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Mit einer Erklärung zum Rechtsstaatsmechanismus hat der Europäische Rat das polnisch-ungarische Veto gegen den neuen Finanzrahmen überwunden. Doch was auf den ersten Blick wie ein Erfolg erscheinen mag, ist bei näherem Hinsehen ein schwerer Rückschlag für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – nicht nur in den Mitgliedstaaten, sondern auch in der EU selbst.
Die Erklärung zum Rechtsstaatsmechanismus, auf die sich die Staats- und Regierungschef im Europäischen Rat am vergangenen Donnerstag einigten, spaltet die Geister. Betrachtet man allein die unmittelbaren Folgen, sieht sie nach einem vollen Erfolg für die EU aus. Ende November hatten die polnische und die ungarische Regierung ein Veto gegen den neuen mehrjährigen Finanzrahmen angekündigt, wodurch nicht nur der reguläre EU-Haushalt, sondern auch der milliardenschwere Corona-Wiederaufbaufonds in Gefahr waren. Erklärtes Ziel der beiden Regierungen war es, den neuen Rechtsstaatsmechanismus zu verhindern, nach dem nur noch solche Mitgliedstaaten in den Genuss von EU-Fördermitteln kommen sollen, die sich auch an Rechtsstaatsprinzipien halten. Die EU-Institutionen machten jedoch schnell klar, dass sie den Kompromiss, den das Europäische Parlament und der Rat zu diesen Mechanismus gefunden hatten, nicht wieder aufschnüren, sondern ihn notfalls mit Mehrheit beschließen und beim Wiederaufbaufonds ohne Polen und Ungarn voranschreiten würden.
Allerdings signalisierte die deutsche Ratspräsidentschaft auch, dass sie einem solchen offenen Konflikt mit den beiden Regierungen eine schnelle, gesichtswahrende Einigung vorzog. Schließlich einigte sich der Europäische Rat auf die Erklärung, mit der er die Grenzen des Rechtsstaatsmechanismus herausstellte und dazu einige prozedurale Absichtserklärungen abgab.
Indessen ist diese Erklärung rechtlich nicht bindend; der Text der eigentlichen Verordnung, in der der Mechanismus festgelegt ist (im Wortlaut hier verfügbar), bleibt unverändert. Im Gegenzug dazu ließen die beiden Regierungen ihr Veto fallen, der Mehrjahreshaushalt und der Corona-Wiederaufbaufonds können wie geplant kommen. Symbolische Zugeständnisse gegen handfeste Resultate: Was will man mehr?
Auf den zweiten Blick besteht zu Jubel jedoch wenig Anlass. Denn mit der Erklärung überschreitet der Europäische Rat die Rolle, die ihm im politischen System der EU legitimerweise zukommt, und fügt damit selbst dem Rechtsstaatsprinzip Schaden zu. Nach Art. 15 EUV gibt der Europäische Rat der EU „die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest“, wird jedoch ausdrücklich „nicht gesetzgeberisch tätig“.
Die Kompetenz hierzu liegt vielmehr beim Europäischen Parlament und dem Rat, die die beiden unterschiedlichen Legitimationssubjekte der EU als Bürger- und Staatenunion repräsentieren und im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens zu einer gemeinsamen Linie finden müssen. Im Ergebnis ist dadurch jeder EU-Rechtsakt ein Kompromiss zwischen zwei unterschiedlichen Legitimationslogiken. Die Auslegung dieses Kompromisses wiederum ist Aufgabe der Judikative, des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).
Mit seiner Erklärung zum Rechtsstaatsmechanismus stört der Rat dieses Gleichgewicht der Institutionen. Denn auch wenn die Erklärung keine formale rechtliche Bindung entfaltet, liefert sie eine Interpretationsvorgabe, die als soft law die Auslegung des Mechanismus beeinflussen soll. Damit überformt sie den gesetzgeberischen Kompromiss – und setzt die rein zwischenstaatliche Logik des Europäischen Rates über das vertragsgemäße Gesetzgebungsverfahren, in dem Bürger:innen und Staaten gleichberechtigt repräsentiert sind.
Das mag wie ein abstraktes verfassungstheoretisches Problem wirken, hat in diesem Fall aber konkrete politische Implikationen. Denn schon vor dem ungarisch-polnischen Veto war die Verordnung für den Rechtsstaatsmechanismus heftig zwischen Parlament und Rat umkämpft. Für das Parlament sollte sie in möglichst allgemeiner Form Sanktionen bei Verstößen von Mitgliedstaaten gegen die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundwerte der EU ermöglichen – gewissermaßen als Ersatz für den aufgrund der Einstimmigkeitserfordernisse faktisch nicht anwendbaren Artikel 7 EUV. Der Rat hingegen setzte sich dafür ein, den Rechtsstaatsmechanismus auf Fälle zu begrenzen, in denen Mängel im Rechtssystem der Mitgliedstaaten die finanziellen Interessen der EU bedrohten – also eher eine Art Notbremse gegen Veruntreuung und Korruption.
Der Verordnungstext, auf den sich die beiden Institutionen Anfang November schließlich einigten, ist in dieser Hinsicht ein Formelkompromiss. Zusammengehalten wird er durch eine Reihe von Zweideutigkeiten und unbestimmten Rechtsbegriffen, die ihn in beide Richtungen auslegbar machen. So nennt die Verordnung als Bedingung für konkrete Maßnahmen, dass Rechtsstaatsverstöße „die finanziellen Interessen der EU in einer ausreichend direkten Weise zu beeinträchtigen drohen“ („seriously risk affecting […] the financial interests of the Union in a sufficiently direct way“) – was auch immer das im Einzelnen bedeuten mag. Eine Aufzählung von möglichen konkreten Fällen endet mit „allen anderen für […] den Schutz der finanziellen Interessen der Union relevanten Situationen und Verhaltensweisen mitgliedstaatlicher Behörden“. Und auch die Erwägungsgründe der Verordnung verweisen sowohl auf den Schutz der Grundwerte als auch auf den der finanziellen Interessen der EU.
Die Erklärung des Europäischen Rates stellt hingegen ausdrücklich fest, der Zweck des Mechanismus sei es, „den Haushalt […] und die finanziellen Interessen der Union zu schützen“, und betont dann noch einmal: „Die bloße Feststellung einer Verletzung der Rechtsstaatlichkeit reicht nicht aus, um den Mechanismus auszulösen.“ Zudem sei die Aufzählung möglicher Fälle in der Verordnung „als erschöpfende Liste [zu lesen], in die keine Faktoren oder Ereignisse anderer Art aufgenommen werden können“. Die Erklärung widerspricht damit zwar nicht dem Wortlaut der Verordnung. Sie beinhaltet jedoch eine interpretative Engführung, die den Absichten des Rates, nicht aber des Europäischen Parlaments entspricht.
Noch gravierender sind die prozeduralen Zusicherungen, die der Europäische Rat in der Erklärung gibt. Demnach wird die Kommission vor dem ersten Einsatz des Mechanismus erst einmal „Leitlinien“ zu dessen Anwendung entwickeln. Außerdem sollen diese Leitlinien erst fertiggestellt werden, wenn das Ergebnis einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV vorliegt, die Ungarn und Polen vor dem EuGH gegen die Verordnung erheben wollen. Der Europäische Rat (und die Kommission, die der Erklärung zufolge ihr Einverständnis dazu gegeben hat) verzögern auf diese Weise also den Zeitpunkt, ab dem der Rechtsstaatsmechanismus tatsächlich genutzt werden kann. In der Praxis dürfte er frühestens in ein bis zwei Jahren einsatzfähig sein – und damit vor der nächsten ungarischen Parlamentswahl im Frühling 2022 keine Wirkung mehr entfalten.
Diese Verzögerung widerspricht dem Wortlaut der Verordnung, der eine Anwendung ab 1. Januar 2021 vorsieht und der Kommission beim Vorliegen von Verstößen keinen politischen Handlungsspielraum zugesteht. (Ein Verzicht auf den Gebrauch des Mechanismus ist nur dann möglich, wenn andere Instrumente einen effektiveren Schutz des EU-Haushalts versprechen.) Auch von der Entwicklung von Leitlinien ist in der Verordnung keine Rede.
Infolgedessen fordern erste Stimmen bereits das Europäische Parlament dazu auf, nun seinerseits den Rechtsweg zu beschreiten. Wenn die Kommission trotz der flagranten Rechtsstaatsverstöße in Ungarn und Polen nicht aktiv wird, könnte das Parlament eine Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV anstrengen. Auch eine solche Klage würde allerdings Zeit in Anspruch nehmen. Selbst wenn das Parlament sie gewönne, wäre ihr praktischer Nutzen daher gering.
Welches Fazit ist also zu ziehen? Der Mechanismus bleibt rechtlich intakt, die Verordnung kann in unveränderter Form beschlossen werden – aber dass sie der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen sehr viel nutzen wird, ist immer unwahrscheinlicher. Auch wenn die Erklärung des Europäischen Rates rechtlich nicht bindend ist, werden sich Kommission und Rat bei der Anwendung des Mechanismus kaum darüber hinwegsetzen.
Schon in den vergangenen Monaten haben sich beide Institutionen nicht gerade als leidenschaftliche Verfechter der europäischen Werte hervorgetan. So verzichtet die Kommission seit Monaten darauf, vor dem EuGH Zwangsgelder gegen Polen zu beantragen, obwohl sie selbst der Ansicht ist, dass das Land wesentliche Entscheidungen des EuGH zum Schutz einer unabhängigen Justiz nicht umsetzt. Der Rat wiederum verschleppt bereits seit Jahren die Artikel-7-Verfahren, die das Parlament und die Kommission (noch unter Jean-Claude Juncker) gegen Polen und Ungarn eingeleitet haben.
Als Argument war dabei verschiedentlich zu hören, dass man mit dem Rechtsstaatsmechanismus ja gerade an einem neuen, effektiveren Instrument arbeite. Diese Ausrede gilt nun nicht mehr: Die letzten Wochen haben verdeutlicht, dass es der Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten nicht an Möglichkeiten mangelt, gegen die autoritären Regierungen in Ungarn und Polen vorzugehen, sondern vor allem an politischem Willen, sie einzusetzen.
Auch dass es bei der Erklärung von vergangenem Donnerstag auch darum ging, den ordnungsgemäßen Beginn des Corona-Fonds zu retten, kann das nur begrenzt rechtfertigen. Denn so wie Ungarn und Polen diesmal den mehrjährigen Finanzrahmen in Geiselhaft nahmen, um den Rechtsstaatsmechanismus auszubremsen, könnte es das nächste Mal ein wichtiger außenpolitischer Beschluss sein. Es gibt in den EU-Verträgen genügend Einstimmigkeitserfordernisse, die autoritäre Regierungen als Druckmittel nutzen können – solange die anderen Mitgliedstaaten nicht bereit sind, den Konflikt mit ihnen aufzunehmen und dem Kampf um die Rechtsstaatlichkeit die nötige Priorität zu geben.
Dass der Europäische Rat zur Durchsetzung von Zugeständnissen an Ungarn und Polen sogar bereit war, mit seiner Erklärung das Europäische Parlament zu düpieren und das ordentliche Gesetzgebungsverfahren zu unterlaufen, ist eine besonders traurige Pointe. Sicher, dies ist nicht das erste Mal, dass der Europäische Rat seine vertragsmäßige Rolle in zweifelhafter Weise ausgedehnt hat. Aber es macht in herausragender Weise deutlich, wie der Verfall von Rechtsstaatlichkeit und parlamentarischer Demokratie in einigen Mitgliedstaaten auch mit einem Verfall von Rechtsstaatlichkeit und parlamentarischer Demokratie auf europäischer Ebene einhergeht.
Manuel Müller ist Senior Researcher am Institut für Europäische Politik Berlin und Betreiber des Blogs "Der (europäische) Föderalist" (www.foederalist.eu).
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