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von Norbert Walter-Borjans und Gustav Horn
Es muss sich etwas ändern. Die Corona-Pandemie hat wie schon die Finanzmarktkrise vor gut zehn Jahren schonungslos die Schwächen des europäischen Zusammenhalts in der EU offengelegt. Dies geschieht in einer Zeit aufkeimenden Nationalismus, gerade bei den Großmächten, die ihre Interessen im globalen Kontext mit immer größerer Hemmungslosigkeit durchzusetzen versuchen. Dem ist die EU in ihrer aktuellen Verfassung nicht gewachsen. Mehr noch, Zerfallserscheinungen wie der Austritt Großbritanniens und die Abkehr von europäischen Grundwerten seitens der Regierungen in Ungarn, Polen und Rumänien sind unübersehbar.
Europäischer Zusammenhalt ist demnach gegenwärtig gleichzeitig hoch gefährdet und dringend notwendig. Das gilt nicht nur politisch, sondern vor allem auch ökonomisch. Die globale Pandemie hat schließlich unsere wichtigsten Exportmärkte nicht minder getroffen als unsere eigene Volkswirtschaft. Es droht ein massiver Wohlstandsverlust, wenn es nicht gelingt, sie zu stabilisieren. Ein gemeinsames Vorgehen in der EU gegen die Corona-Krise mit einem Konjunkturprogramm, wie von der Bundesregierung und der französischen Regierung vorgeschlagen, ist ein kühner Schritt in diese Richtung. Aber er ist hart umkämpft.
Es geht schließlich nicht nur darum, eine gravierende Krise kurzfristig zu bekämpfen. Es geht vielmehr darum, die EU auf lange Sicht widerstandsfähiger und dynamischer zu machen. Das geht nur, wenn die Menschen in Europa die EU als ihre eigene und ihnen zugehörige Institution empfinden, die sich im Zweifel in den politischen Wirren und Gefahren dieser Zeit mit ihnen verbündet. Davon sind wir derzeit noch weit entfernt.
In vielen politischen Erzählungen unserer Tage ist die EU wahlweise ein Bürokratiemonster, ein Basar, eine finanzielle Transferanstalt zugunsten verschwenderischer Süd- und zulasten sparsamer Nordstaaten oder aber ein Treiber des Sozialabbaus. Man kann für das eine oder andere sogar einzelne Hinweise finden. Diese Vorwürfe gehen in ihrem Kern zwar weit an der Realität vorbei. Sie zeigen jedoch, dass es einen dringenden Reformbedarf gibt. Andernfalls nehmen die Bürger_innen die EU abstrakt und fern von ihrem Alltag wahr – und am Ende wird sich niemand mehr für sie einsetzen.
Die EU als Schutz- und Solidargemeinschaft
Die SPD sieht es als ihre Aufgabe an, einen politischen und ökonomischen Neustart für Europa anzustreben. Dazu gehört auch, die Sozialdemokratie in Europa zusammen mit unseren europäischen Partnern zu erneuern. Dazu gehört die Bildung einer europäischen Zivilgesellschaft, die sich das Leben der Menschen betreffende Themen aus europäischer Perspektive zu eigen macht und sie aus dieser Warte diskutiert. Dabei können und müssen sich europäische, nationale und grenzüberschreitende regionale Diskurse wechselseitig inspirieren.
Bisher besteht die Neigung, sich in Krisenzeiten im Nationalstaat zu verschanzen, weil nur er mit seinen Maßnahmen Schutz zu versprechen scheint. Das war schon in der Finanzmarktkrise so, und auch in der gegenwärtigen Krise war eine der ersten Reaktionen, die Grenzen zu schließen und auf nationale Maßnahmen zu vertrauen. Das basiert auf einer falschen Wahrnehmung moderner Wirklichkeit.
Wenn wir nicht auf die wirtschaftlichen Vorteile globaler Arbeitsteilung und den Freiheitsgewinn durch weitgehende Reisefreiheit verzichten wollen, dann müssen wir auch bedenken, dass immer wieder Krisen auftreten können, die sich global rasch ausbreiten. Wie sich schon im Verlauf der Finanzmarktkrise und jetzt auch in der Corona-Pandemie gezeigt hat, sind nationale Maßnahmen allein unzureichend, um moderne Krisen globalen Ursprungs und globaler Verbreitung zu bewältigen. Deshalb ist der erneuerte Schritt nach Europa so wichtig: Die SPD versteht die EU als eine Schutz- und Solidargemeinschaft, die die Widerstandsfähigkeit aller in Krisenzeiten stärkt.
Solidarität ist der Wert, der die SPD bei ihren Vorschlägen für eine gewandelte EU leitet. Das Ziel ist eine solidarische und demokratische Gemeinschaft, die dem Markt in Europa einen Rahmen gibt, damit er auf individuellen, sozialen und ökologischen Rechten aufbaut. Das hat Konsequenzen für den globalen Handel. Zugang zu diesem Markt darf nur erhalten, wer weltweit geltende ökologische und soziale Mindeststandards und individuelle Grundrechte einhält. Außerdem muss die EU vor dem Hintergrund des in einigen Staaten aufkeimenden nationalistischen Denkens als Garant von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung auch für seine Mitgliedstaaten fungieren.
Eine solche EU muss sich als politische und wirtschaftliche Einheit verstehen. Das hat politische Konsequenzen, die Mitglieder der EU stärker miteinander zu verbinden. Dazu müssen wir den Demokratisierungsprozess auf EU-Ebene vorantreiben. Es hat vor allem aber ökonomische Konsequenzen. Die EU muss sich als eine ausgereifte Binnenwirtschaft aufstellen. Mit Blick auf den Handel und die Niederlassungsfreiheit ist das schon längst Realität. Die Defizite liegen in den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, und genau das hat immer wieder die wechselseitige Solidarität belastet.
Paradigmenwechsel in der europäischen Fiskalpolitik
Ausgerechnet die Geldpolitik, die als einziges Politikfeld derzeit per Konstruktion gesamteuropäisch ausgerichtet ist, ist durch das hoch umstrittene Urteil des Bundesverfassungsgerichts in eine prekäre Rolle gedrängt worden. Es ist zumindest in Deutschland strittig, ob die EZB die gleichen Rechte wahrnehmen kann wie die Zentralbanken der außereuropäischen Industriestaaten. Insbesondere steht ihre Rolle als Gläubiger der letzten Instanz (Lender of Last Resort) zur Debatte. Das aber ist eine essenzielle Funktion einer Zentralbank. Denn in dieser Rolle garantiert sie die monetäre Stabilität des Währungsraums in Krisenzeiten. Hierzu gehört nicht zuletzt die Abwehr von spekulativen Attacken auf Staatsanleihen, die – wie das Beispiel Griechenland überdeutlich gezeigt hat – einen Staat erst finanziell und dann sozial in die Knie zwingen können. Wir treten dafür ein, die Schutzfunktion der EZB juristisch abgesichert zu stärken, um den Menschen in Europa eine höhere ökonomische Sicherheit in einem unsicheren globalen Umfeld zu geben.
Eine gravierende Lücke in der wirtschaftspolitischen Architektur Europas betrifft die Fiskalpolitik. Ihr kommt nicht nur eine entscheidende Rolle in Krisenzeiten zu, wenn es darum geht, die Wirtschaft durch erhöhte Ausgaben oder niedrigere Steuern zu stabilisieren und dabei die Beschäftigung zu sichern. Sie hat auch eine entscheidende Funktion als Treiber des technologischen Fortschritts – nicht zuletzt bei der Bekämpfung des Klimawandels und damit bei der Sicherung künftigen Wohlstands und guter Arbeit. Doch die Vielstaatlichkeit der EU hat bis zuletzt dazu geführt, dass es bislang eine durchgreifende EU-Fiskalpolitik aus europäischer Sicht nicht gibt. Das wurde zu Beginn der Corona-Krise erneut schmerzhaft deutlich, als zunächst Zuflucht zu nationalen Lösungen gesucht wurde. Erst der Vorschlag der Bundesregierung, über den Haushalt der EU-Kommission die Schäden in den am stärksten betroffenen Krisenländern zu bekämpfen, hat den Stillstand durchbrochen.
Die SPD tritt für einen Paradigmenwechsel in der europäischen Fiskalpolitik ein. Die EU-Kommission muss unter Kontrolle des Parlaments in die Lage versetzt werden, eine gesamteuropäisch ausgerichtete Fiskalpolitik zu betreiben. Finanziert werden sollte sie durch Beiträge der Mitgliedstaaten, eigene Steuern und durch Kreditaufnahme am Kapitalmarkt. Auf diese Weise sollen sich neue Möglichkeiten für wirtschaftliche Stabilität und höheren Wohlstand eröffnen. In Krisenzeiten erzeugt eine europäische Fiskalpolitik ein höheres Maß an Stabilität. Sie treibt den Aufbau europäischer öffentlicher Güter mit Blick auf Mobilität, Klimawandel und Bildung voran. Sie ist zudem in der Lage potenziellen industriellen Champions durch eine strategische Industriepolitik auf dem großen Binnenmarkt den Durchbruch zu erleichtern. Erst mit den erweiterten Möglichkeiten einer europäischen Fiskalpolitik werden nationale Schuldenregeln sinnvoll, die dann aber auch ökonomisch praktikabel konstruiert sein müssen.
Europaweite Standards in den Sozial- und Steuersystemen
Ein wichtiges Reformfeld betrifft die soziale Sicherung und die steuerliche Fairness. Beides, Sozialpolitik und Steuerpolitik, fällt nach wie vor in nationale Zuständigkeiten. Europas Stärke ist seine Vielfalt. Deshalb geht es auch bei der Ausgestaltung der Systeme von Besteuerung und sozialer Sicherung nicht um monolithische Lösungen. Aber gerade, wenn es gilt, Diversität zu bewahren, muss es in einem gemeinsamen und damit schrankenlosen Binnenmarkt klare Vereinbarungen geben, die ruinösen Wettbewerb ausschließen und die Sozial- und die Steuersysteme davor schützen, gegeneinander ausgespielt zu werden. Unternehmen und Einzelpersonen, die systematisch Einzahlungen in die Sozial- und die Steuersysteme vermeiden, verstoßen gegen europäische Solidarität. Europäische Mindestlöhne, soziale Mindeststandards, eine Mindestbesteuerung und die Angleichung von Besteuerungsgrundlagen sind wichtige Marksteine auf dem Weg zu Wohlstand, der allen Europäer_innen zugutekommt.
Die SPD setzt sich damit in der EU für eine Politik ein, die der sozialen Sicherung und der Gerechtigkeit den gleichen Rang einräumt wie der Handels- und Niederlassungsfreiheit. Die EU ist mehr als nur ein Binnenmarkt. Sie ist auch eine Wertegemeinschaft, in der Solidarität ein hohes Gut ist.
Norbert Walter-Borjans ist zusammen mit Saskia Esken Bundesvorsitzender der SPD.
Prof. Dr. Gustav Horn ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Duisburg-Essen und Mitglied des SPD-Parteivorstandes. Kürzlich erschien sein Buch „Gegensteuern - Für eine neue Wirtschaftspolitik gegen Rechts“.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
von Gabriele Bischoff
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von Georg Feigl
von Tom Krebs
von Norbert Kluge
von Reiner Hoffmann und Andreas Botsch
von Ulrike Guérot
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