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Jugend und Politik

Die Flüchtlingspolitik der EU in der neuen Legislaturperiode

Migrationsforscher Dr. Marcus Engler berichtet im Interview welche Änderungen in der europäischen Flüchtlingspolitik zu erwarten sind.

Bild: von FES Budapest

FES: Herr Dr. Engler, nach zähen Verhandlungen steht nun die neue Kommission fest und wird ihre Arbeit voraussichtlich im Dezember aufnehmen. Wie würden Sie die Ausgangssituation der europäischen Flüchtlingspolitik zu Beginn der neuen Legislaturperiode beschreiben?

Dr. Marcus Engler: Die politischen Entscheidungsträger_innen auf der EU-Ebene stehen vor enormen Herausforderungen sowohl innerhalb Europas, aber vor allem darüber hinaus. Der heftige Konflikt zwischen den Mitgliedsstaaten über den Umgang mit Geflüchteten und Migrant_innen, der die EU-Institutionen in den letzten Jahren an den Rand ihrer Arbeitsfähigkeit gebracht hat, ist weiterhin ungelöst. Wenn er in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit etwas weniger intensiv ausgetragen wurde, dann lag es daran, dass der Versuch, in der Frage der Verantwortungsteilung eine belastbare Neuregelung zu erzielen, auf Eis gelegt wurde. Weitere Herausforderungen sind die trotz eines gemeinsamen Rechtsrahmens weiterhin erheblichen Unterschiede bei den Chancen auf Anerkennung als Schutzberechtigter zwischen den Staaten. Gleiches gilt auch für die Aufnahmebedingungen und den Zugang zu Sprachkursen und Integrationsmaß­nahmen.

Weiterhin ungelöst ist auch die Frage des geregelten und sicheren Zugangs für Schutzsuchende nach Europa. Trotz aller Bekenntnisse hat sich hier in Europa kaum etwas getan. Dabei wäre ein stärkeres Engagement der Europäer_innen auch wegen des sukzessiven Rückzugs der USA unter Donald Trump umso wichtiger. Denn weltweit steigt die Zahl der Schutzsuchenden weiter an. Auch die Zahl der besonders schutzbedürftigen Geflüchteten mit Resettlement-Bedarf wächst beständig (2020: 1,44 Mio.). Millionen Geflüchtetee leben in immer länger andauernden Fluchtsituationen. Die Hauptaufnahmestaaten – u.a. die Türkei, Pakistan, Uganda – stehen vor enormen Herausforderungen, die sie allein nicht bewältigen können. Werden diese Länder nicht stärker unterstützt, – sowohl durch ausreichende finanzielle Hilfen, aber auch durch die Umsiedlung von Personen – droht ein Kollaps des globalen Flüchtlingsregimes. Dies hätte dramatische Folgen für die Schutzsuchenden, aber auch für die internationale Ordnung. Daran kann Europa keinerlei Interesse haben.

Welche Entwicklungen in der Flüchtlingspolitik halten Sie in den nächsten Jahren für wahrscheinlich? Wo wird es Fortschritte geben und wo müssen wir mit einem weiteren Stillstand rechnen?

Nach den Wahlen im Mai haben rechte Parteien im Europäischen Parlament an Einfluss gewonnen. Zudem sind die Mehrheitsverhältnisse instabiler geworden. Vor diesem Hintergrund ist es ungewiss, ob das Parlament weiterhin seine traditionelle Rolle eines kritischen und stärker auf Menschenrechte achtenden Gegengewichts einnehmen kann – besonders gegenüber dem Rat, der mehr auf Sicherheit und Kontrolle fokussiert ist. Im Rat haben rechte und konservative Regierungen weiterhin ein Übergewicht.

Vor diesem Hintergrund erwarte ich generell eine Fortsetzung des restriktiven Kurses der vergangenen Jahre, insbesondere im Hinblick auf die externe Dimension der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Es deutet derzeit nichts daraufhin, dass der Kurs einer vehementen Abschottung der Außengrenzen und der Kooperation mit autoritären Transitstaaten mit dem Ziel Geflüchtete und Migrant_innen von Europa fernzuhalten, überdacht wird. Auch die vielfach kritisierte Instrumentalisierung der Entwicklungspolitik zur Steigerung der Kooperationsbereitschaft in der Migrationspolitik findet sich in den bisher vorliegenden Dokumenten prominent wieder.

Im Hinblick auf die unter der Juncker-Kommission gescheiterte Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS) – also die innereuropäische Dimension der Flüchtlingspolitik – könnte es hingegen Bewegung geben. Knackpunkt bleibt weiterhin die Dublin-Reform. Ein verbindlicher Verteilmechanismus für Asylbe­werber_innen für alle EU-Mitgliedstaaten ist nicht sehr wahrscheinlich, auch wenn einige Regierungen – zuletzt etwa Italien und Frankreich – weiterhin da­rauf beharren und eine erneute Eskalation des Konfliktes daher nicht ausgeschlossen werden kann. Mehr Aussicht auf Erfolg haben partielle und temporäre Lösungen, an denen sich einige Staaten beteiligen. Zudem scheint es kein Verständnis dafür zu ge­ben, dass die Zielstaatspräferenzen von Schutz­suchenden berücksichtigt werden müssen, wenn ein menschenrechtskonformes, ressourceneffizi­entes und integrationsförderliches System imple­mentiert werden soll. Eine Politik, die dies nicht berücksichtigt und nur mit Zwangsmaßnahmen und Sanktionen agiert, ist nicht nachhaltig. Wahr­scheinlich scheint auch eine weitere Stärkung der EU-Asylbehörde (EASO). Die Annahme des GEAS-Paketes könnten im besten Fall dazu füh­ren, dass sich die Unterschiede bei den Anerken­nungschancen und den Aufnahmebedingungen etwas reduzieren. Insgesamt scheint es unwahrscheinlich, dass es zu einem langfristig stabilen und menschenrechtskonformen Arrangement in der europäischen Flüchtlingspolitik kommen wird.

Deutschland, Frankreich, Italien und Malta haben sich im September auf einen freiwilligen Verteilungsmechanismus in der Seenotrettung geeinigt. Inwiefern ist diese Einigung vielleicht ein Anstoß für weitere europäische Zusammenarbeit? Oder ist der Vorstoß womöglich eher sinnbildlich für die Uneinigkeit der europäischen Länder in Bezug auf das Thema Migration?

Die Einigung ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber wirklich nur ein kleiner. Es bedeutet, dass aus Seenot gerettete Menschen und ihre Retter_innen nicht mehr wochenlang und bis zum Zusammenbruch auf dem Meer ausharren müssen. Die Regelung betrifft jedoch nur die zentrale Mittelmeerroute, auf der seit Mitte 2017 nur noch relativ wenige Menschen nach Europa gelangen. Eine Umverteilung müsste aber eine viel größere Zahlen von Menschen einbeziehen. Insbesondere müssten dringend Flüchtlinge und Asylsuchende aus Griechenland auf andere Staaten umverteilt werden. Zudem halten die EU-Staaten trotzt aller Appelle von NGOs und UN-Organisationen weiterhin an der Zusammenarbeit mit Libyen fest. Noch immer werden Menschen nach Libyen zurückgebracht und müssen dort barbarische Zustände ertragen. Und eine von Staaten organisierte europäische Seenotrettung gibt es weiterhin nicht, obwohl sich viele Städte zur Aufnahme dieser Menschen explizit bereit erklärt haben. Die vereinbarte Lösung ist auch deshalb nur ein kleiner Baustein, weil Menschen weiterhin versuchen über das Meer nach Europa zu gelangen, da es keine anderen, sicheren Wege für sie gibt. Hier müsste dringend nachgebessert werden. Schade und bezeichnend ist ferner, dass sich trotz der begrenzten Zahlen nur sehr wenige Staaten an der Aufnahme beteiligen wollen. Dies stimmt mich nicht gerade optimistisch, was die geplante Dublin-Reform angeht. Vor diesem Hintergrund sehe ich auch die jüngsten Vorschläge aus dem Bundesinnenministerium, die u. a. darauf abzielen, eine Vorprüfung für Asylsuchende an den EU-Außengrenzen durchzuführen. Dabei scheint mir die zentrale Idee auch darin zu bestehen, möglichst viele Menschen gar nicht erst in die EU hereinzulassen und die Verantwortung auf andere Staaten zu verschieben.

Nachdem es nun viel Wirbel um den Titel des Portfolios von Margaritis Schinas, der künftig für das Thema Migration zuständig sein wird, gab: Wie ordnen Sie die kürzlich Umbenennung des Portfolios von "Schützen, was Europa ausmacht" zu "Fördern, was Europa ausmacht" ein? Was erwarten Sie von Margaritis Schinas?

Die Umbenennung ist ein kleines positives Zeichen. Die Verantwortlichen sind hier auf die Kritik von zahlreichen Akteuren eingegangen, der zufolge „Schützen, was Europa ausmacht“ einen starken Fokus auf Abgrenzung nach außen legt und das Versicherheitlichungsnarrativ bedient. Ich sehe darin jedoch eher eine kosmetische Anpassung und keine inhaltliche Korrektur. Der designierte Kommissar Schinas scheint genau diese Sicht von Migration als Bedrohung für die EU zu teilen, wohl auch vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass die Menschen in Griechenland sich in der Migrationsfrage allein gelassen fühlen und die neue konservative Regierungen hier vor allem mit einem restriktiven Ansatz reagiert. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie genau die Arbeitsteilung mit der ebenso für das Thema Migration verantwortlichen schwedischen Sozialdemokratin und künftigen EU-Innenkommissarin Ylva Johansson aussehen wird. Sie stellt sicher ein moderateres Gegengenwicht zu Schinas dar. Letztlich wird es aber nicht nur auf die beiden direkt zuständigen Kommissare ankommen, sondern auf alle Institutionen und insbesondere die Zivilgesellschaft. Denn eine Fortsetzung der bisherigen Politik ist mit erheblichen Risiken verbunden, die häufig ausgeblendet werden und die ich in der FES-Publikation "Die Flüchtlingspolitik der EU in der neuen Legislaturperiode" diskutiere. Als nahezu alleiniger Maßstab für eine erfolgreiche Migrationspolitik wird regelmäßig der zahlenmäßige Rückgang der auf irregulären Wegen neu ankommenden Flüchtenden und Migrant_innen angeführt. Dabei geraten andere Ziele der europäischen (Migrations-)Politik, wie z. B. die Wahrung von Menschenrechten, die Stabilisierung des Flüchtlingsregimes, die Initiierung von Entwicklungsprozessen und die Stärkung von Demokratie in den Hintergrund.

Grundlage aller weiteren Diskussionen muss eine Veränderung des Narrativs sein. In den letzten Jahren konnten Rechte und rechtspopulistische Kräfte ihr Narrativ, in dem Flucht und Migration primär als Bedrohung dargestellt werden, in der Öffentlichkeit und bei Wahlen erfolgreich durchsetzen. Progressivere politische Kräfte agierten häufig zu zaghaft. Hier gibt es dringenden Handlungsbedarf.

 

Engler, Marcus

Die Flüchtlingspolitik der EU in der neuen Legislaturperiode

Was ist zu erwarten?
Budapest, 2019

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