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#EUngleich: Die Fleißlüge

Wer nur hart genug arbeitet, wird früher oder später dafür belohnt – so lautet die neoliberale Versprechung. Wer auf die durchschnittliche Jahresarbeitszeit der Europäerinnen und Europäer blickt, könnte jedoch zu einem anderen Schluss kommen.

Symbolbild, arm, weil faul. Mann schläft zurückgelehnt am Schreibtisch, hat Kärtchen mit aufgemalten Augen auf seine Augen geklebt

Bild: 206925411 von Alina lizenziert unter Adobe Stock

Denn in Europa arbeiten die Menschen in den ärmeren Ländern – soweit sie denn einen Job haben – im Durchschnitt deutlich mehr als die Beschäftigten in den reicheren Ländern. Beispiel: Während ein polnischer Beschäftigter im Jahr durchschnittlich etwas mehr als 2000 Stunden arbeitet und ein griechischer 1915 Stunden, legt ein deutscher im Durchschnitt aller Beschäftigten schon nach 1300 Stunden sprichwörtlich die Hände in den Schoß.

Finanzkrise dank Faulheit?

Wir erinnern uns an die Eurokrise 2010: An den Kapitalmärkten versuchte man panisch, die Staatschulden einer ganzen Gruppe von Ländern loszuwerden. Abhilfe sollten schließlich Hilfsprogramme der Europäischen Union bieten, die ihre Unterstützung jedoch an fatale soziale Einschnitte knüpfte. Besonders in Deutschland mutmaßte man derweil gern, dass die Mittelmeerländer sich aufgrund ihrer Faulheit selbst in ihre nunmehr fatale Lage manövriert hätten. Griech_innen, Spanier_innen und Italiener_innen würden schlicht weniger hart arbeiten und sich stattdessen lieber auf die Unterstützung aus Deutschland (und anderen fleißigeren Ländern) verlassen. Ein Blick auf die Jahresstundenzahl dokumentiert jedoch eindrücklich, dass die tatsächliche Verteilung von Fleiß und Faulheit diesem Narrativ nun so gar nicht entsprechen mag. Diese Einsicht führt allerdings auch den weniger von Vorurteilen geprägten Beobachter zu der Frage: Wenn die Menschen dort so viel arbeiten, warum sind sie dann so viel ärmer, ihr  Prokopfeinkommen so viel niedriger?

Mehr Arbeit, weniger Wertschöpfung

Zwei Faktoren spielen dabei – schon rein rechnerisch – eine Rolle: Erstens die Stundenproduktivität, also die Wertschöpfung pro Stunde; und zweitens der Beschäftigungsgrad, d.h. der prozentuale Anteil derjenigen an der Gesamtbevölkerung, die überhaupt einer Arbeit nachgehen.  Tatsächlich sind Stundenproduktivität und Beschäftigungsgrad in Deutschland im europäischen Vergleich besonders hoch. 2015 lag die Wertschöpfung pro Stunde in Deutschland bei 54 Euro, in Griechenland hingegen nur bei 31 und in Polen mit 15 Euro noch einmal deutlich niedriger. Auch der Beschäftigungsgrad war in Deutschland besonders hoch und lag 2017 bei über 75 Prozent während er in Polen bei 66 und in Griechenland nur bei 53,5 Prozent liegt. Zusammengefasst: In Deutschland arbeiten also mehr Menschen weniger Stunden mit höherer Wertschöpfung. In dieser Beobachtung spiegelt sich auch der Wandel am deutschen Arbeitsmarkt wider, der nach 2003 im Zuge der Reformen der Agenda 2010 eintrat. Viele Vollzeitjobs wurden durch (oft schlecht bezahlte) Teilzeitjobs ersetzt. Dies erhöhte zwar die Beschäftigung, aber kaum das Wachstum. Außerdem stieg die Ungleichheit hierzulande deutlich an.

Wertschöpfung ist nicht gottgegeben!

Wer Produktivität als eine Art Naturgesetz betrachtet, liegt falsch. Viel wichtiger: Wer nun mutmaßt, anstatt schlichter Faulheit sei es eben die mindere Qualität der geleisteten Arbeit, die die Länder Südeuropas 2010 in die Krise schlittern ließ und weite Teile Osteuropas in der Niedriglohn- und Armutsfalle gefangen hält, denkt ebenfalls zu kurz. Entscheidend für die Produktivität ist nämlich in erster Linie der Kapitalstock eines jeweiligen Landes. Wem an der Erfüllung des Wohlstandsversprechens für alle Europäer_innen liegt, der muss sich vor allem auf eine Steigerung der Produktivität in den ärmeren Ländern konzentrieren. Für die dazu notwendige Erhöhung des Kapitalstocks sind vor allem Investitionen nötig – nicht nur in Anlagen, Maschinen und Infrastruktur, sondern auch in Forschung, Bildung und Gesundheit.

Ungleichheit in Europa

Nur noch wenige Wochen bis zur Europawahl am 26. Mai, und die Union steckt tief in der Krise. 75 Prozent aller Deutschen stimmen laut einer FES Studie derweil der Aussage zu, die meisten Probleme der EU seien auf soziale und wirtschaftliche Unterschiede zwischen ihren Mitgliedsstaaten zurückzuführen. Doch wie gravierend ist die Ungleichheit zwischen Stockholm und Athen, zwischen Dublin und Bukarest wirklich? Eine Frage, der wir in den kommenden Wochen nachgehen wollen. Verfolgen Sie uns dabei auch auf Twitter und Facebook.


Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa

Die Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa muss neu und vor allem gemeinsam gedacht werden. Damit sich die Krisen Europas nicht beliebig wiederholen, werden dringend progressive Konzepte benötigt. Doch welche Ideen von Wohlstandsgenerierung und Investitionsprogrammen gibt es? Wie können wirtschaftliche mit sozialpolitischen Maßnahmen verknüpft werden, so dass einerseits die Bewegungsfreiheit innerhalb Europas bestehen bleibt, andererseits aber auch soziale Sicherheit gewährleistet wird? Diesen Fragen wollen wir uns widmen und einen impulsgebenden Beitrag leisten.

Ansprechpartnerin

Marie Meier

+49 30 26935-7418
Marie.Meier(at)fes.de

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