In der ersten Woche der COP28 in Dubai wurden gleich mehrere wichtige Erklärungen abgegeben. Mehr als 100 Länder, darunter Brasilien, Kolumbien, Argentinien und Mexiko, verpflichteten sich, die Kapazitäten für erneuerbare Energien bis 2030 zu verdreifachen –ein ambitionierter Vorstoß, den der Präsident der COP28, Sultan Al Jaber, unterstützte.
In der Debatte um fossile Energie geht es inzwischen mehr und mehr darum, welche Nationen für welche Terminologie eintreten: „Ausstieg“ (Phase-Out) aus den fossilen Brennstoffen oder „Herunterfahren“ (Phase-Down). Diese Begriffe sind entscheidend, auch wenn sie sich scheinbar nur in Nuancen unterscheiden, und sorgen für Streit, denn Phase-Out steht für einen vollständigen Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe, während Phase-Down eine schrittweise Reduzierung ohne definitiven Endpunkt bedeutet.
Nicht so einfach auszumachen ist hingegen, wie diese Entscheidungen sich auf Lateinamerika und den Karibikraum auswirken. Es ist verlockend, sich der Meinung Fatih Birols anzuschließen: Der Chef der Internationalen Energieagentur (IEA) erklärte anlässlich der Vorstellung des Berichts Latin America Energy Outlook 2023, dass „Lateinamerika und der Karibikraum zu den Regionen gehören, die dieses Ziel erreichen können“. Die Wirklichkeit sieht jedoch deutlich komplexer aus.
Dem IEA-Bericht zufolge befindet sich die Region in einer günstigen Ausgangslage: Fossile Brennstoffe machen nur 66 Prozent des Energiemixes aus und liegen damit unter dem weltweiten Durchschnitt von 80 Prozent. Außerdem werden 60 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien gewonnen. Dennoch gibt es noch Spielräume für Verbesserungen. In dem Bericht wird davon ausgegangen, dass der Anteil der erneuerbaren Energien mit den bestehenden Maßnahmen bis 2030 von 60 Prozent auf 66 Prozent steigen und bis 2050 die 80-Prozent-Marke erreichen wird. Wenn die Länder ihre angekündigten Klimazusagen einhalten, könnte dieser Anteil sogar noch rasanter auf 70 beziehungsweise 90 Prozent steigen.
Aus anderen Quellen wie zum Beispiel einem in diesem Jahr veröffentlichten Bericht von Global Energy Monitor (GEM) geht hervor, dass die von Unternehmen angekündigten Vorhaben – einschließlich der Projekte, die sich in der Vorbereitungsphase oder im Bau befinden – die Windkraft- und Solarkapazitäten in der Region bis 2030 um mehr als 460 Prozent steigern werden.
„Wenn man diese vielen Gigawatt aus erneuerbaren Energien einrechnet, steht die Region gleich hinter China weltweit an zweiter Stelle“, so Gregor Clark, der bei der NGO Global Energy Monitor (GEM) federführend das Energieportal für Lateinamerika betreut.
Die Region hat noch einen weiteren Pluspunkt: Sie verfügt über wichtige Mineralien, die für den Ausbau erneuerbarer Energien unverzichtbar sind. José Antonio Vega vom Stockholmer Umweltinstitut (SEI), der den Production Gap Report mitverfasst hat, erklärt: „Mexiko, Chile und Peru produzieren 40 Prozent des Kupfers, während Chile 25 Prozent des Lithiums erzeugt, gefolgt von Argentinien (6 Prozent) und Brasilien (1,5 Prozent). Deshalb ist es wichtig, die Industrie für erneuerbare Energien mit der Branche zu verzahnen, die kritische mineralische Rohstoffe fördert, denn beide Industriezweige sind nicht vor Korruption gefeit.“
Genau hier wird das Gesamtbild noch komplexer. Großflächige Solar- und Windenergieprojekte in Lateinamerika führen zu sozialen und ökologischen Konflikten, die vor allem darauf zurückzuführen sind, dass lokale Bevölkerungsgruppen nicht genug eingebunden werden. Im kolumbianischen La Guajira, wo 31 Windkraftprojekte mit einer Leistung von 5 Gigawatt geplant sind, gibt es Kritik wegen der Vertreibung der indigenen Wayuu und der ungleichen Verteilung der Vorteile, die durch die Projekte entstehen. Auch im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Norte, in dem mehr als 240 der über 900 Solarparks des Landes stehen, führt die veränderte Energielandschaft nicht zu verbesserten Lebensbedingungen für die einheimische Bevölkerung.
Wie Rosa Lehmann und Anne Tittor in einem Beitrag für das Journal of Environmental Policy & Planning aufzeigen, werden gesellschaftliche Gruppen in Lateinamerika durch die Dekarbonisierungspolitik gleich dreifach benachteiligt: „Sie haben erstens durch den Klimawandel erhebliche Nachteile, obwohl sie zweitens aus globaler und historischer Sicht nicht viel zum Klimawandel beigetragen haben, und werden drittens im Zuge der Bekämpfung des Klimawandels ungerecht behandelt.“
Doch das Dilemma hat noch eine weitere Dimension. Die Energiewende in Lateinamerika scheitert derzeit auch daran, dass es keinen Plan gibt, wie die Abkehr von den fossilen Brennstoffen gelingen kann. „Wir brauchen nicht mehr Energie, wir brauchen eine Energiewende“, meint Vega.
Mexiko und Brasilien investieren in neue Motoren für ihre Ölgesellschaften Pemex und Petrobras. Brasilien will die Öl- und Gasproduktion bis 2032 sogar um 124 Prozent steigern. Und obwohl sich einige Länder wie zum Beispiel Kolumbien solchen Initiativen wie dem Vertrag über die Nichtverbreitung fossiler Brennstoffe anschließen, ist die Lage weiterhin widersprüchlich. „Derzeit werden drei Projekte für gasbefeuerte thermoelektrische Kraftwerke realisiert, die zwischen 2025 und 2026 in Betrieb gehen sollen“, so Vega.
Das Ziel, die erneuerbaren Energien in Lateinamerika und im Karibikraum zu verdreifachen, wird sich jedenfalls nur erreichen lassen, wenn dieser Prozess gerecht gestaltet wird und die Menschen daran beteiligt werden – und wenn der Grundsatz beherzigt wird, dass niemand zurückgelassen werden darf.
Aus dem Englischen Christine Hardung