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Wie geht der UN-Sicherheitsrat mit den Entwicklungen in Afghanistan um? Das fragen wir Dr. Michael Bröning, Leiter des FES Büros in New York.
UN-Generalsekretär Antonio Guterres warnte noch am 13. August, dass die Lage in Afghanistan außer Kontrolle gerate. Der Vormarsch der Taliban fand schon während Monaten statt, der Fall der Regierung kam dennoch überraschend schnell. Am 30. August 2021 hat der UN-Sicherheitsrat nun mit der Verabschiedung einer Resolution reagiert. Wie kam es hierzu und inwiefern spiegelt sie die aktuelle Machtkonstellation im UN-Sicherheitsrat wider?
Die aktuell in Afghanistan zu beobachtende Unsicherheit über den künftigen Verlauf der Entwicklung spiegelt sich auch im Vorgehen des UN-Sicherheitsrats. Am 30. August verabschiedete das höchste Gremium der Vereinten Nationen die Resolution 2593, die die Taliban aufforderte, sich an eine Ende August gegebene Zusicherung zu halten, nach der allen Afghan_innen die freie Ausreise aus dem Land offensteht. Erarbeitet wurde die Resolution von Frankreich, den USA und Großbritannien, was sich an einigen Formulierungen zum Beispiel in Bezug auf Menschenrechte für Frauen, Kinder und Minderheiten ziemlich deutlich ablesen lässt. Bezeichnend ist hier aber zugleich, dass auch in dieser eher schmallippigen Resolution bestimmte Formulierungen abgeschwächt wurden, um insbesondere die Vetomächte China und Russland nicht zu verprellen.
Auch die Forderung nach einer Sicherheitszone rund um den Flughafen Kabul wurde am Ende aus der Resolution gestrichen, obwohl sich der französische Präsident Macron hierfür stark gemacht hatte. Wenn man Gläser gerne als halbvoll betrachtet, kann man natürlich sagen: Gut, dass sich der Sicherheitsrat überhaupt auf eine Stellungnahme einigen konnte. Denn der Plan ging auf: Die chinesischen und russischen Vertreter enthielten sich und machten so die Verabschiedung der Resolution mit 13 Ja-Stimmen möglich. Hinter dem Streit um Formulierungen aber steckt ein grundsätzlicher Konflikt um den Umgang mit den Taliban. Diese werden aus chinesischer und russischer Perspektive eben sehr viel bereitwilliger als legitime Akteure anerkannt als in der Perspektive der westlichen Sicherheitsratsmitglieder. Das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass China und Russland ihre Botschaften in Afghanistan beibehalten und damit ein ziemlich deutliches Signal für Business as Usual auch mit den Taliban signalisieren.
Welchen Einfluss kann diese Resolution auf die Flucht- und Migration aus Afghanistan haben?
Einen überschaubaren. Die Flucht- und Migrationsbewegungen aus Afghanistan werden sicher nicht in erster Linie am Hudson River in New York definiert. Entscheidend ist hier vor allem die Entwicklung vor Ort und die Frage, ob die Taliban sich an ihr Versprechen halten, von einer anti-westlichen Säuberungswelle abzusehen. Für die Frage, ob die Menschen im Land bleiben werden, dürfte hier insbesondere ausschlaggeben sein, ob UN-Hilfsprogramme ihre Arbeit zeitnah und vollumfänglich wieder aufnehmen können – nicht zuletzt das Mandat für die Unterstützungsmission der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) ist hier von Bedeutung. Aktuell schwingt das Pendel in Richtung weitere Unterstützung. In New York hoffen Beobachtende, dass das am 17. September auslaufende UNAMA Mandat nicht nur erneuert, sondern sogar ausgebaut werden könnte. Zu groß ist die Angst der internationalen Gemeinschaft insgesamt, einer humanitären Kernschmelze in Afghanistan tatenlos zuzusehen.
Neben dem Sicherheitsrat arbeiten auch zahlreiche UN-Programme (u.a. das Kinderhilfswerk, das Welternährungsprogramm, die Weltgesundheitsorganisation und das Flüchtlingshilfswerk) zu oder in Afghanistan. Am 5. September war nun der UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten, Michael Griffith, in Kabul, um mit den Taliban über die Fortsetzung und Wiederaufnahme humanitärer Hilfe für die afghanische Bevölkerung zu verhandeln. Was wollen und was können die Vereinten Nationen in einem Afghanistan unter der Taliban in Zukunft leisten?
Es ist deutlich spürbar, dass das UN-System nun darauf drängt, die heruntergefahrenen Aktivitäten im Land wieder hochzufahren – natürlich auf Druck der Mitgliedstaaten. Zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Taliban und vor dem Zusammenbruch der gewählten afghanischen Regierung hatten die Vereinten Nationen rund 300 internationale und mehr als 3.000 lokale Mitarbeiter_innen im Land. Die humanitäre Lage ist bekanntlich seit Jahren schwierig, nun droht sie ins Katastrophale abzurutschen. Aktuelle Zahlen der Vereinten Nationen belegen, dass rund die Hälfte der afghanischen Bevölkerung, immerhin 18 Millionen Menschen, aktuell von humanitärer Hilfe abhängig sind. Ein Drittel der Bevölkerung ist ganz konkret von Hunger bedroht, mehr als die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren könnten in den kommenden an Mangelernährung leiden.
Klar also ist: Es ist unglaublich viel zu tun. Doch die Schwierigkeiten sind vielschichtig. Zunächst ist bislang etwa völlig unklar, ob die Vereinten Nationen unter den Taliban vernünftig arbeiten können, ohne ihre Mitarbeiter_innen in lebensgefährliche Situationen zu bringen. Generalsekretär Guterres spricht in einem internen Memo vom 31. August von dem „schrecklichen Dilemma“, demzufolge die UN ihr Engagement im Land fortführen wollen, aber zugleich in der Verantwortung stehen, die Sicherheit ihrer Beschäftigten garantieren zu müssen. Hier geht das Problem durchaus auch über die Taliban hinaus. Ein aktueller Bericht des UN-Generalsekretärs verweist darauf, dass zwischen Mai und August alleine 88 militärische und terroristische Angriffe vom Islamischen Staat verübt wurden – ganz zu schweigen von dem schrecklichen Anschlag auf den Flughafen Kabul vom 26. August. Nicht gerade eine optimale Ausgangslage, um es einmal vorsichtig zu formulieren.
Doch auch politisch ist die Frage komplex, inwiefern die Vereinten Nationen künftig nun eine Art State-Building im Lande übernehmen können und sollen. Einerseits erscheint das altarnativlos. Doch andererseits ist es eben nicht gerade unproblematisch, wenn die Staatengemeinschaft einem Regime eine langfristige Rettungsleine zuwirft, das die Menschrechte stets mit Füßen getreten hat. Nicht von ungefähr ist eine ganze Reihe von hochrangigen Taliban-Führen ausgerechnet vom UN-Sicherheitsrat mit persönlichen Sanktionen belegt worden.
Wie geht man jetzt damit um? Bislang haben die Vereinigten Staaten hier die Devise ausgegeben, zwischen humanitärer Unterstützung für das afghanische Volk und bilateraler Zusammenarbeit mit den Taliban zu unterscheiden. Aber ob dieser Spagat langfristig durchzuhalten ist, ist ebenfalls unklar. Zwar ist dieses Dilemma auch in anderen Konfliktregionen zu beobachten, etwa in Bezug auf die Arbeit von UN-Organisationen im von der Hamas kontrollierten Gazastreifen, aber das Grunddilemma, dass man eben nass wird, wenn man sich wäscht, ist damit noch nicht aus der Welt.
Humanitäre Hilfe ist aber nicht nur in Afghanistan notwendig. Gerade aus europäischer Perspektive wird immer wieder die Notwendigkeit thematisiert, dass Flüchtende aus Afghanistan in den Anrainerstaaten aufgenommen werden sollen. Wie gut sehen Sie die UN aufgestellt, um in Pakistan und in Iran ausreichend Auffangstrukturen für geflohene Afghan_innen zur Verfügung zu stellen?
Der Finanzbedarf für humanitäre Hilfe ist enorm, aber die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, für Afghanistan allzu tief ins Portmonee zu greifen, ist aktuell nicht besonders ausgeprägt. Das United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA), das finanzielle Unterstützung für humanitäre Hilfe koordiniert, appellierte kürzlich an die Mitgliedsstaaten, dass dringend 1,3 Milliarden US-Dollar benötigt werden, um die humanitären Erfordernisse in Afghanistan fürs Erste zu stemmen. Bisher sind aber noch nicht einmal 40 Prozent der erforderlichen Summe zusammengekommen. Dabei wäre ein Zögern gerade in Bezug auf die Unterstützung von Auffangmöglichkeiten in Pakistan und Iran ein Meisterstück politischer Kurzsichtigkeit. Den massiven Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten im Jahr 2015 ging schließlich eine jahrelange strukturelle Unterfinanzierung der UN-Hilfsprogramme in Jordanien, dem Libanon und der Türkei voraus, die von Expert_innen so lautstark beklagt wurde, wie von der Politik manch eines westlichen Landes ignoriert.
Die UN befürworten Resettlement, also die dauerhafte Ansiedlung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge in einem für sie sicheren Drittstaat. Doch seit Jahren sinkt die Aufnahmebereitschaft in den dafür traditionell in Frage kommenden Ländern. Welchen Stellenwert messen Sie diesem Ansatz bei?
Die Erfahrungen in westlichen Demokratien belegen, dass die Akzeptanz für die Übernahme langfristiger humanitärer Verantwortung auch im Rahmen von Fluchtbewegungen ganz wesentlich davon abhängt, ob diese Bewegungen als unkontrollierbare Naturgewalt oder als regelgeleitete und kontrollierte Entwicklung wahrgenommen werden. Resettlement-Programme in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und hier insbesondere mit dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlingshilfe (UNHCR) sind deshalb sicherlich eine wichtige Antwort bei der Unterstützung besonders schutzbedürftiger Personen.
Ab dem 13. September tagt in Genf der UN-Menschenrechtsrat. Am 21. September beginnt dann in New York die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Welchen Einfluss der menschenrechtlichen Diskussionen sind in den Debatten in New York in Bezug auf Afghanistan zu erwarten?
Auch wenn der Termin der UN-Generalversammlung immer näher rückt, ist bislang noch unklar, in welcher Form die in diesem Jahr angesetzte Versammlung ablaufen wird. Einige relevante Regierungschefs haben ihre Anreise nach New York angekündigt, so etwa der britische Premierminister Boris Johnson, doch noch ist nicht einmal wirklich sicher, ob US-Präsident Biden der Versammlung in New York persönlich beiwohnen wird. Dass sich die Eröffnung der UN-Generalversammlung am 21. September durch Statements der Staats- und Regierungschefs dezidiert mit der Menschenrechtslage in Afghanistan befassen wird, ist aber abgesehen von Einzelstatements wohl eher nicht zu erwarten. Insofern dürfte der Einfluss sehr begrenzt bleiben. Für diesen Aspekt der Debatte dürfte – ebenso wie für die Mobilisierung der Hilfsgelder – das von UN-Generalsekretär Guterres einberufene High Level Ministerial Humanitarian Meeting zur Situation in Afghanistan entscheidender sein, das für den 13. September vorgesehen ist. Das Treffen wird vom Generalsekretär eröffnet und findet in einem Hybrid-Format statt. Delegationen vor Ort sind auf vier Personen beschränkt. Für die Beratungen vorgesehen sind insgesamt vier Stunden. Zu hoffen ist, dass nach den vier Stunden konkrete Ergebnisse und Zusagen vorliegen.
Wir danken für das Gespräch!
Michael Bröning
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York. Zuvor war er Leiter des Referats Internationale Politikanalyse der FES in Berlin. Er kommentiert deutsche und europäische Politik regelmäßig für Foreign Affairs, Politico, Project Syndicate und andere. 2013 war er Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut der FU-Berlin und im Frühjahr 2018 John F. Kennedy Memorial Fellow an der Universität Harvard. Sein jüngstes BuchStadt, Land, Volk: Ein Streitgespräch über die Zukunft der Demokratie mit Michael Wolffsohnund Reinhard Bingener erschien im April 2019 bei edition chrismon.
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