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„Wir brauchen eine intelligente Steuerung der Migration aus Drittstaaten“

Wie ist der aktuelle Stand zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz zu bewerten? Darüber sprachen wir mit Prof. Dr. Herbert Brücker.

Bild: Herbert Brücker auf dem Podium der Fachveranstaltung der FES und des DGB zum Thema Fachkräfteeinwanderungsgesetz am 10. Oktober 2018 in Berlin von Mark Bollhorst


Prof. Dr. Herbert Brücker ist Direktor des Berliner Instituts für empirische Migrations- und Integrationsforschung (BIM) und Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg.
 

FES: Herr Prof. Brücker, Migration und Arbeitsmarktintegration sind Ihre Forschungsschwerpunkte. Warum braucht Deutschland Ihrer Meinung nach ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz?

Herbert Brücker: Deutschland ist in einer kritischen Situation. Der demografische Wandel verändert unsere Bevölkerungsstruktur stärker als in den meisten anderen OECD Staaten. Ohne Wanderungen würde bis 2060 das Erwerbspersonenpotenzial um rund 40 Prozent sinken. Um es konstant zu halten, benötigen wir eine Nettozuwanderung von mindestens 400.000 Personen pro Jahr, das entspricht 800.000 bis 1 Millionen Zuzügen.

Aber auch dann würde der Altersquotient, also das Verhältnis von nicht mehr Erwerbstätigen zu Erwerbstätigen, immer noch um 60 Prozent steigen. Migration kann diese Trends nicht aufhalten, aber abmildern. Auch müssen wir uns  darauf einstellen, dass die Migration aus der EU im kommenden Jahrzehnt stark sinken wird. Hier kommt das Einwanderungsgesetz ins Spiel: Wir brauchen eine intelligente Steuerung der Migration aus Drittstaaten. Bislang kommen nur ein Zehntel der Migrant_innen aus Drittstaaten als Arbeitsmigrant_innen nach Deutschland, die übrigen Prozent über den Familiennachzug, die humanitäre Migration und ähnliche Wege.

Letztere integrieren sich aber sehr viel schlechter als Arbeitsmigrant_innen in den Arbeitsmarkt. Die Fortsetzung des Status quo birgt deshalb große Risiken: Die Qualifikationsstruktur und die Integrationschancen der Neueinwandernden werden sich mit dem Rückgang der Migration schrittweise verschlechtern, dies wird sich im Laufe der Zeit dann in der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der Migrationsbevölkerung widerspiegeln. Nichts zu tun ist darum wahrscheinlich die riskanteste Option.

Es muss gelingen, dass künftig nicht mehr ein Zehntel, sondern wie in anderen Einwanderungsländern bis zu 40 Prozent der Neueinwandernden als Arbeitsmigrant_innen nach Deutschland kommen.

Manche Politiker_innen argumentieren, dass jetzt schon zu viele Einwander_innen auf dem Arbeitsmarkt sind und damit die Löhne niedrig halten. Was halten Sie von dieser Sichtweise?

Diese Vorstellung erscheint intuitiv naheliegend, aber ist ökonomisch deshalb nicht richtig. In der simpelsten Variante eines Lehrbuchmodells, in dem der Kapitalstock gegeben ist und die Volkswirtschaft von den internationalen Gütermärkten abgeschottet ist, würde eine Ausweitung des Arbeitsangebots tatsächlich zu fallenden Löhnen führen. Oder Arbeitslosigkeit, wenn sich die Löhne nicht vollständig anpassen.

Glücklicherweise treffen beide Annahmen nicht zu. Der Kapitalstock passt sich durch Investitionen oder internationale Kapitalzuflüsse an ein steigendes Arbeitsangebot an, die Kapitalrenditen und das gesamtwirtschaftliche Lohnniveau bleiben konstant. Das ist keine Theorie, sondern empirisch gut belegt: Das Verhältnis von Kapital zu Output (bzw. zur gesamtwirtschaftlichen Produktion), und damit produktivitätsbereinigt das Verhältnis von Kapital zu Arbeit, ist historisch konstant. Einfacher formuliert: Mehr Arbeitskräfte bedeuten auch mehr produzierte Güter oder Dienstleistungen. In der Summe bleibt dadurch das Verhältnis von Kapital und Arbeit bzw. Löhnen weitgehend unverändert.

Diese Anpassung passiert nicht irgendwann in ferner Zukunft, sondern sehr schnell. Das hängt wiederum damit zusammen, dass die jährlichen Veränderungen des Arbeitsangebots durch Migration recht klein sind. Der andere wichtige Anpassungsmechanismus sind die internationalen Gütermärkte. Migration verändert die Handels- und Produktionsstrukturen, wir importieren weniger arbeitsintensive Güter. Auch das führt dazu, dass gesamtwirtschaftlich das Lohnniveau unverändert bleibt. Wir finden deshalb in den meisten, wenn auch nicht allen, empirischen Studien keine oder bestenfalls geringfügige Veränderungen des Lohnniveaus auf gesamtwirtschaftlicher Ebene.

Gibt es also keine Verlierer?

Viel spannender ist tatsächlich die Frage, ob einzelne Gruppen im Arbeitsmarkt gewinnen oder verlieren. Arbeitskräfte, die komplementäre Tätigkeiten zu den neueingewanderten Migranten ausüben, gewinnen, während Arbeitskräfte, die im direkten Wettbewerb stehen, verlieren können. Der deutsche Arbeitsmarkt ist aus unterschiedlichen Gründen sehr stark segmentiert: Migranten konkurrieren sehr stark mit Migranten, während Deutsche ohne Migrationsgeschichte in anderen Arbeitsmarktsegmenten unterwegs sind. Da liegt nicht nur an der Bildung, sondern auch an Diskriminierung und hohen Hürden des Zutritts für Migrant_innen in bestimmte Arbeitsmärkte wie dem öffentlichen Dienst und Netzwerken. Deshalb profitieren deutsche Arbeitskräfte von der Einwanderung von Arbeitskräften in fast allen Qualifikationsgruppen, während die bereits hier lebenden Migrant_innen eher verlieren.

Man kann übrigens auch nicht sagen, dass der Niedriglohnsektor durch Migration besonders bedroht sei. Wir beobachten gegenwärtig in Deutschland, dass nicht nur die Beschäftigung und die Löhne von hochqualifizierten Arbeitskräften überdurchschnittlich steigen, sondern auch umgekehrt von eher gering qualifizierten Arbeitskräften in den sogenannten Helferberufen. Hier ist die Beschäftigung in den letzten fünf Jahren rund doppelt so stark gestiegen wie die Gesamtbeschäftigung. Die Hälfte dieses Beschäftigungsanstiegs geht auf deutsche Arbeitnehmer_innen zurück. Wir sehen also gegenwärtig, auch vor dem Hintergrund der günstigen Konjunktur, keine Anzeichen für eine Verdrängung von deutschen Arbeitnehmer_innen im Niedriglohnsektor. Wenn, dann sind eher die hier lebenden Migrant_innen betroffen. Last but not least: Es wird häufig übersehen, dass nicht nur der Anteil der Personen ohne Berufsabschlüsse unter den Neueinwanderern höher als in der deutschen Bevölkerung ist, sondern auch der Anteil der Akademiker_innen. In beiden Arbeitsmarktsegmenten trifft die Migration auf eine hohe Arbeitsnachfrage, die Beschäftigung steigt hier weit überdurchschnittlich.

Von Seiten der Regierung liegen mittlerweile  Eckpunkte und ein Referentenentwurf für ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz vor. Noch vor Weihnachten soll es dazu einen Kabinettsbeschluss geben. Geht der Vorstoß der Regierung inhaltlich aus Ihrer Sicht in die richtige Richtung?

Der nun vorliegende Entwurf erfüllt meine Erwartungen nur unvollkommen. Beginnen wir mit den positiven Seiten. Die Vorrangprüfung, die besagt, dass eine Stelle nur mit einer Einwanderin oder einem Einwanderer besetzt werden darf, wenn dafür kein_e deutsche Staatsbürger_in  oder bevorrechtigter Ausländer, beispielsweise aus der EU, in Frage kommt, soll weitgehend abgeschafft werden. Das hat zwar eine eher symbolische Bedeutung, weil die Vorrangprüfung in der Praxis meist keine effektive Hürde ist. Aber damit ist ein Paradigmenwechsel in der Einwanderungspolitik verbunden: Es wird anerkannt, dass wir Arbeitskräfte aus dem Ausland brauchen, und dass der Arbeitsmarkt nicht gegen Einwanderer aus dem Ausland geschützt werden muss.

Das entspricht dem modernen Forschungsstand, der davon ausgeht, dass es keine oder nur geringe Verdrängungseffekte durch Migration gibt. Der Fokus liegt jetzt zu recht auf den Bedingungen für eine erfolgreiche Integration, nicht mehr aus dem Schutz des deutschen Arbeitsmarktes vor Einwanderung.

Der zweite sinnvolle Schritt ist, dass Fachkräfte mit beruflichen Abschlüssen rechtlich bei der Einwanderung weitgehend den Fachkräften mit Hochschulabschlüssen gleichgestellt werden. Das bedeutet, dass im Grundsatz Einwandernde mit beruflichen Abschlüssen auch dann einwandern können, wenn ihre Berufe nicht auf eine Positivliste von Engpassberufen vermerkt sind. Diese Positivlisten waren schon immer ein schlechtes Steuerungselement, weil sie die Arbeitsnachfrage nach neuen Arbeitskräften nicht oder nur unvollkommen abbilden können und sich zudem schlecht an Veränderungen im Arbeitsmarkt anpassen. Beide Reformschritte sind also sinnvoll.

Was fehlt den vorliegenden Gesetzesentwurf Ihrer Meinung nach?

Der Gesetzentwurf hält an der wichtigsten Hürde für die Einwanderung von Arbeitskräften nach Deutschland fest: Berufliche Abschüsse müssen vor dem Zuzug nach Deutschland als gleichwertig anerkannt sein. Dies ist eine hohe Hürde. Das ist nicht nur mit einem hohen Aufwand verbunden, sondern aufgrund unterschiedlicher Bildungs- und Ausbildungssysteme häufig nicht möglich.

Dies wird zudem dadurch erschwert, dass das duale Ausbildungssystem in Deutschland weltweit nur wenig vergleichbare Fälle kennt. Daran scheitern viele qualifizierte Arbeitskräfte. Es gibt nur eine verschwindend geringe Zahl von Personen, die aus dem Ausland die Anerkennung beruflicher Abschlüsse beantragen. Hier hätte man sich an den Erfahrungen anderer Einwanderungsländer orientieren können. Die fordern eine Anerkennung beruflicher Abschlüsse nur, wenn Personen ohne einen Arbeitsvertrag oder verbindliche Arbeitsplatzzusage einwandern wollen.

Eine verbindliche, qualifikationsadäquate Arbeitsplatzzusage wird ohnehin in Deutschland gefordert. Damit wird der Markttest eigentlich erbracht. Aus meiner Sicht wäre es ausreichend gewesen, wenn man auf landesübliche, aber fälschungssichere Zertifikate für Studien- und Berufsabschlüsse und Mindestausbildungs- und Studienzeiten neben der Arbeitsplatzzusage besteht.

Wenn man den Weg der Anerkennung gehen will, hätte man Wege der Teilanerkennung oder von netzbasierten Qualifikationstests beschreiten können. Grundsätzlich leidet der Gesetzentwurf darunter, dass der Gesetzgeber zahlreiche, sich wechselseitig verstärkende Restriktionen eingebaut hat, die von den Bewerber_innen alle erfüllt werden müssen. Das wird dazu führen, dass qualifizierte Fachkräfte an der einen oder anderen dieser Hürden scheitern werden, obwohl sie sich in Deutschland gut in den Arbeitsmarkt integrieren würden.

Zu- bzw. Einwanderung ist das eine, Integration das andere: Welche Stellschrauben erachten Sie als zentral dafür, dass eine Integration in den deutschen Arbeitsmarkt für Einwander_innen auch langfristig gelingt?

Einwanderung und Integration müssen zusammen gedacht werden. Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass Einwandernde aus Drittstaaten wie auch der EU, die über Berufsabschlüsse und Hochschulabschlüsse verfügen und, im Falle von Drittstaatsangehörigen, ein Visum zu Erwerbszwecken erhalten, sich auch langfristig sehr gut in den Arbeitsmarkt integrieren. Ihre Erwerbsquoten sind langfristig ähnlich wie die von deutschen Staatsbürger_innen. Sie verdienen anfangs weniger, aber die Löhne konvergieren über die Zeit.

Wir wissen aus der Forschung, dass Einwandernde schon vor dem Zuzug die Migration mitdenken und entsprechend in Bildung und Ausbildung investieren. Allerdings sprechen die wenigsten Deutsch beim Zuzug. Deutsch ist keine Weltsprache, und eine Investition in diese Sprache macht bei ungewissen Einwanderungsbedingungen wenig Sinn. Wir müssen deshalb auf den Erwerb deutscher Sprachkenntnisse in Deutschland setzen. Dafür braucht es breit angelegte, berufsbegleitende Sprachprogramme. Hier sollten die Arbeitgeber, Gewerkschaften und der Staat Hand in Hand dran arbeiten, etwa durch das Angebot leistungsfähiger Sprachprogramme und  Betriebsvereinbarungen, die die Teilnahme ermöglichen. Auch die Anerkennung von beruflichen Abschlüssen in Deutschland bleibt natürlich wichtig.

Mit am wichtigsten erscheint mir aber, dass wir verstehen, dass die Einwanderung auch uns verändert: Sie verlangt auch Deutschland eine Integrationsleistung ab. Ein Arbeitsmarkt, in dem künftig 30 bis 40 Prozent Arbeitskräfte mit Migrationsgeschichte arbeiten werden, wird nicht mehr der gleiche sein wie heute. Das Facharbeitermodell wird sich anpassen müssen, es werden neue Produktions- und vor allem Dienstleistungsstrukturen entstehen. Deutschland und sein Arbeitsmarkt werden sich verändern.

 


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