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Reset EU – Renaissance für ein soziales Europa?

von Gabriele Bischoff



Its the convergence, stupid! 

„Das europäische Sozialmodell ist tot“, zu diesem Schluss kam 2012 der damalige EZB-Präsident Mario Draghi mit Blick auf die europaweit steigende Jugendarbeitslosigkeit. Der frühere EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hingegen bemühte 2015 Superlative, er beschwor ein soziales „Triple-A“, um für sein Projekt einer Säule sozialer Rechte zu werben. Diese Säule sollte als Kompass für eine erneute Konvergenz innerhalb des Euro-Raumes dienen. Denn das soziale Europa ist eng mit dem Konzept der Aufwärtskonvergenz verbunden: Eines der übergeordneten Ziele in den EU-Verträgen ist die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen.  

Auch die amtierende Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ließ sich nicht lumpen. In ihrer Bewerbungsrede vor dem Europäischen Parlament im Juli 2019 skizzierte sie ihr Kommissionsprogramm, das neben einem Rahmen für Mindestlöhne in Europa eine EU-weite Arbeitslosenrückversicherung sowie eine „Europäische Kindergarantie“, zur Bekämpfung von Kinderarmut und Stärkung der Teilhabe benachteiligter Kinder, enthält.  

Nur acht Monate später steht die EU vor der größten Herausforderung seit ihrem Bestehen. Es ist anzunehmen, dass der wirtschaftliche Einbruch und die gesellschaftspolitischen Folgen der Covid-19-Pandemie die EU stark verändern werden. Es stellt sich nunmehr die Frage: Wird die Europäische Union eine wirtschaftliche und soziale Konsolidierung durch konkrete Projekte vorantreiben oder in alte Muster zurückfallen und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit an erste Stelle setzen? Das Wiederaufbauprogramm für Europa – Next Generation EU – lässt zunächst hoffen, dass die EU eine sowohl wirtschaftliche wie auch soziale Konsolidierung anstrebt. Öffnet sich hier ein Möglichkeitsfenster, um die Austeritätspolitik der vergangenen Jahre durch eine neue sozialpolitische Agenda abzulösen?  

EU-Standards für existenzsichernde Entlohnung und zur Absicherung gegen die großen Lebensrisikenist das machbar? 

Das Motto der gegenwärtigen deutschen Ratspräsidentschaft „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ stellt die Bewältigung der Corona-Pandemie und die Beantwortung aktueller Zukunftsfragen in den Mittelpunkt ihrer Präsidentschaft. Das Ziel lautet: Europa soll stärker, gerechter und nachhaltiger werden. Auch die Trio-Präsidentschaft von Deutschland, Portugal und Slowenien hat sich vorgenommen, die Aufwärtskonvergenz in der EU langfristig zu fördern und den sozialen Zusammenhalt zu stärken.  

Die politische Agenda wird wesentlich auf die Folgen der Corona-Krise ausgerichtet sein – ein Vorschlag für eine permanente Arbeitslosenrückversicherung ist im Kommissionsprogramm bereits festgeschrieben sowie Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, die nach jüngsten Zahlen in manchen Ländern wieder in besorgniserregende Höhe gestiegen ist.  

Aufwärtskonvergenz durch fairere Löhne 

Existenzsichernde Entlohnung ist das Grundgerüst im Kampf gegen soziale und finanzielle Unterschiede in den EU-Ländern. Hier ist politisches Handeln überfällig. Schließlich gaben 52,4 Prozent der EU-Bürger_innen (EU 28) im Jahr 2016 an, einige Schwierigkeiten zu haben, mit ihrem Einkommen über die Runden zu kommen. Nach Abschluss der zweiten Phase der Konsultation der Sozialpartner hat die Mehrheit der Gewerkschaften sich für eine Richtlinie für Mindestlöhne ausgesprochen und die Kommission aufgefordert, tätig zu werden. Die Arbeitgeberverbände äußerten sich mehrheitlich kritisch zu dem Vorhaben.  

Dass die Kommission Ende Oktober 2020 wirklich einen Vorschlag vorlegen wird, um Mindeststandards für existenzsichernde gesetzliche Mindestlöhne zu verankern, ist ein Quantensprung hin zu mehr Konvergenz. Viel wird davon abhängen, wie genau der Kommissionsvorschlag aussieht und ob es gelingt, sich dabei auf eine Höhe von mindestens 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns zu verständigen. Das würde in vielen Mitgliedstaaten zu kräftigen Erhöhungen des derzeitig geltenden Mindestlohns führen, nicht zuletzt auch in Deutschland. Gleichzeitig sollte der Kommissionsvorschlag Maßnahmen enthalten, um die Tarifpolitik in der EU zu stärken. 

Von der Qualität des Vorschlags wird es auch abhängen, ob er im Rat die notwendige Unterstützung erhält. Die skandinavischen Länder erwarten dabei Garantien, damit ihre gut funktionierenden Tarifsysteme nicht unter Druck geraten und die Tarifautonomie gesichert bleibt. Das Europäische Parlament hat sich bereits für einen solchen Rahmen für Mindestlöhne ausgesprochen und die Kommission zum Handeln aufgefordert.  

Permanentes Instrument für zukünftige Krisen 

Die Debatte über eine europäische Arbeitslosenversicherung ist keineswegs neu. Im Rahmen der Folgenbekämpfung der Pandemie konnte jetzt aber ein erster Schritt in Richtung eines solchen Stabilisators gemacht werden. Mit dem temporären SURE-Instrument wird den Mitgliedstaaten finanzielle Unterstützung in Form von Darlehen gewährt, welche die EU zu günstigen Bedingungen bereitstellt. Diese Darlehen sollen den Mitgliedstaaten helfen, den plötzlichen Anstieg der öffentlichen Ausgaben zu bewältigen, der mit Maßnahmen zum Erhalt der Beschäftigung einhergeht. Darauf aufbauend könnte im nächsten Schritt das Versprechen der Kommissionspräsidentin umgesetzt werden, eine echte Arbeitslosenrückversicherung zu schaffen.  

Auch wenn SURE ein richtiger erster Schritt ist, lässt das Programm jedoch zu viele Menschen außen vor, insbesondere solche mit befristeten Verträgen. Das betrifft in vielen Ländern gerade junge Menschen. Deshalb ist es wichtig, nicht bei diesem ersten Schritt stehen zu bleiben, sondern eine echte, umfassende Arbeitslosenrückversicherung zu schaffen.  

Ein Rahmen für angemessene Mindesteinkommen in allen Mitgliedstaaten 

Ziel der 2020-Strategie war es, dafür zu sorgen, dass in der EU 20 Millionen weniger Menschen von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind. Dieses Ziel wurde klar verfehlt. Zu viele EU-Bürger_innen sind bislang nicht ausreichend geschützt. In vielen Mitgliedstaaten bestehen aktuell Defizite hinsichtlich der Angemessenheit und des Abdeckungsgrades der nationalen Mindestsicherung. Oftmals ist die Höhe dieser Absicherung nicht ausreichend, und häufig sind bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Jugendliche, Obdachlose, Asylsuchende oder Migrant_innen ausgeschlossen. Eine Studie des Europäischen Parlaments zeigt auf, dass die Unterschiede bei der Mindestsicherung immer noch sehr groß sind: Fast 119 Millionen Menschen in der Europäischen Union (23,7 Prozent der Bevölkerung) sind armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.  

Es ist das Verdienst des Europäischen Armutsnetzwerks, das Projekt European Minimal Income Network auf die EU-Agenda zu setzen und für eine EU-Rahmenrichtlinie zu werben, damit adäquate, niederschwellige, gut zugängliche Mindestsicherungssysteme in ganz Europa zugänglich werden. Gleichwohl übt sich die EU-Kommission – anders als beim Thema Mindestlöhne – hier in großer Zurückhaltung. Bisher sieht sie keine Rechtsgrundlage, auf deren Basis ein solcher Vorschlag vorgelegt werden könnte.  

Viele Mitgliedstaaten sind auf mobile Beschäftigte angewiesen 

Seit Inkrafttreten der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit für EU-Bürger_innen in den 1970er Jahren ist die Mobilität zwischen den EU-Staaten stetig gewachsen. Mehr als 17 Millionen Unionsbürger_innen arbeiten gegenwärtig in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihrer Staatsangehörigkeit (4,2 Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung im Jahr 2018); 1,5 Millionen Beschäftigte sind Grenzgänger_innen, die täglich oder wöchentlich in einen anderen Mitgliedstaat pendeln, um dort zu arbeiten. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie sehr die Länder auf die mobilen Beschäftigten etwa in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder im Gesundheitsbereich angewiesen sind. Paradoxerweise sind das meist die Bereiche, in denen Beschäftigte schlechter bezahlt und stärker ausgebeutet werden.  

Mit nur schwer zu kontrollierenden Subunternehmerketten, Scheinentsendungen und Schwarzarbeit nutzen einige Unternehmen die grenzüberschreitende Mobilität für einen Unterbietungswettbewerb zulasten arbeitsrechtlicher Standards und Gehälter. Die Missstände auf dem europäischen Arbeitsmarkt haben den politischen Druck so erhöht, dass auf EU-Ebene regulierend eingeschritten werden musste. In dieser und in der zurückliegenden Legislaturperiode sind hieraus wichtige Rechtssetzungsprojekte wie die Überarbeitung der Entsenderichtlinie und das Mobilitätspaket entstanden, durch die das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort sichergestellt werden soll.  

Der Skandal beim Schlachtbetrieb Tönnies mit dessen rücksichtslosen Verhalten gegenüber seinen meist osteuropäischen Werkvertragnehmer_innen und die Situation von Saisonkräften auf den Feldern Europas zeigt aber auf, dass in der EU wie in den Mitgliedstaaten einige Regelungslücken bestehen, die dringend geschlossen werden müssen.  

In einer Resolution hat das Europäische Parlament im Juni 2020 darüber hinaus deutlich gemacht, dass das existierende Lohngefälle zwischen den Mitgliedstaaten – von 12 Euro in Luxemburg bis 2 Euro in Bulgarien – und der Mangel an Konvergenz die Stabilität Europas gefährden können. Die niedrigen Lohnniveaus der südlichen und osteuropäischen Länder funktionieren als Push-Faktor und bieten den Menschen in vielen Fällen nur die Migration als einzige Perspektive auf Existenzsicherung. Während diese Mitgliedstaaten mit der Abwanderung von jungen, gut ausgebildeten Arbeitskräften zu kämpfen haben, nimmt in den Zuwanderungsländern der Lohndruck zu. Nicht nur gefährdet das die Akzeptanz der Freizügigkeit in Europa, gefährdet sind darüber hinaus das Vertrauen in das europäische Projekt und das damit einhergehende Wohlstandsversprechen.  

Soziale Mindeststandards als ökonomischer Stabilisator und gesellschaftlicher Kitt 

Aufwärtskonvergenz bei Löhnen gepaart mit fairen Regeln der Mobilität setzt an den Ursachen an und könnte dafür sorgen, dass wir eine Balance schaffen zwischen den Interessen der wirtschaftlichen Akteur_innen und den Bedürfnissen der Beschäftigten. Damit das gelingt, muss neben der nun bereits umgesetzten Entsenderichtlinie endlich auch die Verordnung für die Koordinierung zwischen den sozialen Sicherungssystemen überarbeitet werden.  

Die sogenannte Verordnung 883 ist das Herzstück europäischer Sozialpolitik und war die erste soziale Verordnung überhaupt, die von der Prämisse ausging, dass man bei allen nationalen Unterschieden für die soziale Absicherung von mobilen Beschäftigten sorgen muss. Sie enthält koordinierende Regeln zu den sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen, welche die mobilen Beschäftigten während ihrer Erwerbsbiografie im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Renteneintritt grenzüberschreitend erworben haben. Ziel der Revision der Verordnung ist es, die Gefahr des Leistungsverlusts zu mindern, Doppelzahlungen in die Sozialversicherungen zu vermeiden und die Bekämpfung von Missbrauch im Zusammenhang mit der Arbeitskräfteentsendung zu erleichtern. Sollte es gelingen, die Revision der Verordnung 883 tatsächlich zu vollziehen, wäre dies ein Quantensprung und würde in Zeiten der (andauernden) Krise zeigen, dass das europäische Sozialmodell noch lange nicht ausgedient hat.  

Keine Zukunft Europas ohne eine entwickelte Sozialunion  

Die anvisierte „Konferenz zur Zukunft Europas“ bietet die Chance, den Krisenmodus zu verlassen und die EU-Bürger_innen in die Gestaltung der Zukunft Europas einzubeziehen. Kernanliegen ist es, die Handlungsfähigkeit Europas zu stärken und eine demokratischere, sozialere und nachhaltigere EU zu schaffen. Die Debatte über die Sozialunion ist ein Teil davon.  

Seit Jahren fordern die europäischen Gewerkschaften Vertragsänderungen in Form einer sozialen Fortschrittsklausel, um sicherzustellen, dass die sozialen Grundrechte (endlich) den wirtschaftlichen Freiheiten gleichgestellt werden. Im Fall eines Konflikts soll den sozialen Grundrechten zukünftig Priorität eingeräumt werden. Progressive Parteien unterstützen diese Vertragsänderung. Die Änderungen der Europäischen Verträge sollten angesichts der bestehenden Probleme nicht ausgeschlossen werden. Außerdem bleibt zu hoffen, dass sich zudem die Erkenntnis weiter durchsetzt, dass Initiativen zur Verringerung der Ungleichheit – etwa durch einen europäischen Rahmen für Mindestlöhne, Mindesteinkommen – ,,größere Erfolgschancen haben, wenn die Länder gemeinsam vorgehen“.  

Der Reset in der europäischen Sozialpolitik ist zu Beginn dieser Legislaturperiode gemacht worden – nun gilt es, die Chance zu nutzen und echte Aufwärtskonvergenz mit einer neuen sozialpolitischen Agenda voranzubringen.  

 


Über die Autorin

Gabriele Bischoff ist seit Juli 2019 Abgeordnete des Europäischen Parlaments und arbeitet dort im Beschäftigungs- und Sozialausschuss (EMPL), dem Ausschuss für konstitutionelle Fragen (AFCO) sowie als stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON).


Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

 

 


Demokratisches Europa

Eine Politik für Europa muss in erster Linie von den Bürger_innen Europas getragen werden. Wir wollen daher wissen, welche Erwartungen die Menschen an die EU haben. Momentan ist eine kritische Einstellung weit verbreitet. Wie muss sich die EU verändern, damit das Vertrauen in sie wieder wächst? Wie kann die EU fairer, demokratischer und inklusiver gestaltet werden? Vor allem im Rahmen der politischen Bildung wollen wir einen Beitrag leisten, um ein Europa des Zusammenhalts zu befördern.

Ansprechpartnerin

Marie Meier

+49 30 26935-7418
Marie.Meier(at)fes.de

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