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von Björn Hacker
Obwohl in der EU der Sozialstaat nach wie vor zu den Kernbereichen nationaler Souveränität gezählt wird, muss er sich zunehmend grenzüberschreitenden Herausforderungen stellen. Vorangetrieben wird diese Entwicklung einerseits durch die Verschärfung des innereuropäischen Wettbewerbs, andererseits ist sie bedingt durch das Auftreten neuer sozioökonomischer Herausforderungen wie Klimawandel, Digitalisierung und wachsende Ungleichheiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung.
Adaption des globalen Wettbewerbsimperativs
Die Integration von Binnenmarkt und Währungsunion hat in den letzten drei Dekaden die Konkurrenz um wirtschaftliche Standortvorteile auf den Feldern der Unternehmenssteuern, der Lohnkosten und der Arbeitnehmerrechte befördert. Insbesondere der Verzicht auf eine vertragsbasierte Regulierung des beständig erweiterten Marktes hat zu dieser problematischen Entwicklung beigetragen. Offensichtlich ist das Versäumnis der EU, die bei aller Binnendifferenz bestehenden Spezifika des Europäischen Sozialmodells – kooperative Arbeitsverhältnisse, am Produktivitätsfortschritt orientierte Lohnentwicklung, staatlich organisierte Absicherung der größten Lebensrisiken – gegen die Zumutungen einer globalen Wettbewerbsordnung ohne regulierende Kraft hinreichend zu verteidigen.
Und die anstehenden neuen Herausforderungen sind entweder nicht oder nur um den Preis mangelnder Nachhaltigkeit auf nationaler Ebene lösbar. Der klimaneutrale und zugleich sozialverträgliche Umbau der Wirtschaft bringt nichts, wenn die Nachbarstaaten nicht mitziehen. In der Digitalisierung und der Arbeitswelt 4.0 mögen einzelne Länder innovative Achtungserfolge erzielen, doch nur im europäischen Verbund kann eine Standardsetzung gegen US-amerikanische und chinesische Tech-Giganten gelingen. Und spätestens seit der Eurokrise 2010ff. ist klar, dass soziale Spaltungen nicht nur ein nationales Phänomen darstellen, sondern im gemeinsamen Wirtschaftsraum mit den Krisen über die Grenzen diffundieren, in Form ökonomischer Externalitäten, von Arbeitsmigration oder politischer Lagerbildung.
Asymmetrische Integration zugunsten des Marktes
Angesichts dieser Problemlage rächt sich der frühe Verzicht auf einen Ausbau der positiven Integration, verstanden als Aufbau gemeinsamer Politiken, Mechanismen und Institutionen in Europa. Stattdessen haben die Staaten der Union zu lange auf die negative Integration, den Abbau von Handelsbarrieren und die Markterweiterung gesetzt. Heute fehlt es an Instrumenten der Marktsteuerung und Marktkorrektur in der EU. An diesem Befund hat die „Behelfsbrücke EU-Politikkoordinierung“ wenig ändern können. Seit den 1990er Jahren werden jene Bereiche, in denen die Mitgliedstaaten nicht zur Souveränitätsabgabe zugunsten einer einheitlich gestalteten EU-Politik bereit sind, voluntaristisch ausgebaut: Die Mitgliedstaaten vereinbaren gemeinsame Ziele für definierte Zeiträume; das Erreichen der selbst gesetzten Benchmarks erfolgt dabei freiwillig. Weiche Governance-Strukturen ersetzen jedoch keine harte regulative Politik. Dass insbesondere jene Koordinierungsinstrumente schwach sind, die sich der Sozial- und Beschäftigungspolitik widmen, hat die Eurokrise verdeutlicht. Damals wurde mit dem Fiskalpakt, dem Euro-Plus-Pakt und dem reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt in erster Linie die budgetäre Koordinierung der Mitgliedstaaten gestärkt.
Meilenstein oder Minimallösung: Die Europäische Säule sozialer Rechte
Das prozyklische Management der Eurokrise ist durch seinen Fokus auf die innere Abwertung, die nachfrageschädliche Politik der Kürzung von Löhnen, Sozialleistungen und öffentlichen Investitionen verantwortlich für eine künstliche Verlängerung der Depression in zahlreichen Staaten der EU und für schwache Wachstumsraten in weiteren ihrer Mitgliedsländer. In der Hochzeit der Krise lag die Arbeitslosenquote in Italien 2014 bei 12,7 Prozent, in Spanien bereits 2013 bei 26,1 Prozent und in Griechenland im gleichen Jahr sogar bei 27,5 Prozent (Eurostat). Noch bis zu Beginn der Covid-19-Pandemie 2020 hatten sich alle drei Staaten nicht wieder auf das Niveau vor der globalen Finanzkrise 2008 erholen können. Bei der Arbeitslosigkeit, insbesondere bei der Jugendarbeitslosigkeit, sowie in der Armutsgefährdung rangieren die sogenannten Krisenstaaten aus Europas Süden weit entfernt vom europäischen Durchschnittswert. Dagegen standen bis zum Beginn der Pandemie Länder wie Deutschland, die Niederlande oder Tschechien bei diesen Sozialindikatoren hervorragend da.
Dieser sozialen Spaltung des Kontinents wollte die letzte EU-Kommission mit der 2017 proklamierten Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) entgegentreten. In 20 Grundsätzen wird skizziert, wie umfangreich die soziale Dimension der EU aussehen müsste. In einem für 2021 angekündigten Aktionsplan, der auf Forderungen des Europäischen Gewerkschaftsbunds zurückgeht, möchte die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die 20 Grundsätze der ESSR mit den für die EU zentralen Herausforderungen Klimawandel, digitale Wirtschaft und demografische Entwicklung verknüpfen.
Notwendige Ergänzung I: Europäisches Sozialprotokoll
Zentrales Problem der ESSR ist allerdings, dass sie rechtlich völlig unverbindlich bleibt. Sie ist kein Bestandteil der Verträge; die in ihr so benannten sozialen „Rechte“ sind faktisch keine, falls sie nicht ohnehin schon zum Acquis gehörten wie etwa die Themen Gleichstellung und Antidiskriminierung. Allein deklaratorische Absichtserklärungen können die soziale Spaltung der Union nicht beheben und kaum Antworten auf das wachsende Unbehagen mit der Globalisierung und auf die soziale Gestaltung neuer Herausforderungen geben. Auch eine Integration der ESSR in die Verträge wäre kein Allheilmittel zur Stärkung des sozialen Europas. Doch zumindest normativ wäre so eine Gleichstellung der sozialen mit der ökonomischen Dimension erreicht. Zudem würde die Eingliederung in das Primärrecht der EU die sekundärrechtlichen Initiativen im Sozialbereich stützen. Darüber hinaus käme es zu einem Demokratisierungsschub, da das Europäische Parlament sich intensiver in den Ausbau der sozialen Dimension einbringen könnte. Die eleganteste Lösung hierfür wäre die eines angehängten europäischen Sozialprotokolls, das – wie bereits beim Vertrag von Maastricht praktiziert – auch ohne Zustimmung aller Mitgliedstaaten auf den Weg gebracht werden könnte.
Notwendige Ergänzung II: Mindeststandards
Die ESSR wird mangels rechtlicher Grundlage außer zur Begründung von Sekundärgesetzakten in erster Linie in der Politikkoordinierung verwendet. Dafür wird ein Set von 14 Indikatoren in einem Sozialen Scoreboard im Rahmen des Europäischen Semesters genutzt. Doch im Konfliktfall zwischen sozialen und ökonomischen Zielen wird zugunsten der letzteren entschieden. Um die rekommodifizierende Ausrichtung des Europäischen Sozialmodells zu überwinden, müsste die ESSR Zähne bekommen, um ebenso zubeißen zu können wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt im Falle einzelstaatlicher Verstöße gegen die Zielmarken des jährlichen Haushaltsdefizits bei maximal drei Prozent des BIP und der erlaubten Gesamtverschuldung bei 60 Prozent des BIP. Dafür benötigt die ESSR ebenfalls klar definierte Ziele in ihrem Sozialen Scoreboard. Die Mitgliedstaaten sollten sich schrittweise auf die Ablösung des EU-Durchschnitts als Benchmark zugunsten der Einführung quantifizierbarer Zielwerte und Mindeststandards einigen. Dabei sollte von einer „One size fits all“-Lösung abgesehen werden: Die institutionellen und sozioökonomischen Unterschiede der Mitgliedstaaten gilt es zu achten, indem eine prozentuale Orientierung an nationalen Größen erfolgt. Denkbar würden so etwa ein Rahmen für eine Mindestlohnnorm bei 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns, ein Rahmen für existenzsichernde Mindestsicherungssysteme, dessen Eckpunkte sich u. a. an der jeweiligen nationalen Armutsquote orientieren, oder ein Rahmen für das Vorhalten von Sozialausgaben pro Kopf, die der langfristigen Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts entsprechen.
Notwendige Ergänzung III: Sozialer Stabilitätspakt
Ebenso beispiellos wie der Nachfrageeinbruch im Jahr 2020 durch die Covid-19-Pandemie war die politische Reaktion hierauf: In allen Mitgliedstaaten und der EU wurden große Konjunkturpakete zur Nachfragestützung geschnürt; die Staaten folgten dabei – anders als etwa in der Eurokrise – einer keynesianischen Navigationskarte. Gezeigt hat diese Krise aber auch, wie unterschiedlich verwundbar die Mitgliedstaaten der EU ökonomisch und sozial sind. Insofern ist es gut, dass das europäische Aufbauprogramm „Next Generation EU“ sich bei der Mittelverteilung am Bedarf der Länder orientiert und die Erfüllung der Stabilitätskriterien der Währungsunion zugunsten der Nachfragestützung formell außer Kraft gesetzt wurde. Ein überarbeiteter Stabilitäts- und Wachstumspakt müsste in Zukunft Rücksicht auf soziale Investitionen nehmen. Mehr noch: Die Staaten der Eurozone sollten sich zusätzlich auf einen Sozialen Stabilitätspakt verständigen, in dem für die Währungsunion relevante Ziele der ESSR mit einem sozialen Ungleichgewichtsverfahren verknüpft werden, wenn politisch festzulegende Schwellenwerte im Sozialen Scoreboard über- bzw. unterschritten werden.
Das Europäische Sozialmodell wertschätzen
Mit der Corona-Krise vertieft sich die soziale Spaltung in der EU weiter, auch da die letzte Wirtschaftskrise – ablesbar an den Sozialindikatoren – in vielen Ländern noch gar nicht vollständig überwunden war. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass sich das Unbehagen vieler Bürger_innen der Union mit der Globalisierung, mit dem Wettbewerbsprinzip und gegenüber den anstehenden Herausforderungen des Klimawandels, der Digitalisierung und neuer Ungleichheitserfahrung noch steigert.
Nur von begrenztem Nutzen wird die Aufladung des Governance-Rahmens mit sozialen Vokabeln sein, solange die marktliberale Ausgestaltung der großen wirtschaftlichen Integrationsprojekte nicht korrigiert bzw. mit einer gleich starken sozialen Dimension konfrontiert und ausbalanciert wird. Dazu könnte eine mit Zielmarken und Mindeststandards bestückte und in die EU-Verträge aufgenommene ESSR beitragen. Die Stärkung europäischer Resilienz durch Hinwendung zu den sozialen Zielen des Staatenverbunds ist politisch nicht unmöglich. Mit der Wertschätzung des Europäischen Sozialmodells hoher sozialer Standards und gelingender sozialer Kohäsion würde die EU eines ihrer spezifischsten und wertvollsten Besitztümer verteidigen.
Prof. Dr. Björn Hacker ist Professor für europäische Wirtschaftspolitik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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Eine Politik für Europa muss in erster Linie von den Bürger_innen Europas getragen werden. Wir wollen daher wissen, welche Erwartungen die Menschen an die EU haben. Momentan ist eine kritische Einstellung weit verbreitet. Wie muss sich die EU verändern, damit das Vertrauen in sie wieder wächst? Wie kann die EU fairer, demokratischer und inklusiver gestaltet werden? Vor allem im Rahmen der politischen Bildung wollen wir einen Beitrag leisten, um ein Europa des Zusammenhalts zu befördern.
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