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von Paul Tang
Die Zeit der Zurückhaltung des Staates ist vorbei. Als die Märkte in den letzten beiden Krisen versagten, mussten die Regierungen einspringen und die Menschen und Unternehmen direkt unterstützen. Angesichts der großen Herausforderungen durch Klimawandel und soziale Ungleichheit ist es unwahrscheinlich, dass die staatlichen Ausgaben bald auf ihr Niveau vor Ausbruch der Covid-19-Krise zurückkehren werden. Die Frage ist nicht mehr, ob die Regierungen zusätzliche Einnahmequellen benötigen, sondern vielmehr, wo diese zusätzlichen Einkünfte herkommen sollen. Wer wird die Rechnung für die wirtschaftliche Erholung und den nachhaltigen wirtschaftlichen Wandel bezahlen? Wie können wir verhindern, dass die ärmsten Mitglieder unserer Gesellschaft erneut am härtesten getroffen werden? Wollen wir diese Fragen auf eine Art beantworten, die unsere progressiven Werte widerspiegelt, dann ist eine intensive EU-weite Zusammenarbeit unvermeidlich.
Die dreifache Herausforderung
Wir stehen vor drei großen Herausforderungen: Erstens müssen wir dringend unsere Wirtschaft schützen. So etwas wie den zehnprozentigen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in der EU aufgrund der Covid-19-Krise gab es in Friedenszeiten noch nie. Aber auch die Antwort der Regierungen ist beispiellos: In ganz Europa werden die Unternehmen massiv unterstützt und in erheblichem Maße Lohnzahlungen übernommen. Dass die Staatsschulden in der EU laut Schätzungen der EZB um etwa 20 Prozentpunkte ansteigen werden, muss kurzfristig nicht problematisch sein. Damit aber die Finanzmärkte darauf vertrauen können, dass die Schulden auch zurückgezahlt werden, müssen die Mitgliedstaaten die Investor_innen davon überzeugen, dass sie auch in Zukunft genügend Einnahmen haben. Da unklar ist, wie stark die Wirtschaft in Zukunft wächst, ist eine höhere Besteuerung der Weg, dies zuzusichern. Das anhaltende Rennen um die niedrigsten Steuersätze sowie massive Steuervermeidungsstrukturen der Digitalunternehmen und anderer Konzerne haben jedoch zu einer schnellen Verringerung der Steuereinnahmen vieler europäischer Staaten geführt. Wollen wir das Vertrauen bewahren, dass wir unsere Schulden auch zurückzahlen können, müssen wir uns um dieses Problem kümmern.
Die zweite Herausforderung, vor der wir stehen, ist die globale Erwärmung bzw. die Klimakrise. Die damit zusammenhängenden Gefahren sind gut dokumentiert, und die Menschen wollen Taten sehen. Bei der Bewältigung dieser Krise kann die EU-Steuerpolitik eine entscheidende Rolle spielen. Tatsächlich sind staatliche Steuern und Ausgaben wichtig, um zu garantieren, dass genügend Ressourcen verfügbar sind, um in erneuerbare Energien investieren, Gebäude isolieren und neue Technologien entwickeln zu können. Außerdem werden sie benötigt, um unser Verhalten stärker in Richtung von mehr Nachhaltigkeit zu lenken. So wird beispielsweise der Flugverkehr immer noch subventioniert und steuerlich begünstigt, und obwohl wir langsam damit beginnen, die Emissionen inländischer Produktionsprozesse stärker zu regulieren, können umweltschädliche Produkte, die außerhalb der EU produziert wurden, immer noch ungestraft in den Gemeinsamen Markt eingeführt werden. Die Umweltverschmutzer_innen sollten für den Schaden, den sie unserer Umwelt zufügen, stärker zur Kasse gebeten werden. Und die besten Methoden dazu sind Steuern und Einfuhrabgaben.
Die dritte Herausforderung geht vom ungezügelten Kapitalismus und von unregulierten Märkten aus, die zu mehr Ungleichheit führen. Laut der Datenbank World Inequalities Database ist der Einkommensanteil des reichsten Prozents der EU-Bevölkerung von 7,3 Prozent im Jahr 1980 auf 10,7 Prozent im Jahr 2017 gestiegen. Der Verlierer dieser Entwicklung war die Mittelklasse: Laut der OECD ist das Medianeinkommen in den vergangenen 30 Jahren verglichen mit den obersten zehn Prozent um 33 Prozent weniger gestiegen. Und während die Häuserpreise in den letzten zwei Jahrzehnten dreimal so schnell gestiegen sind wie das Medianeinkommen, ist die Kaufkraft der Mittelklasse in dieser Zeit höchstens konstant geblieben. Teilweise liegt dies an Veränderungen bei der relativen Steuerbelastung: Durch Steuervermeidung und Steuerwettbewerb gingen die (effektiven) Steuersätze auf Unternehmensgewinne, Kapitaleinkünfte und hohe Arbeitseinkommen zurück. Das aber sind genau die Arten von Einkommen, die unter den Reichen am stärksten vertreten sind. Zu unseren Bemühungen, die Ungleichheit zu verringern, muss demnach eine Neuausrichtung unseres Steuersystems gehören.
Die Suche nach Antworten
Glücklicherweise haben progressive wirtschaftliche Ideen seit der Finanzkrise stärker an Bedeutung geworden, sodass die politischen Antworten, die wir zur Bewältigung dieser dreifachen Herausforderung benötigen, bereits vorhanden sind. Und es gab auch bereits konkrete Schritte: Auf Initiative der G20 wurde die OECD beauftragt, durch ihre BEPS-Initiative (Base Erosion and Profit Shifting) Steuervermeidung und Steuerbetrug zu verhindern. In der ersten Runde dieser Initiative wurden 15 Aktionspunkte zur Neuausrichtung der globalen Steuerregeln aufgestellt – Regeln, die es den multinationalen Konzernen bisher ermöglicht hatten, ihre Gewinne künstlich in Niedrigsteuergebieten zu transferieren. Momentan findet eine zweite Runde statt, um grundlegende Fragen und Probleme zu bearbeiten, die in der ersten Runde ignoriert wurden. Dabei geht es beispielsweise um die Einführung einer globalen Untergrenze bei den Unternehmenssteuersätzen und um eine Neuregelung der Zuordnung von Gewinnen von (digitalen) Konzernen. Um Druck auf die internationalen Verhandlungen auszuüben, muss die EU allerdings gewährleisten, dass sie, sollten die multilateralen Gespräche scheitern, auch unilateral handlungsfähig ist.
Die EU ist dazu grundsätzlich bereit. Mit der Definition einer steuerpolitisch relevanten digitalen Präsenz und einer Steuer auf digitale Dienstleistungen hat sie Regeln vorgeschlagen, mit denen bestimmt werden kann, wo und in welcher Höhe Digitalkonzerne besteuert werden sollten. Mit einer EU-Digitalsteuer könnte die Entwicklung hin zu einem fairen Steuersystem unterstützt werden, die Anreize für nationale Regierungen, eigennützige Steuervereinbarungen zu treffen, könnten verringert werden, und es würden reale Ressourcen – bis zu 5 Milliarden Euro pro Jahr – generiert werden, die in wichtige EU-Projekte gelenkt werden könnten. Allerdings vermeiden auch andere Unternehmen die Zahlung von Steuern, beispielsweise indem sie innerbetriebliche Kredite oder die Methode der Verrechnungspreise für die Nutzung intellektuellen Eigentums dazu verwenden, Gewinne in steuerbegünstigte Rechtsräume umzuleiten. Daher muss eine Digitalsteuer als Vorbild für tiefergehende Veränderungen dienen und letztlich – über eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage – in eine vollständige Umgestaltung der europäischen Besteuerungsregeln integriert werden. So würde ein gemeinsames Regelwerk zur Berechnung steuerpflichtiger Einkünfte in der EU geschaffen. Dies kann die Komplexität für grenzüberschreitende Unternehmen verringern und mögliche Wege zur Steuervermeidung blockieren.
Gleichzeitig richtet sich die allgemeine steuerpolitische Diskussion immer stärker an den zunehmenden Forderungen der Bürger_innen aus, das Problem des Klimawandels zu lösen. Dabei spielen grüne Steuern eine immer wichtigere Rolle. Mit dem Emissionshandelssystem (EHS) der EU verfügen wir über ein Werkzeug, um Umweltverschmutzer_innen dazu zu bringen, für den Schaden zu zahlen, den sie der Umwelt zufügen. Allerdings ist dieses Werkzeug weit davon entfernt, perfekt zu sein: Schlüsselsektoren wie beispielsweise der Transport- und der Wärmesektor können nicht effektiv einbezogen werden, und auch Fabriken außerhalb der EU werden von diesem System meist nicht erfasst, was zu einem unfairen Wettbewerb führt und zur Folge hat, dass der weltweite Charakter des Klimawandels nicht einbezogen wird. Hier können Steuern und Zölle helfen. Die EU-Energiesteuerrichtlinie, die aus dem Jahr 2003 stammt, soll bald überarbeitet werden. Dies bietet die Chance, die Untergrenzen für Verbrauchsteuern und Abgaben zu erhöhen, die bisher nicht an die Inflationsentwicklung angepasst werden konnten, und es ermöglicht, Kerosin endlich ähnlich wie andere Treibstoffe zu besteuern. Darüber hinaus kann die EU über ein Kohlendioxid-Grenzausgleichssystem für einen fairen Wettbewerb zwischen Importeur_innen und EU-Produzent_innen sorgen, indem sie entsprechend der bei der Produktion der Güter verursachten Emissionen Einfuhrabgaben erhebt.
Der demokratische Preis für nationale Souveränität
Obwohl wir ganz offensichtlich die nötigen Ideen haben, um die EU-Fiskalpolitik als wichtiges Mittel für eine stabilere, gerechtere und nachhaltigere Zukunft verwenden zu können, lässt deren Umsetzung immer noch zu wünschen übrig. Dabei sind über 80 Prozent der Einwohner_innen von sechs nordeuropäischen EU-Mitgliedsländern davon überzeugt, es sei eine gute Idee, große Digitalunternehmen zu besteuern, und 75 Prozent der Europäer_innen wollen, dass die EU mehr gegen Steuerbetrug und Steuervermeidung tut. Allerdings hat sich gezeigt, dass kleine Mitgliedstaaten das Prinzip der Einstimmigkeit, das hier von den EU-Verträgen gefordert wird, dazu nutzen können, mehrheitsfähige Vorschläge zu blockieren, die von der Mehrheit der Europäer_innen ganz klar unterstützt und gewünscht werden. Dafür, dass die Mitgliedstaaten hier auf ihrer nationalen Souveränität bestehen, zahlen sie einen hohen demokratischen Preis. Tatsächlich sprechen sich auch Mitglieder der nationalen Parlamente zunehmend für Entscheidungen auf Mehrheitsbasis aus – oder setzen sich zumindest nicht aktiv dagegen ein.
Während einzelne Länder kurzfristig davon profitieren können, dass sie durch ihr Vetorecht Fortschritte blockieren, müssen langfristig alle den Schaden dafür tragen. Die Folge des Prinzips der Einstimmigkeit ist, dass der Status quo verlängert wird, und wenn die Politiker_innen das Regelwerk nicht an eine sich schnell verändernde Welt anpassen können, verliert der Status Quo seine Effektivität. Im Bereich des Steuerrechts bedeutet dies, dass der ständige Konkurrenzkampf der Länder um immer niedrigere Steuersätze weitergeht, was die Steuervermeidung und die Ungleichheit verstärkt. Große multinationale Konzerne können dann selbst entscheiden, wo sie Gewinne machen bzw. ausweisen und wo sie Unternehmenssteuern zahlen. Dies setzt einzelne Länder unter Druck, mindestens die Steuerkürzungen der anderen Länder mitzumachen, die dabei aggressiver vorgehen. So verlieren alle. Wir brauchen daher EU-weite Standards, um Alternativen zu formulieren. Aber nur wenn wir das Vetorecht gegen steuerpolitische Entscheidungen begrenzen, haben diese Alternativen die Chance, sich durchzusetzen.
Der Weg nach vorn
Während wir in den hier angesprochenen Bereichen um Fortschritte kämpfen, müssen wir zusätzlich auch noch andere mögliche Wege zum Handeln suchen. Zuallererst, indem wir uns auf die EU-Mitgliedsländer konzentrieren, die ebenfalls Steuervermeidung befördern bzw. dazu beitragen. Nachdem das Europäische Parlament im März 2019 eine Liste mit sieben „EU-Steueroasen“ verabschiedet hat, die aggressive Steuerplanung bzw. -optimierung befördern, sollten die Kommission und das Parlament jetzt für jedes dieser Länder einen klaren Handlungsplan entwickeln, um sie wieder in Einklang mit akzeptablen Besteuerungspraktiken zu bringen. Dazu gehört, für alle Gewinne, die ein Unternehmen in einem dieser Mitgliedstaaten erwirtschaftet, eine Untergrenze bezüglich der Höhe der Unternehmenssteuersätze von mindestens 18 Prozent einzuführen – einschließlich jener Gewinne, die beispielsweise durch die Nutzung von Zinszahlungen und Lizenzgebühren in Steueroasen verlagert wurden. Eigennützige Steuerregeln sind ein klarer Fall von Wettbewerbsverzerrung im Gemeinsamen Markt. Es ist höchste Zeit, dass sich die EU um solche Verzerrungen kümmert, indem sie die spezielle „Vorgehensweise nach Artikel 116“ nutzt, für die keine Einstimmigkeit erforderlich ist. Wenn sie dies tut, ist das Europäische Parlament bereit, sie dabei zu unterstützen.
Ein weiterer gangbarer Weg für die EU besteht darin, jene multinationalen Konzerne zu besteuern, die am meisten vom Gemeinsamen Markt profitieren – und von den ständigen Bemühungen der EU, diesen Markt angesichts von Covid-19 zu schützen. Obwohl die Beseitigung der Handelsbarrieren innerhalb der EU die Kosten für Unternehmen, die EU-weit tätig sind, massiv verringert hat, wurden sie bislang nicht aufgefordert, hierzu einen Beitrag zu leisten. Mit einer kleinen Abgabe, die für die größten Unternehmen auf bis zu 250.000 Euro steigen würde, könnte die EU jährlich über 10 Milliarden Euro einnehmen und damit ihre Bemühungen, einen integrierten Wirtschaftsraum zu etablieren und diesen zu sichern, stärken. Eine EU-weite Alternative könnte auch eine Steuer auf Überschussgewinne von Unternehmen sein, die – wie die Supermarktketten – ihren Profit während der Covid-19-Pandemie erheblich steigern konnten. Um die Kosten der Pandemie fair zu verteilen, sollten in ganz Europa Vermögensteuern eingeführt werden. Wir müssen zudem weiterhin an einer Finanztransaktionssteuer arbeiten, um den Beitrag des Finanzsektors zu erhöhen und schädliche spekulative Handelspraktiken zu verringern. Ein letzter wichtiger Handlungsbereich für die EU besteht schließlich darin, zentrale Zugänge zu bzw. Hüter_innen von unserem Steuersystem stärker zu regulieren: die Buchhalter_innen, die Wirtschaftsprüfer_innen und die Steueranwält_innen.
Eine zukunftssichere EU-Steuerpolitik
Die beispiellosen Herausforderungen, vor denen wir stehen, werden immer größer. Natürlich reichen Änderungen der Steuerpolitik allein nicht aus, um soziale Missstände zu beheben, aber sie sind nötig. Ohne Bemühungen, die Steuervermeidung in aller Welt zu verhindern, grüne Steuern einzuführen und die Art zu überdenken, wie wir Digitalunternehmen, multinationale Konzerne und reiche Privatleute in Europa besteuern, werden wir nicht in der Lage sein, uns auf faire und nachhaltige Weise von der Covid-19-Krise zu erholen. Nach der Finanzkrise wurden wichtige neue Ideen für eine faire Besteuerung entwickelt. Einige von ihnen wurden zwar bereits umgesetzt, aber zu viele von ihnen noch nicht. Die aktuelle Gesundheits- und Wirtschaftskrise zeigt, dass wir eine starke Regierung brauchen, um unsere Gesundheit, unsere Arbeitsplätze und unsere Umwelt zu schützen. Dazu gehört auch eine passende Steuerpolitik. Lasst uns unsere Zurückhaltung aufgeben und endlich den Mut haben, unsere Unternehmen und reichen Mitbürger_innen angemessen zu besteuern. Die Zeiten haben sich geändert. Und es ist höchste Zeit, dass die europäische Steuerpolitik nachzieht und den Herausforderungen gerecht wird. Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt.
Paul Tang ist seit 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments, wo er sich vor allem mit den Themen faire Besteuerung, digitale Rechte und nachhaltige Finanzen beschäftigt. Seit September 2020 ist er Vorsitzender des neu eingerichteten Unterausschuss Steuerangelegenheiten des Parlaments.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
von Adalbert Winkler
von László Andor
von Justin Nogarede
von Eveline Herfkens
von Daniel Seikel
von Jörg Bibow
von Silke Tober
Leitung
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