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Im Vorfeld des Egon Bahr Symposiums am 23.09.2019 sprachen wir mit Abrüstungsexperten Götz Neuneck darüber, was das Ende des INF-Vertrags bedeutet.
Bild: US-Botschafterin Malloy bei der Vernichtung der letzten sowjetischen Kurzstreckenraketen unter dem INF-Vertrag im Frühjahr 1990 von U.S. Department of State lizenziert unter Public Domain
Bild: Götz Neuneck von Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg
Im Herbst 2018 kündigte die USA einen der bedeutendsten Rüstungskontrollverträge auf – den INF-Vertrag. Mit ihm hatten die Sowjetunion und die USA Ende der 1980er Jahre vereinbart, alle landgestützten nuklearen Flugkörper mit kürzerer und mittlerer Reichweite zu vernichten. Das offizielle Ende des Vertrages im August 2019 löste gerade bei den europäischen Mitgliedsstaaten der NATO Bestürzung aus. Denn nun ist es wieder möglich, dass die USA und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, speziell Russland, mit atomaren Mittelstreckenraketen aufrüsten. Diese Waffen können ganz Europa in Schutt und Asche legen.
Kehrt die atomare Bedrohung also nach Europa zurück, wie ein ZEIT-Journalist kommentierte? Und wie kann Europa ein nukleares Wettrüsten verhindern? Diesen Fragen widmet sich das Egon Bahr Symposium am 23.09.2019 in Berlin. Mit Prof. Dr. Götz Neuneck, einem unserer Gäste, sprachen wir im Vorfeld darüber, wie er den Abschluss und das Ende des INF-Vertrags erlebte und welche Folgen und Handlungsoptionen er für Europa und uns Europäer_innen sieht.
Neuneck ist stellvertretender Wissenschaftliche Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg, langjähriger Experte auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle und Abrüstung und Mitglied des Willy-Brandt-Kreises. Der promovierte Mathematiker steht unter anderem für die Verbindung von Naturwissenschaften und Politik: Ein ausgeprägtes physikalisches Verständnis sei notwendig, um Waffensysteme und ihre Konsequenzen zu überblicken.
Götz Neuneck: Das war für viele Menschen eine große Erleichterung. Es verschwanden 2.696 Mittelstreckenraketen und damit ca. 4.000 nukleare Sprengköpfe, die bei einem Atomkrieg Europa in ganz kurzer Zeit zerstört hätten. Die größte Abrüstungswelle nach Ende des Zweiten Weltkrieges folgte: Kooperationen wurden vereinbart und weitere wichtige Rüstungskontrollverträge geschlossen und umgesetzt, darunter der Wiener KSE-Vertrag und die START-Verträge. Diese Ereignisse waren mit vielen Hoffnungen auf ein gemeinsames Haus Europa verbunden. Die sehr gefährliche Phase des Kalten Krieges war zu Ende und alle Staaten in Europa waren erleichtert.
Von dieser Entwicklung beflügelt haben wir uns am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) weiter mit neuen Rüstungskontrollinitiativen und der europäischen Sicherheitsgemeinschaft beschäftigt. Allerdings war ein Wiederaufleben des Wettrüstens nie vom Tisch: Der INF-Vertrag hat zwar zunächst Stabilität und Berechenbarkeit gebracht, aber weil er sich nur auf bestimmte Arten von Atomwaffen bezog, war klar, dass er durch die technologische Entwicklung unterlaufen werden wird.
Natürlich hätte der INF-Vertrag, der über 30 Jahre funktionierte und weitgehend eingehalten wurde, nachgebessert und am besten universalisiert werden müssen – wie alle Verträge. Aber daran hatten die beiden Supermächte USA und Russland kein ernsthaftes Interesse. Dass sie jetzt auf die veränderte Sicherheitslage verweisen, ist so richtig wie heuchlerisch, wenn sie nicht entsprechend handeln. Russland und die USA verfügen über 92 Prozent aller Nuklearwaffen. Beide haben umfassende Aufrüstungsprogramme beschlossen und riskieren damit ein neues Wettrüsten, ohne ernsthaft Rüstungskontrolle oder gar Abrüstung zu betreiben. Erstmals seit 50 Jahren wird nicht mehr über Abrüstung verhandelt, sondern es wird stattdessen der Bau neuer nuklearer Waffensysteme und Dual-Use-Träger beschlossen. Gleichzeitig betont man, kein neues Wettrüsten zu wollen.
Europa ist sicher der Verlierer nach der Kündigung der INF-Verträge, gerade wenn es zu Neustationierungen von nuklearfähigen Mittelstreckenraketen kommen sollte. Immerhin haben die USA und Russland erklärt, sie wollten nur stationieren, wenn die andere Seite dies auch tue. Die Gefahr einer Stationierungseigendynamik ist dennoch sehr groß.
Jetzt gilt es, „eine politische Brandmauer zu errichten, durch die neue russische und amerikanische Atomwaffenstationierungen in Europa verhindert werden“, wie die Studiengruppe der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler in ihrer Erklärung fordert. Konkret könnten sowohl die NATO als auch Russland eine Nichtstationierungserklärung oder einen Ersteinsatzverzicht beschließen. Jedoch fehlen dazu die entsprechenden Verhandlungen oder Rüstungskontrollvorschläge der USA, der NATO oder Russlands, auch wenn viele Expertenvorschläge vorliegen.
Die europäischen Regierungen müssen einheitlich und energisch einem neuen Wettrüsten und Neustationierungen in und um Europa entgegentreten. Von wichtigen Regierungschefs wie Angela Merkel und Emmanuel Macron habe ich bisher noch kein klares Statement zur Kündigung des INF-Vertrages gehört. Ich bin aber sicher, dass darüber hinter verschlossenen Türen gesprochen wird. Außenminister Maas reiste in dieser Sache nach Washington D.C, Moskau und Peking und gründet neue Initiativen und Arbeitskreise. Das ist zwar ein guter Ansatz, scheint aber reichlich spät zu kommen und könnte nutzlos verpuffen.
Ja, so scheint es. Die „Fridays for Future“-Bewegung hat den Klimawandel aufgegriffen, aber nicht die vielleicht noch größere Bedrohung des Planeten – den Einsatz von Atomwaffen: mit den heutigen Nuklearstreitkräften kann die ganze Erde in wenigen Stunden zerstört werden. Anscheinend hoffen alle, dass die Selbstabschreckung funktioniert und es zu keinem Atomkrieg kommt.
Akute Konflikte wie im Iran oder in Nordkorea oder die Zukunft der Rüstungskontrolle in einer Post-INF-Welt sind vielen zu komplex. Däumchen drücken alleine hilft aber nicht. Viele Experten verweisen darauf, dass die Situation heute gefährlicher ist als zu Zeiten des Kalten Krieges. Es gibt mehr Akteure, mehr Konflikte und neue Technologien wie z.B. die drohende Weltraumbewaffnung oder neue konventionelle Aufrüstung.
In der Zeit von Fake News und alternativen Fakten ist es wichtig, sich bei seriösen Zeitschriften gründlich zu informieren und sich wieder für Friedenspolitik und Abrüstung engagieren. Dazu gehört auch, die Parteien und Politiker_innen zu unterstützen, die etwas für Rüstungskontrolle und Abrüstung tun, und sich in der Zivilgesellschaft einzubringen, die sich um Friedens-, Außen- und Europapolitik kümmert. Sehr engagiert sind Bewegungen wie die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), die 2017 den Friedensnobelpreis bekommen hat, die Initiative „Abrüsten jetzt!“ oder die Pugwash-Bewegung, in der sich Wissenschaftler_innen seit 1957 um Konfliktprävention und eine atomwaffenfreie Welt bemühen.
Aber Forderungen nach Abrüstung alleine werden auch nicht reichen. Stabile Sicherheitsstrukturen, Berechenbarkeit durch Verträge und kooperative Rüstungsbeschränkungen müssen geplant, erarbeitet und eben umgesetzt werden. Aber keine Seite scheint dazu im Augenblick wirklich bereit.
Das Interview führten Friederike Theile und Daniela Turß.
Weitere Informationen und Anmeldung zum Egon Bahr Symposium am 23.09.2019 in Berlin zum Thema "Das Ende des INF-Vertrages. Die Folgen für Europa" unter: www.fes.de/veranstaltung/veranstaltung/detail/237085
Weitere Informationen zur friedens- und sicherheitspolitischen Arbeit der FES finden Sie unter:www.fes.de/themenportal-die-welt-gerecht-gestalten/frieden-und-sicherheit
Koordination Dr. Cäcilie Schildberg
Kontakt & Anmeldung Sergio Rakotozafygerechtigkeitswoche(at)fes.de
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