig zu machen, insbesondere was Energielieferungen betraf.
Eine Grundlage der Annäherungspolitik der 1960er- und 1970er-Jahre war – auch dies wird in der aktuellen Debatte häufig ausgeblendet – das Bekenntnis Brandts und Bahrs zur NATO und zur europäischen Integration. Der Militäretat Westdeutschlands lag damals weit über dem heute von der NATO geforderten 2-Prozent-Ziel. Mit der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss von 1979 verschob sich die Diskussion leicht und nach dem Eintritt in die Opposition 1982 wuchs auch in der Sozialdemokratie die Kritik an den USA. Am grundsätzlichen Bekenntnis zum NATO-Bündnis änderte dies aber nichts.
Regierungswechsel 1982
Die Entspannungspolitik der 1960er- und 1970er- Jahre zielte auf Menschenrechtsfragen und insbesondere auf die damals sogenannten menschlichen Erleichterungen für Bürger:innen der DDR. Mit der Stabilisierung der Beziehungen zur DDR in den 1980er-Jahren einerseits und einer neuen Hochrüstungsphase zwischen den Supermächten andererseits verschoben sich jedoch die Perspektiven. Die Aufrechterhaltung des globalen Friedens gewann an Bedeutung, während der Wandel im Osten an Bedeutung verlor. Hinzu kam der Regierungswechsel 1982. In der SPD war man sich unsicher, ob Helmut Kohl die Entspannungspolitik fortsetzen würde, und man entwickelte nun Kontakte zu den kommunistischen Parteien Osteuropas. Besonders intensiv gestalteten sich die Gespräche mit der SED, die 1987 in dem gemeinsamen Grundsatzpapier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ mündeten. In dieser Situation scheute die SPD im Ergebnis den Kontakt zu oppositionellen Bewegungen wie der Charta 77 (CSSR), der Solidarnosc (Polen) oder der Friedens- und Umweltbewegung in der DDR. Aber hier gab es auch Ausnahmen: Die nordrheinwestfälische SPD übernahm nach Verhängung des Kriegsrechts Patenschaften für 250 verhaftete Solidarnosc-Mitglieder.
Entspannungspolitik bis 1989 und Russlandpolitik seit 1991
Die deutsche Russlandpolitik seit 1991 unterscheidet sich grundlegend von der historischen Entspannungspolitik Egon Bahrs und Willy Brandts Nach 1989/90 änderten sich die geopolitischen Rahmenbedingungen, aber auch die deutsche Ostpolitik. Russland wurde ab den 1990er-Jahren nicht mehr als weltpolitischer Gegner wahrgenommen, sondern als herkömmlicher kapitalistischer Staat, der allerdings in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht Nachholbedarf hatte. Parteiübergreifend wurde davon ausgegangen, dass die wirtschaftliche Modernisierung auch die Festigung der Demokratie in Russland mit sich bringen würde. Hierauf beruhte das Konzept der „Annäherung durch Verflechtung“ in den 2000er-Jahren. Diese Gleichsetzung von kapitalistischer Modernisierung und Demokratie führte dann dazu, Sicherheitsaspekte außen vor zu lassen, auch und insbesondere in Fragen der Energiesicherheit.
Auf östlicher Seite fand zudem ein gravierender Wandel statt, der in der Bundesrepublik nicht reflektiert wurde. Die Sowjetunion hatte ein ausdrückliches Interesse an der Modernisierung ihrer Wirtschaft und war auf den Handel mit dem Westen angewiesen. Ein wichtiges Ziel dieser Modernisierung war, den Lebensstandard der breiten Bevölkerung zu heben und die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus zu beweisen. Heute ist die russische Ökonomie dagegen eine Extraktionswirtschaft: Der Handel mit Erdöl und Erdgas dient der Bereicherung einer gesellschaftlichen Elite. Die Gewinne fließen überwiegend in wenige private Taschen. Zudem ist der Handel mit Rohstoffen nicht verknüpft mit kulturellem, wissenschaftlichem und technologischem Austausch. Die gesellschaftlichen Eliten Russlands haben kein umfassendes Interesse an der Modernisierung ihrer Ökonomie, was den Modernisierungsvorstellungen und dem Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie die Grundlage entzieht.
Fazit
Der SPD wird ein historisch zurückreichender Vorrang von Frieden und Stabilität gegenüber Menschenrechtsfragen vorgeworfen. Die historische Entspannungspolitik mit ihrem Ziel, die Lebensbedingungen in der DDR und im kommunistischen Machtbereich zu verbessern, zielte jedoch genau auf die Menschenrechtssituation. Zugrunde lag die Erfahrung niedergeschlagener Erhebungen in Osteuropa. Nach der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 war die Erinnerung hieran in den 1980er-Jahren noch recht lebendig. Jedoch wird heute zurecht kritisiert, dass in der SPD der 1980er-Jahre die Möglichkeit von tiefgreifenden Veränderungen in den kommunistischen Gesellschaften kaum noch gesehen wurde. Das konzeptionelle Denken der Neuen Ostpolitik war in den 1980er-Jahren erstarrt. Unabhängig davon fehlte es in der Bundesrepublik nach 1989 parteiübergreifend an einer Reflexion darüber, was sich in Russland gegenüber den Zeiten der Sowjetunion verändert hatte.
PD Dr. Stefan Müller leitet das Referat Public History im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Müller, Stefan
Stefan Müller. - Bonn : Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Juli 2023. - [4] Seiten = 1,1 MB, PDF-File. - (FEShistory : Impuls ; 1)Electronic ed.: Bonn : FES, 2023ISBN 978-3-98628-329-2
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