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Das Jahr der Zeitenwende - Am Beginn eines Prozesses

Putins Angriffskrieg hat Europa verändert. Auf absehbare Zeit leben wir in einer Zeit erheblicher internationaler Turbulenzen. Die Antwort muss sein: Die EU muss gestärkt werden.

Martin Schulz blickt in seinem Beitrag zurück auf das vergangene Jahr und skizziert vor welchen Debatten Deutschland und Europa stehen.

 

Der November 2021 war noch eine andere Zeit. Ich reiste als Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung nach Moskau um die Arbeit der Stiftung zu fördern, unsere Partner in der Zivilgesellschaft kennenzulernen und zu unterstützen und den Dialog mit russischen Offiziellen aufrecht zu erhalten. Ein Dialog, in den wir damals noch Hoffnung legten. Unter anderem traf ich den russischen Außenminister Sergej Lawrow sowie den Kremlsprecher und Putin-Einflüsterer Dmitri Peskow. Nichts deutete auf den dramatischen Bruch hin, den Russland am 24. Februar 2022 vollziehen würde. Putins aggressiven Forderungen zur faktischen Neuordnung Europas im Dezember 2021 ließen aufhorchen, konnten aber noch als besonders rabiate Verhandlungsmethode betrachtet werden. Mit dem Einmarsch in die Ukraine war hingegen klar: Wir befinden uns in einer neuen Welt.

 

Die Phase, in der ein Europa im Geiste der Charta von Paris aufgebaut werden sollte, in dem die Demokratie die einzige Staatsform sein und kooperative Sicherheit die Verhinderung von Konflikten bringen sollte, war vorbei. Kaum jemand hätte vor einem Jahr gedacht, dass wir wieder einen klassischen konventionellen Eroberungskrieg in Europa haben könnten und uns über die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen unterhalten müssten. Diese Themen waren in weiten Teilen Europas durch die Gewöhnung an den Frieden aus der Debatte und dem gesellschaftlichen Bewusstsein verschwunden.

 

Europa musste zunächst verstehen, was in der Ukraine geschah. Und obwohl der Schock über die russische Invasion in vielen Ländern tief saß, gelang es innerhalb kürzester Zeit, ein nie dagewesenes Sanktionspaket zu schnüren, das kontinuierlich, auch gegen Widerstände, verschärft wurde. Die Frage aber, wie wir uns jenseits der schon erprobten wirtschaftlichen Sanktionsmittel verhalten sollten, brauchte länger. Natürlich waren unsere östlichen Partner, die aufgrund ihrer historischen Erfahrungen eine andere Sensibilität für Russland haben, schneller und fordernder. Die großen Nationen in der Mitte Europas - Frankreich und Deutschland - wollten ihrer Rolle und vor allem auch ihrem Selbstverständnis als Vermittler mit Russland zunächst gerecht werden. Deutschland hat sich seine Integration in die westliche Welt durch größtmögliche Distanz zu seiner kriegerischen Vergangenheit erarbeitet und tut sich folglich besonders schwer mit der aktiven Unterstützung militärischer Gewalt in Konflikten. Unsere Rolle als Vermittler und als Beförderer von Verhandlungslösungen ist uns wichtig. Sie erleichterte aber nicht gerade die Reaktion auf einen Krieg, der so kompromisslos und brutal von Seiten Russlands geführt wird.

 

Ein Jahr nach Kriegsbeginn ist Putin bereits jetzt gescheitert

 

Ein Jahr nach Kriegsbeginn ist einiges deutlicher: Der Herrscher im Kreml hat keines seiner Kriegsziele erreicht. Putin ist schon jetzt gescheitert. Am Mut und am ungebrochenen Widerstand der Ukrainer_innen. An der westlichen Solidarität. Und an seinem eigenen Wahnsinn. Die Ukraine wehrt sich tapfer und ungebrochen. Sie ist im Zeitpunkt des Überlebenskampfes mehr zur Nation geworden als Putin es ihr je zugestehen wollte. Der politische Westen hat zu neuer Einigkeit gefunden und die NATO, vor kurzem noch als „hirntot“ bezeichnet, erwartet mit Schweden und Finnland neue, starke Mitglieder. Zugleich ist Russland deutlich geschwächt und zwar auf lange Sicht, auch wenn es dank seines Nukleararsenals und seiner Ressourcen sicherlich noch den Status einer wichtigen Macht in Europa behalten wird. Die Mitglieder der EU haben ihren Willen zur Solidarität mit jenen, die nach Freiheit streben, deutlich gemacht. Zugleich zeigte sich, dass die EU diese Solidarität nicht in allen Bereichen eigenständig erweisen kann. Ein weiteres Mal in Europas Geschichte wurde die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen deutlich. Ohne die USA hätten wir der Ukraine nicht in diesem Maße helfen können.

 

Dieses erste Jahr der Zeitenwende hat uns die Realität vor Augen geführt, die wir nun auf absehbare Zeit anerkennen müssen: Wir werden eine Phase erheblicher internationaler Turbulenzen, wechselnder Konflikte und Allianzen sowie abnehmender Bedeutung sowohl der liberalen Weltordnung als auch globaler Normen und Institutionen erleben. Um durch diese Zeit zu kommen und zwar aktiv handelnd und nicht nur reagierend, kann es nur ein Mittel geben: Die EU muss gestärkt werden.

 

Nur gemeinsam werden wir noch eine eigenständige Stimme haben. Nur gemeinsam werden wir den existierenden und kommenden Gefahren eigenständig begegnen können. Die bisher geleistete Unterstützung der USA sollte uns nicht dazu verleiten, uns in Sicherheit zu wiegen. Zum einen gilt die Aufmerksamkeit der USA in zunehmendem Maße dem pazifischen Raum und zum anderen gibt es keine Garantie, dass zukünftige Präsidenten sich im Ernstfall ähnlich verhalten werden. Die EU muss ihre eigene Sicherheit und die ihrer direkten Nachbarschaft im Blick behalten und weiter stärken.

 

Die EU muss widerstandsfähiger werden: militärisch, aber auch gesellschaftlich

 

Olaf Scholz hat in seiner Prager Rede im Sommer 2022 bereits beschrieben, welche Möglichkeiten es gibt, die EU außenpolitisch handlungsfähiger zu machen. Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir die europäische Verteidigungsfähigkeit erhöhen; und zwar gemeinsam und koordiniert. Damit ist allerdings nicht nur das Militärische gemeint. Konflikte werden schon heute und noch in Zukunft noch stärker auch auf gesellschaftlicher Ebene ausgetragen, über gezielte Falschinformationen, Beeinflussung von demokratischen Prozessen bis hin zu gekaufter Manipulation von Wahlen oder Cyberangriffen auf unsere kritische Infrastruktur. Angriffspunkte sind dabei auch die Bruchstellen der zunehmenden sozialen Spaltung in unserem Alltag und unserem täglichen Leben. Das dürfen wir nicht länger zulassen. Wir müssen uns darauf einstellen, unser Haus Europa und unsere Demokratien zu stärken, durch Aufklärung, Bildung und Information.

 

Deutschland muss vorangehen; um Vertrauen für die Reformschritte werben und deutlich machen, dass wir bereit sind, in dieses gemeinsame Projekt Europa weiter zu investieren. Vor allem gilt es, dies in engstem Verbund mit Frankreich zu tun und die Sorgen und Interessen unserer EU-Partner im Osten wahr- und ernst zu nehmen. Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass Deutschland sich ohne zu zögern für die Sicherheit unserer östlichen Nachbarn einsetzt.

 

Für eine aktive Rolle Deutschlands bedarf es auch eines erneuerten gesellschaftlichen Selbstverständnisses über Deutschlands Rolle in Europa. Die Debatte dazu steht auch ein Jahr nach der Zeitenwende noch am Anfang.

 

Für diese Debatte wird es wichtig sein zu akzeptieren, dass wir vorerst nicht zu einem Status von vor der Krimannexion zurückkommen, sondern mit Krisen und Problemen werden leben müssen. Und es wird wichtig sein zu akzeptieren, dass Deutschland eine aktivere Rolle übernehmen muss, um die EU zu stärken und die Reformen anzugehen. Diese Rolle steht uns einerseits aufgrund unserer wirtschaftlichen Größe gut an, andererseits müssen wir erst in sie hineinwachsen. Damit sie von anderen akzeptiert wird, müssen unsere Partner verstehen können, welche Interessen wir verfolgen und welche Ziele wir anstreben. Sie müssen auch erkennen können, dass wir die Kapazitäten haben oder aufbauen, die zur Verfolgung der gemeinsamen Ziele notwendig sind. Und sie müssen Vertrauen darin haben, dass wir unsere Fähigkeiten in den Dienst der gemeinsamen Sache stellen.

 

Mit seiner wichtigen Rede zur Zeitenwende hat Olaf Scholz diesen Prozess zur Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik vor einem Jahr angestoßen. Darüber hinaus hat Lars Klingbeil in seiner Grundsatz-Rede beim Zeitenwende-Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung wesentliche sozialdemokratische Punkte in diesen Prozess eingebracht. Um diesen Diskussionsprozess konsequent voran zu treiben, bedarf es noch vieler Debatten in Deutschland, mit allen Teilen unserer Gesellschaft, und mit unseren Partnern in Europa. Das ist mühsam, aber am Ende steht ein stärkeres, geeinteres und friedlicheres Europa.

 

Martin Schulz ist seit 2020 Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung und kandidierte 2017 für das Amt des Bundeskanzlers. Zuvor war er Präsident des Europäischen Parlaments.  


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