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von Oliver Röpke
Die Erwartungen an den Brüsseler Marathongipfel im Juli 2020 waren groß. Und tatsächlich kommt das dort beschlossene Volumen des Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) und des Wiederaufbaufonds trotz einiger schmerzhafter Verschlechterungen im Vergleich zu den Vorschlägen der EU-Kommission einer historischen Zäsur gleich. Es ist ein beispielloses Projekt in der Geschichte der EU – mit einer entscheidenden Einschränkung: Es fehlt die gemeinsame progressive Vision für ein soziales Europa.
Die europäischen Gewerkschaften haben eine solche gemeinsame Vorstellung. Bereits im Mai 2020 hat die Gruppe der Arbeitnehmer_innen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) ein ambitioniertes Programm für einen „Strong, Social, Sustainable and Inclusive Recovery and Reconstruction Plan“ vorgelegt, das nicht nur kurz- und mittelfristige Maßnahmen beinhaltet, um die wirtschaftliche, soziale und politische Krise zu überwinden. Es skizziert auch Ideen für ein neues sozio-ökonomisches Modell für Europa.
Soziales Europa ist Voraussetzung für wirtschaftliche Erholung
Nach einer anfänglichen Schockstarre waren die ersten Reaktionen der EU auf die Corona-Krise durchaus entschlossen. Neben zusätzlichen Krediten der Europäischen Investitionsbank (EIB) wurde auch eine neue, krisenspezifische Kreditlinie des Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) beschlossen. Ebenfalls Anfang April 2020 stellte die Kommission das sogenannte SURE-Modell zur Finanzierung von Kurzarbeit und ähnlichen Maßnahmen in der gesamten EU vor. Bemerkenswert war bereits hier die solidarische Finanzierung, denn um SURE-Kredite ausgeben zu können, nimmt die Kommission Kredite an den Finanzmärkten auf. Das Instrument beruht auf einer Konstruktion, die bereits während der Finanz- und Eurokrise beim Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus genutzt wurde: Artikel 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) erlaubt solidarischen finanziellen Beistand bei „außergewöhnlichen Ereignissen“. Damit ist aber auch ein klares Defizit im europäischen Vertragswerk benannt, denn Solidarität sollte ein Grundprinzip europäischer Politik sein und nicht nur als absolute Ausnahme zur Anwendung kommen.
Das Grundprinzip heißt Solidarität
Aus gewerkschaftlicher Sicht muss es daher um eine ambitionierte soziale Agenda gehen: ein europäischer Rahmen für gute Löhne und gute Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmer_innen in der EU, mit funktionierenden kollektiven Lohnfindungssystemen und hohen Beteiligungs- und Mitbestimmungsstandards für die Beschäftigten, für die Belegschaftsvertreter_innen und die Gewerkschaften. Soziale Aufwärtskonvergenz in der EU muss mit der ökonomischen Erholung „post-Covid“ untrennbar verbunden sein, es darf keine Unterordnung geben. Covid-19 hat – nach der Finanz- und Eurokrise – einmal mehr gezeigt, dass sich ein starker sozialer Dialog gerade in Krisenzeiten bewährt. Insofern liegt in dieser Krise, so gern wir alle auf sie verzichtet hätten, auch die Chance zu einer grundsätzlichen Kurskorrektur. Gewerkschaften und Belegschaftsvertreter_innen werden als unverzichtbare Akteure dafür benötigt und sollten im Mittelpunkt eines neuen „Economic and Social Deals“ stehen.
Die soziale Säule konsequent umsetzen
Die Grundlage für eine Social Recovery bietet die Europäische Säule sozialer Rechte, die aber auch konsequent umgesetzt werden muss. EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit hat bereits einige wichtige Projekte auf den Weg gebracht. In einem Aktionsplan zur Umsetzung der sozialen Säule, den die Kommission derzeit vorbereitet, müssen dringend die nächsten Schritte konkret vorgezeichnet werden. Auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat einige der wichtigsten sozialpolitischen Forderungen in ihr Programm aufgenommen, z. B. einen europäischen Rahmen für faire Mindestlöhne und wirksame Grundsicherungssysteme in den Mitgliedstaaten oder für eine europäische Arbeitslosen-Rückversicherung (ARV).
Diese Forderungen werden von der Gruppe der Arbeitnehmer_innen des EWSA mit konkreten Vorschlägen unterstützt, aber auch in Stellungnahmen des gesamten Ausschusses grundsätzlich gutgeheißen. Diese Initiativen werden maßgeblich darüber entscheiden, ob sich die EU endlich in Richtung eines sozialen Europas entwickelt und sich gerade in der Krise nicht nur als Garant eines starken Binnenmarktes, sondern endlich auch als Anwältin der Arbeitnehmer_innen bewähren wird.
Social Recovery ist dringlicher denn je
Die mittel- und langfristigen Folgen der Covid-19 Pandemie sind heute noch gar nicht abzusehen, aber die neueren Einschätzungen über den wirtschaftlichen Einbruch lassen bereits erwarten, dass die Rezession wesentlich tiefer und europaweit uneinheitlicher ausfallen wird als noch im Frühjahr 2020 angenommen. Die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer_innen werden entsprechend dramatisch sein. Trotz aller Maßnahmen, die Menschen durch Kurzarbeitsmodelle in Beschäftigung zu halten, steigt die Arbeitslosigkeit europaweit stark an. Viele Kolleg_innen müssen mit wesentlich weniger Einkommen auskommen. Das wird sich auch in der Armutsgefährdungsquote niederschlagen. Außerdem werden jene Menschen, die bereits vor der Corona-Krise arbeitslos waren, nun noch schlechtere Aussichten auf einen neuen Arbeitsplatz haben.
All diese Aussichten machen eine Social Recovery in der EU genauso dringlich wie den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Als eine Leitlinie seien drei zentrale europäische Initiativen genannt, die jetzt konsequent auf europäischer Ebene umgesetzt werden müssen:
„Eine Krise ist der ideale Zeitpunkt, um die Löhne zu erhöhen“
Diese Aussage stammt nicht aus dem gewerkschaftlichen Handbuch für Lohnverhandler_innen, sondern aus einem Artikel der Financial Times vom 12.7.2020. Was für jene Branchen, die derzeit um das wirtschaftliche Überleben kämpfen und von massenhafter Kurzarbeit und Kündigungswellen betroffen sind, provokant klingen mag, ist gesamtgesellschaftlich und makroökonomisch dennoch sinnvoll. Die Covid-19-Krise hat mehr als deutlich die besondere Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer_innen in atypischen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen gezeigt. Allzu oft sind sie von den Sozialschutznetzen ausgeschlossen, die ihren Einkommens- bzw. Arbeitsplatzverlust abfedern könnten. Branchen mit Niedriglöhnen und/oder prekärer Beschäftigung kommen keineswegs besser durch die Krise, im Gegenteil sind gerade diese Arbeitnehmer_innen die Ersten, die von massiven gesundheitlichen Risiken am Arbeitsplatz (Stichwort: Fleischindustrie), von Jobverlust oder von geringen Lohnersatzleistungen betroffen sind. Dieses Modell der prekären Jobs und Niedriglöhne gehört ein für alle Mal beendet – und zwar EU-weit.
Gerechte Mindestlöhne als Gebot der Stunde – sozialpolitisch und makroökonomisch
Die von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigte Initiative für „gerechte Mindestlöhne“ in der EU wird derzeit von EU-Sozialkommissar Schmit im Rahmen eines Konsultationsverfahrens mit den europäischen Sozialpartnern vorangetrieben. Der EWSA ist hier politisch eingebunden und hat gerade seine Empfehlungen für einen möglichen Kommissionsvorschlag erarbeitet. Die Stellungnahme spricht eine deutliche Sprache: „Die Gewährleistung angemessener Mindestlöhne in allen Mitgliedstaaten würde dazu beitragen, eine Reihe von EU-Zielen zu erreichen, darunter die Aufwärtskonvergenz bei den Löhnen, die Verbesserung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts, die Beseitigung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen im Allgemeinen und die Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt.“ Gerade in der Krise können höhere Mindestlöhne zudem eine wichtige stabilisierende makroökonomische Funktion übernehmen.
Ohne Lohnkonvergenz kein Ende des Lohn- und Sozialdumpings
Niemand in der europäischen Gewerkschaftsbewegung redet einem einheitlichen europäischen Mindestlohn das Wort, aber es geht um verbindliche Lohnuntergrenzen, die den Arbeitnehmer_innen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen – egal ob in Deutschland, Österreich oder in Tschechien, Bulgarien oder in Spanien. Es ist nicht länger hinnehmbar, dass sich der „Aufholprozess“ der mittel- und osteuropäischen Länder bei den Lohnunterschieden wieder verlangsamt hat. Notwendig ist auch ein Zeichen der Solidarität mit unseren Kolleg_innen sowohl in Mittel- und Osteuropa wie auch im Süden der EU, wo Tarifvertragssysteme oftmals nachhaltig geschwächt und Mindestlöhne einseitig gesenkt wurden.
Mit Stand Januar 2020 lagen die gesetzlichen Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten zwischen 312 und 2.142 Euro pro Monat, von den wesentlich größeren Unterschieden bei den tatsächlichen Ist-Löhnen ganz zu schweigen. Im Osten der EU liegen die monatlichen Mindestlöhne in der Regel unter 600 Euro. Ohne eine klare Aufwärtskonvergenz kann auch das grenzüberschreitende Lohn- und Sozialdumping trotz aller Bemühungen auf EU-Ebene (neue Entsenderichtlinie, Europäische Arbeitsbehörde) nicht wirksam bekämpft werden. Deshalb braucht ein soziales Europa eine Initiative für gerechte Mindestlöhne.
Stärkung von Tarifverhandlungen muss im Mittelpunkt stehen
Unabhängig davon muss aber sichergestellt sein, dass die Förderung von Tarifverhandlungen und gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht im Mittelpunkt steht. Die Tarifbindung ist europaweit seit Jahren rückläufig, die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten sind enorm. Weiterhin gilt: Gesetzliche Mindestlöhne sind immer nur die zweitbeste Lösung. Deswegen ist es auch richtig und unverzichtbar, dass eine europäische Rahmenregelung keine negativen Auswirkungen auf funktionierende Kollektivvertragssysteme haben darf – sie darf natürlich auch keinen Zwang zur Einführung gesetzlicher Mindestlöhnen bedeuten. EU-Kommissar Schmit hat genau das zugesichert. Diese Zusage muss aber auch rechtlich garantiert werden, damit unheilvolle Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus der Vergangenheit (Laval, Viking, Rüffert, Henry am Zug) auch endgültig der Vergangenheit angehören.
Hohe soziale Mindeststandards sind unverzichtbar
Sowohl die Kommission als auch der deutsche Ratsvorsitz haben konkrete Pläne für die europäische Arbeitslosenrückversicherung (ARV) angekündigt. Die sinnvolle makroökonomische Stabilisierungsfunktion eines solchen Instruments muss aber durch eine sozialpolitische Komponente ergänzt werden. Anders als beim SURE-Instrument sollte mit den Vorschlägen für eine ARV gleichzeitig ein Vorstoß für soziale Mindeststandards in den nationalen Arbeitslosenversicherungssystemen unternommen werden. Die Arbeitslosenversicherungen (ALV) bieten ein Sicherheitsnetz für Arbeitnehmer_innen beim Verlust des Arbeitsplatzes und schützen vor Armut. Gleichzeitig sind Arbeitslosenleistungen wichtige automatische Stabilisatoren.
Dringend geboten: Mehr Aufwärtskonvergenz auch im Sozialschutz
Die Europäische Säule sozialer Rechte fordert in Punkt 13 klar „angemessene Leistungen von angemessener Dauer“ im Falle von Arbeitslosigkeit. Davon kann in einigen Mitgliedstaaten aber nicht annähernd die Rede sein, wenn z. B. Arbeitslose in Ungarn selbst nach jahrzehntelanger Beitragszahlung eine maximale Anspruchsdauer von nur 90 Tagen haben! Riesige Unterschiede gibt es in der EU auch bei der Höhe der Leistungen, also der Nettoersatzrate. DGB, ÖGB und die österreichische Arbeiterkammer haben deshalb gemeinsam ein Modell ausgearbeitet, wie solche Mindeststandards über eine EU-Richtlinie eingeführt werden könnten, ohne die nationalen ALV zu harmonisieren. Es beinhaltet u. a. eine Nettoersatzrate von mindestens 75 Prozent, eine Mindestbezugsdauer von einem Jahr, eine Mindestabdeckungsquote und einen Rechtsanspruch auf Aus- und Weiterbildung im Falle von Arbeitslosigkeit.
EWSA für EU-Mindeststandards in den Arbeitslosenversicherungen
Der EWSA unterstützt diese Forderungen und hat ein konkretes Modell vorgeschlagen, wie solche europäischen Standards schrittweise eingeführt werden könnten. Er spricht sich ebenfalls für eine EU-weite Richtlinie für verbesserte Standards in den nationalen ALV aus, falls konkrete Zielvorgaben im Rahmen des Europäischen Semesters oder eine Ratsempfehlung zu keinen spürbaren Verbesserungen führen. Die Kommission und auch der deutsche Ratsvorsitz sollten diese Forderungen unbedingt aufgreifen, wenn die Diskussionen über eine Grundsicherung und über eine ARV auf europäischer Ebene beginnen, denn auch hier gilt: keine Economic Recovery ohne Social Recovery.
Vorrang wirtschaftlicher Marktfreiheiten vor sozialen Grundrechten endlich beenden!
Abschließend sei noch eine zentrale Grundsatzforderung der europäischen Gewerkschaftsbewegung (und der Sozialdemokratie!) erwähnt: Der Konstruktionsfehler in den Verträgen der EU, wonach die wirtschaftlichen Marktfreiheiten Vorrang vor sozialen Grundrechten genießen, muss endlich korrigiert werden. Der Kampf für ein soziales Europa und der Kampf gegen unfaires Lohn- und Sozialdumping werden erst dann erfolgreich sein, wenn ein soziales Fortschrittsprotokoll primärrechtlich verankert wird – und damit das Prinzip, dass in der EU soziale Grundrechte im Zweifel Vorrang vor wirtschaftlichen Binnenmarktfreiheiten haben müssen. Diese Frage könnte sich im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas früher stellen, als viele denken, wenn es bei der Ankündigung von Kommissionspräsidentin von der Leyen bleibt, dass auch Vertragsänderungen nicht ausgeschlossen werden sollten. Die europäischen Gewerkschaften im Europäischen Gewerkschaftsbund und die Gruppe der Arbeitnehmer_innen des EWSA stehen klar zu unserer Forderung, dass wir keine Vertragsänderung ohne ein soziales Fortschrittsprotokoll akzeptieren werden.
Oliver Röpke ist Präsident der Arbeitnehmer_innengruppe im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) und leitet seit 2008 das Europabüro des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) in Brüssel.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
von Gabriele Bischoff
von Robby Riedel
von Björn Hacker
von Jörg Bibow
von Gorgi Krlev
von Giacomo Corneo
von Dominik Bernhofer
Eine Politik für Europa muss in erster Linie von den Bürger_innen Europas getragen werden. Wir wollen daher wissen, welche Erwartungen die Menschen an die EU haben. Momentan ist eine kritische Einstellung weit verbreitet. Wie muss sich die EU verändern, damit das Vertrauen in sie wieder wächst? Wie kann die EU fairer, demokratischer und inklusiver gestaltet werden? Vor allem im Rahmen der politischen Bildung wollen wir einen Beitrag leisten, um ein Europa des Zusammenhalts zu befördern.
Ansprechpartnerin
Marie Meier
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