Nigerias Bürger_innen werden öfter Opfer von Gewalt durch Militär und Polizei als durch Terroristen. Umgekehrt fühlen sich staatliche Sicherheitsorgane zu wenig in der bebölkerung anerkannt. Erste Annäherung durch Dialog.
Die Bürger_innen Nigerias fühlen sich alles andere als sicher: Mehr als 15.000 Menschen sind seit Jahresbeginn bei bewaffneten Auseinandersetzungen getötet worden. Den größten Anteil daran haben mit rund 3.400 Opfern staatliche Akteure, wie Armee und Polizei – noch vor weltweit bekannten Terrorgruppen wie Boko Haram. Doch wieso sind staatliche Sicherheitsorgane für Nigerianer_innen so gefährlich? Und was kann dafür getan werden, diese Gefahr zu verringern? Diese Fragen standen im Zentrum von insgesamt fünf 3-tägigen zivil-militärischen Begegnungen, die die FES in Kooperation mit der EU in Nigeria durchführte.
Nigerias vier Kernkonflikte – Militarisierung schreitet voran
Zumeist wird in Nigeria von vier Kernkonflikten gesprochen, von denen der überwiegende Teil der Unsicherheit für die Bevölkerung ausgeht: Dschihadistischer Terrorismus im Norden, Farmer-Herder-Konflikte in der Landesmitte, sezessionistische Bewegungen im Nigerdelta und ländliches Banditentum im gesamten Land. Die allgemeine Unsicherheit wird von den meisten Nigerianer_innen als das drängendste Problem des Landes angesehen, Lösungen sind jedoch kaum zu erkennen. Der nigerianische Staat versucht dem Problem vor allem durch den verstärkten Einsatz der Armee sowie der Aufrüstung diverser Polizeispezialeinheiten beizukommen. Insgesamt kann von einer zunehmenden Militarisierung der vier Kernkonflikte gesprochen werden. Hochgerüstete Armeeangehörige stehen so nicht mehr nur Boko-Haram-Terroristen in kriegsähnlichen Einsätzen gegenüber, sondern zunehmend einfachen Zivilist_innen – ob bei Demonstrationen oder Verkehrskontrollen. Immer wieder kommt es hier zu Zwischenfällen, oft mit tödlichem Ausgang. Diese eskalierenden Kernkonflikte und das historische Erbe von Kolonialismus und Militärdiktaturen, tragen den Hauptanteil dafür, dass das Vertrauen der Zivilbevölkerung in die eigenen Sicherheitsorgane immer weiter abnimmt. Umgekehrt sehen Soldat_innen und Polizist_innen in der Zivilbevölkerung oft nicht den Mitbürger und die Mitbürgerin ohne Uniform, sondern eher die potenzielle Bedrohung für das eigene Leben oder ihre privilegierte Stellung.
Zivil-militärischer Austausch – Den Menschen gegenüber sehen
Genau hier setzten die zivil-militärischen Begegnungen an, welche die FES Nigeria in Kooperation mit dem halbstaatlichen Institute for Peace and Conflict Resoltution (IPCR) und dem Civil Society Legislative Advocacy Center (CISLAC) entwickelt hat. Im Kern der gemeinsamen Zeit ging es für die Teilnehmer_innen aus Zivilgesellschaft, Militär und staatlichen Behörden darum, einerseits die eigene Konflikterfahrung aufzuarbeiten, und andererseits auch die Erfahrung des jeweiligen Gegenübers anzuerkennen. Jeweils 30-50 Teilnehmende aus verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen, Militäreinheiten, Ministerien und Behörden hatten drei intensive Tage für diesen Austausch Zeit. Wichtig war dabei vor allem das Ziel, den jeweils Anderen als Menschen und eben auch als Mitbürger_in zu sehen – mit oder ohne Uniform.
In Nigeria ist diese Form des offenen Austauschs nach wie vor alles andere als üblich. Viele Teilnehmende aus der Zivilgesellschaft berichteten von ihren Erlebnissen aus den verschiedenen Konfliktregionen. Immer wieder ging es um Erfahrungen von Schikanen, Korruption und Bedrohungen durch staatliche Sicherheitsakteure. Gerade die #EndSARS-Proteste gegen Polizeigewalt im Oktober 2020 und die autoritäre Reaktion der Sicherheitskräfte haben die voranschreitende Polarisierung und das gegenseitige Misstrauen mehr als deutlich gemacht. Nicht zuletzt auf der Tagesordnung stand die Erfahrung einer ganzen Generation junger Nigerianer_innen, besonders aus dem Norden und Nordwesten, die praktisch in bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen aufwachsen. Auch die Missachtung der Menschenrechte durch Terrororganisationen und separatistische Bewegungen, aber eben auch das nigerianische Militär wurden vorgebracht. Auf der anderen Seite beklagten die Angehörigen der verschiedenen Sicherheitskräfte die gefühlte Feindseligkeit der Zivilbevölkerung und fehlende Anerkennung für die persönliche Bedrohung von Leib und Leben im Kampf gegen den Terror. Für die meisten fehlte vor allem die moralische Unterstützung der ansässigen Bevölkerung. Auch das fehlende Training und die unzuverlässige Ausstattung kamen wiederholt zur Sprache. Hinter vorgehaltener Hand wurde außerdem die mangelhafte politische Führung der Einsätze kritisiert.
Natürlich konnten nicht alle diese Widersprüche in nur drei Tagen des Austausches ausgeräumt werden. Alle Teilnehmer_innen bestätigten jedoch, dass sich ihr Verständnis für die andere Seite deutlich verbessert hat. Die meisten waren im Anschluss an die Begegnungen der Meinung, dass nur durch den kontinuierlichen und offenen Austausch zwischen Militär, Polizei und Zivilgesellschaft die prekäre Sicherheitslage verbessert werden könnte. Auch die Rolle der anwesenden Medienschaffenden als Multiplikator_innen für ein solches Verständnis wurde unterstrichen. Nur ein stabiles gegenseitiges Vertrauensverhältnis sei die Grundlage für nachhaltigen Frieden in Nigeria.
Das „Security for All“-Projekt in Kooperation mit der EU – Die Arbeit geht weiter
Dieser Austausch war Teil des EU-geförderten „Security for All“-Projekts der FES in Westafrika. Ziel ist die Förderung menschlicher Sicherheit und die Beteiligung der Zivilgesellschaft an sicherheitspolitischen Angelegenheiten in den einzelnen Ländern sowie der weiteren ECOWAS-Region. In Zukunft sind weitere Seminare zum zivil-militärischen Austausch geplant – unter anderem solche exklusiv für Frauen. Sie sind Teil des neuen, vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts „Demokratische Beteiligung als Beitrag zur Stabilisierung in Afrikas Konfliktregionen“.