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Tunesiens Wirtschaft steht an einem kritischen Punkt, der auch für die demokratische Transformation von hoher Bedeutung ist. Ob sich die Verschuldungskrise innertunesisch lösen lässt oder ein notwendiger Paradigmenwechsel erfolgt ist fraglich.
Als der tunesische Staatspräsident Kais Saied im Sommer 2021 seine ‚außergewöhnlichen‘ politischen Maßnahmen ergriff, indem er die amtierende Regierung entließ, das Parlament suspendierte und alle exekutiven Machtbefugnisse sich selbst übertrug, präsentierte er sich seinem Volk als Retter in größter Not. Sein Vorgehen richtete sich nicht nur gegen die herrschende, von der gemäßigt islamistischen Ennahda und ihren Verbündeten angeführte Elite und ihr schlechtes Management in der Corona-Krise, sondern sollte auch der seit der Revolution von 2011 anhaltenden Verschlechterung der Wirtschaftslage im Land ein Ende setzen. Das Ausbleiben einer sozio-ökonomischen Dividende des demokratischen Transformationsprozesses hatte diesen zunehmend in Frage gestellt. Saied Bestrebungen fanden Gehör. Der Anteil der Bevölkerung, der optimistisch nach vorn schaute, stieg nun wieder sprunghaft an.
In unmittelbarer Folge ließ der Präsident wiederholt verlauten, die Zukunft des Landes sei in innertunesischen Anstrengungen und Lösungen zu finden. Er widmete sich zunächst dem Grundproblem der tunesischen Wirtschaft: den prekären Staatsfinanzen. Dafür griff er zu eher unorthodoxen Ansätzen, in dem er implizit an die muslimisch-religiöse Moral seiner Landsleute appellierte. So forderte er alle Tunesier_innen, einschließlich der in der Diaspora Lebenden, zu einer freiwilligen Abgabe finanzieller Beiträge auf, um die Finanzierungsnot des Landes zu lindern. Dies ist eine klare Anlehnung an zakat, eine der fünf Säulen des Islams, die einen Muslim zur freiwilligen Sozialabgabe eines Teils seines Nettoeinkommens verpflichtet. Gleichermaßen rief er Groß- und Einzelhändler sowie Apotheker dazu auf, ihre Preise zu senken. In Konformität hierzu, letztlich aber konträr zur Inflation, forderte er auch den Banken- und Finanzsektor zu einer Zinssenkung auf.
Saied setzte zudem auf eine strafrechtliche Aussöhnung mit 460 Unternehmer_innen und Geschäftsleuten, um 13,500 Mrd Dinar (ca. 4,1 Mrd. EUR) veruntreuter Gelder wieder dem Staat und seinem Volk zuzuführen, in dem diese zur Finanzierung gemeinnütziger Sozial – und Infrastrukturprojekte eingesetzt werden sollten. Im Einklang mit dieser Haltung brachte er der internationalen Gläubigergemeinschaft, die bisher einen wesentlichen Teil der Ausgaben Tunesiens kreditfinanziert und im Gegenzug stets schmerzhafte wirtschaftliche Konzessionen verlangt, eine gewisse Gelassenheit, wenn nicht gar Arroganz entgegen.
Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Saieds Pläne, innertunesische Lösungen für die Finanzierungsprobleme zu finden, wurden vom Diskurs über die Alternativlosigkeit ausländischer, nicht nachhaltiger Kreditfinanzierung vollständig verdrängt. Die Entwicklungen der letzten Wochen zeigen, dass sich Tunesien auch wirtschaftspolitisch wieder in alten Fahrwässern befindet und die Katalogempfehlungen des aus dem Sprachgebrauch verschwundenen Washington-Konsensus erneut konsequent umsetzt. Das bedeutet, dass sich die Bevölkerung Tunesiens in den kommenden Jahren, trotz aller zusätzlicher Herausforderungen aufgrund der Covid-19-Pandemie und des Klimawandels, mit einer sich verschärfenden Sparpolitik arrangieren muss und dringend notwendige Investitionen in das Gemeinwohl Tunesiens und seiner Infrastruktur ausbleiben werden.
Mittlerweile hat Tunesien offiziell um ein neues Finanzierungabkommen mit dem Internationalen Währungsfonds gebeten. Grundlage der Verhandlungen stellt ein vom Präsidialamt ausgearbeitetes Reformprogramm dar. In diesem wird ein überwiegend über Kredite in Fremdwährung zu finanzierender ausstehender Finanzbedarf von 35,9 Mrd US-Dollar (ca. 31,7 Mrd. EUR) für die kommenden fünf Jahre veranschlagt.
Dafür wird Tunesien wieder stufenweise seine Subventionen reduzieren, öffentliche Unternehmen zerlegen, den öffentlichen Sektor durch Einstellungsstopps und Ruhestandsregelungen für Beamte reduzieren und seine Bevölkerung zum Beispiel durch zusätzliche indirekte Steuern belasten. Auch das jüngst verabschiedete neue Haushalts- und Finanzgesetz fügt sich hier nahtlos ein, zementiert Privatisierungsvorgaben zu Lasten einer staatlich orientierten Gemeinwohlpolitik und soll zudem als Grundlage für weitere Gesetzesvorhaben, die Tunesiens Weg in eine neoliberale Zukunft ebnen, dienen.
Dies ist umso tragischer, als diese Neuschulden zu einem erheblichen Teil nur der Begleichung von Altschulden dienen. Sie konkretisieren in keiner Weise, inwieweit diese Geldmittel das Land in die Lage versetzen sollen, in Zukunft wieder aus eigener Kraft zu wirtschaften. Gekoppelt an die zu erbringenden neoliberalen Reformen werden Tunesiens wirtschaftspolitische Möglichkeiten, auch den Herausforderungen der Pandemie und des Klimawandels zu begegnen, erheblich eingeschränkt.
Es sind gerade diese Herausforderungen, die in vielen Ländern des globalen Nordens zu einem radikalen Umdenken geführt und der dortigen Sparpolitik ein mindestens vorübergehendes Ende gesetzt haben. Als Antwort und in absolutem Kontrast zur Austeritätspolitik Tunesiens haben viele Länder des globalen Nordens massive neue Investitionsstrategien – die sogenannten Green New Deals - vorgestellt. Diese sind zunächst einmal makroökonomische Programme, die dem Staat wieder eine wesentliche Rolle in der Gestaltung der Wirtschaftspolitik zuweisen. Sie begründen den Rahmen, durch den das für eine grüne Transformation zur Klimaneutralität notwendige private und öffentliche Kapital mobilisiert werden soll. Neben technologischer Innovation und industrieller Transformation beinhalten diese Programme auch ganz klare soziale Ziele, um der jeweiligen Bevölkerung ein Leben in Würde und sozialer Sicherung zu garantieren.
So hat sich in vielen Ländern der Welt nach den schmerzhaften Erlebnissen der vergangenen Jahre ein Perspektiv- und Paradigmenwechsel vollzogen. In Deutschland wurde zum Beispiel beschlossen, die Tilgung der während der Pandemie aufgenommenen Corona-Schulden an die Tilgungsfristen der NEXT Generation EU-Schulden, anberaumt für den Zeitraum zwischen 2028 und 2058, anzupassen. Außerdem sollen während der Pandemie bereits veranlagte, aber nicht genutzten Kredite in den Klima- und Energiefonds übertragen werden können, wodurch sie an den geltenden Schuldenregeln der ab 2023 wieder greifenden Schuldenbremse vorbeigesteuert werden. Diese Schritte eröffnen der neuen Bundesregierung für die kommenden Jahre eine Verschnaufpause im Rahmen eines erheblich größeren finanzpolitischen Spielraums, den sie zur Umsetzung ihrer gemeinwohlorientierten Ziele nutzen kann.
Diese Beispiele zeigen, dass ein Umdenken politisch möglich und durchsetzbar ist. Tunesien sollte die Möglichkeit, sich eine Verschnaufpause zu verschaffen, nicht vorenthalten werden. Dies setzt neben einem Umdenken im Land selbst und eine Besinnung auf die eigenen Potentiale und Ressourcen auch ein wohlwollendes internationales Umfeld, allen voran die internationale Gläubigergemeinschaft, voraus. Auch Tunesien sollte in eine grüne und nachhaltige Zukunft investieren können, damit seine Bevölkerung in den Genuss sauberer und effizienter Energie, modernisierter Gebäude und nachhaltiger Landwirtschaftsproduktion kommen kann. Tunesien verfügt über massenhaft ungenutzte Ressourcen, allen voran vieler seiner Arbeitskräfte, natürliche Ressourcen und Sonnenschein, die es für eine nachhaltige Entwicklung und eine orthodoxere, an einen Green New Deal angelehnte Investitionsstrategie mobilisieren kann.
Deutschland und die neue Bundesregierung sollten Tunesien bei der Entwicklung einer solchen Strategie beratend zur Seite stehen. Ein erster guter Ansatz könnte sein, die jüngst im Ampelkoalitionsvertrag verankerte Expertise zur zukunftsorientierten Nutzung bundeseigener Unternehmen zu teilen. Anstatt bundeseigene Unternehmen abzubauen und stückweise zu verkaufen, werden diese in Deutschland durch den Zuschuss von Eigenkapital und Kreditermächtigungen gestärkt, so dass sie selbst eine aktivere Rolle in der Gestaltung und Durchführung der anstehenden Infrastrukturinvestitionen übernehmen können, ohne dadurch den Staat und seinen Haushalt zu belasten. Darüber hinaus bieten sich zweifelsohne viele andere gute Ansätze an, die es verdienen, näher untersucht zu werden. Klar ist, dass Tunesien einen kritischen Punkt auf seinem Entwicklungspfad erreicht hat. Weder ein sich jeglicher Verantwortung entziehendes „Weiter so“, noch eine Verpflichtung zu einschneidenden Reformprogrammen werden der Bevölkerung die dringend notwendigen sozio-ökonomischen Besserungen bescheren. Bleiben diese aus, wird Optimismus in Pessimismus umschlagen und dem Transformationswillen der Bevölkerung zunehmend das Momentum entziehen.
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