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Wie geht die Türkei mit dem Thema Fluchtmigration aus Afghanistan um? FES-Büroleiter Henrik Meyer in Istanbul gibt Einblick im Interview.
Wie werden die aktuellen politischen Entwicklungen in Afghanistan von der türkischen Politik und den Medien kommentiert und eingeschätzt?
Die türkische Politik schaut parteiübergreifend mit großer Sorge nach Afghanistan. Türkische Truppen sind dort seit Jahren ein wichtiger Bestandteil der ISAF-Mission bzw. deren Nachfolgemissionen, türkische Soldaten befanden sich bis letzte Woche noch im Land um den Betrieb am Flughafen Kabul aufrechtzuerhalten. Das Scheitern der Militärmission – und als solches wird es auch in der Türkei wahrgenommen – fällt also auch auf die Türkei zurück.
Trotzdem gibt es einen wichtigen Unterschied zu den westlichen Verbündeten in der Beurteilung der politischen Lage nach dem Abzug der Koalitionstruppen. Die Türkei hat zu keinem Zeitpunkt davon gesprochen, den Kontakt zur Regierung der Taliban abzubrechen. Im Gegenteil: Die Türkei will auch in einem von den Taliban regierten Afghanistan eine wichtige Rolle spielen. Die türkische Regierung hat etwa mehrfach angeboten, die Kontrolle des Flughafens Kabul auch nach Abzug der Truppen zu gewährleisten und verhandelt darüber aktuell mit den Taliban. Auch scheint Ankara die türkische Botschaft in Kabul weiter offen zu halten und einen Botschafter vor Ort zu haben. Man erhofft sich, durch die günstige kulturelle und geostrategische Position in eine diplomatische Mittlerrolle zu kommen und Gesprächskanäle offen halten zu können. Für die Türkei käme dies einer außenpolitischen Aufwertung gleich, die auch mit wirtschaftlichen Vorteilen beim Wiederaufbau Afghanistans einhergeht. Die Taliban haben zuletzt wiederholt Signale nach Ankara gesendet, dass diese Rolle der Türkei durchaus erwünscht ist.
Wesentlich besorgniserregender als der politische Umsturz in Afghanistan, ist aus Sicht der Regierenden in der Türkei die Entwicklung der Flucht- und Migrationsbewegungen.
Die Türkei ist das größte Aufnahmeland weltweit. Laut UNHCR leben hier 4,1 Millionen Flüchtlinge und Asylsuchende, davon über 3,6 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge und 330.000 Schutzsuchende anderer Nationalitäten, hauptsächlich aus Afghanistan, dem Irak und dem Iran. Wie würden Sie die Lebensbedingungen dieser Menschen, insbesondere der afghanischen Geflüchteten, beschreiben?
Hier gilt es zu differenzieren. Die syrischen Flüchtlinge genießen in der Türkei subsidiären Schutz, haben Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem und mit Einschränkungen auch zum regulären Arbeitsmarkt. Sie erhalten Hilfszahlungen seitens des UNHCR und sind dezidierter Bestandteil des Flüchtlingsabkommens zwischen der Türkei und der EU. Im Vergleich zu den anderen von ihnen erwähnten Gruppen sind die syrischen Flüchtlinge also noch gut gestellt, wenngleich zivilgesellschaftliche Organisationen immer wieder auf die prekäre Situation in den Gegenden hinweisen, in denen besonders viele syrische Flüchtlinge leben. Und natürlich ist das Leben aller syrischen Flüchtlinge grundsätzlich von Unsicherheit geprägt, da niemand weiß, ob ihr Schutzstatus eines Tages aufgehoben wird.
Das ist jedoch kein Vergleich zur Lage der afghanischen Geflüchteten. Dies beginnt bereits bei der Statistik. Manche Organisationen, die sich mit Fragen von Flucht und Migration befassen, gehen von bis zu einer Million Menschen aus Afghanistan aus, die sich in der Türkei aufhalten. Da diese keinen UNHCR-Flüchtlingsstatus besitzen, sind sie weitgehend undokumentiert und von der Statistik nicht erfasst. Anders als die syrischen Flüchtlinge haben sie keinen Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem und sind ausschließlich in der informellen Wirtschaft tätig. Der übergroße Teil männlicher Geflüchtete arbeitet meist zu Hungerlöhnen in der Bau- und Gastronomiebranche und führt allerlei Hilfstätigkeiten als Tagelöhner aus, etwa in der Landwirtschaft.
Trotzdem zeigt die Erfahrung, dass ein relevanter Anteil der afghanischen Geflüchteten seine Zukunft dauerhaft in der Türkei sieht und weder zurück nach Afghanistan, noch weiter nach Europa ziehen will. Dies hat auch mit ethnischer Zugehörigkeit und kultureller Identität zu tun. Die große Mehrheit der afghanischen Geflüchteten in der Türkei gehört den Volksgruppen der Usbeken und Turkmenen an. Hierbei handelt es sich um so genannte Turkvölker, was die sprachliche und gesellschaftliche Integration in der Türkei wesentlich erleichtert. Dieses Mindestmaß an Zusammengehörigkeitsgefühl sollte nicht unterschätzt werden bei der Beurteilung der türkischen Politik gegenüber afghanischen Schutzsuchenden.
In der Realität schauen die türkischen Behörden nämlich bislang häufig weg und verzichten auf Festsetzungen und Abschiebungen undokumentierter afghanischer Geflüchteter. Aber natürlich schwebt das Damoklesschwert der Abschiebung immer über diesen Menschen.
Bereits seit Monaten steigen die Ankunftszahlen afghanischer Schutzsuchender, die über Iran in die Türkei kommen. Die türkische Regierung baut daher an einer Mauer, die den Zugang deutlich erschweren dürfte. Die Grenzen zu Irak und Syrien sind bereits weitgehend mit Mauern und Stacheldraht befestigt. Dabei war die Türkei über viele Jahre Flüchtenden gegenüber sehr offen. Was motiviert nun dieses "Einmauern"?
Dies ist vor allem innenpolitischen Überlegungen geschuldet. Von außen betrachtet war es in den vergangenen zehn Jahren ja fast schon erstaunlich zu sehen, wie scheinbar problemlos die türkische Gesellschaft über vier Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Es dürfte aber wenig überraschen, dass dies eben nur ein äußerer Schein war. Unter der Oberfläche brodelt es schon lange. Die Aufnahme der syrischen Flüchtlinge seit 2011 ist zu sehen im Zusammenhang mit der eindeutigen Parteinahme der türkischen Regierung für die syrische Opposition bzw. gegen das Assad-Regime in Damaskus. Der damalige Premierminister und heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sah sich im Zuge der Eskalation des syrischen Bürgerkriegs, auch um seine politische Glaubwürdigkeit zu bewahren, gezwungen, die vor dem Regime flüchtenden Syrer_innen in der Türkei aufzunehmen. Gegenüber seinen Unterstützer_innen erklärte er dies zur solidarischen Pflichtaufgabe. Kritik an dieser Politik wurde wirksam unterdrückt.
Das Murren seiner Anhänger_innen wird aber gerade in Zeiten der schweren Wirtschaftskrise, die das Land seit zwei Jahren fest im Griff hat, immer lauter. Die Flüchtenden werden insbesondere von den Menschen mit einfacher Bildung, die das Rückgrat der AKP-Wählerschaft darstellen, als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt empfunden. Immer wieder kam es in den vergangenen Monaten zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen. Die Opposition, die eine Chance auf einen Machtwechsel bei den nächsten Wahlen 2023 sieht, betrachtet das Flüchtlingsthema als Achillesferse Erdoğans und nutzt dessen Mobilisierungspotential skrupellos aus. Der Ton der gesellschaftlichen Debatte verschärft sich. Erdoğan kann sich deswegen innenpolitisch und wahltaktisch keinen weiteren Zustrom von Flüchtenden leisten. Der Bau der Grenzmauer ist dabei reine Symbolpolitik, ähnlich wie jene Mauer, die Ex-US-Präsident Donald Trump an der Grenze zu Mexiko bauen wollte. Die Vergangenheit hat gezeigt: Die Regulierung von Fluchtmigration ist eine Frage des politischen Willens und auch ohne Mauer möglich. Erdoğan demonstriert mit der Mauer aber gegenüber seinen Anhängern plakativ: Es ist vorbei mit der Aufnahme von Schutzsuchenden in der Türkei.
Deutschland und die EU wollen die direkten Anrainerstaaten Afghanistans unterstützen, damit aus Afghanistan Fliehende in den Nachbarländern bleiben. Welche Auswirkungen auf die EU-Türkei-Beziehungen sind wahrscheinlich, wenn das nicht gelingen sollte und die Türkei wieder zum Transitland für aus Afghanistan in Richtung EU Fliehende wird?
Trotz der gerade geschilderten Abschottungspolitik ist es schwer vorstellbar, dass die Türkei NICHT auf die eine oder andere Weise in die komplexe Frage des Umgangs der europäischen Union mit afghanischen Flüchtenden hineingezogen wird. Die Idee Deutschlands und der EU, die direkten Nachbarländer Afghanistans bei der Unterbringung der Geflüchteten zu unterstützen, dürfte sich allein deswegen schwierig gestalten, weil das wichtigste Land in diesem Zusammenhang der Iran ist. Zumindest kurz- und mittelfristig ist eine direkte Unterstützung des Irans durch die europäische Union aber angesichts der geopolitischen Großwetterlage unrealistisch.
Gleichzeitig macht es die geschilderte innenpolitische Lage der türkischen Regierung fast unmöglich, einer Wiederauflage bzw. einer Erweiterung des EU-Türkei-Abkommens unter Einbeziehung der afghanischen Schutzsuchenden zuzustimmen. Präsident Erdoğan wird es seinen Anhänger_innen nicht vermitteln können, warum die Türkei stärker noch als bislang zum „Auffanglager“ für Flüchtende wird. Die Opposition unter Führung der CHP lehnt dies ohnehin vehement ab – und weiß in dieser Position einen Großteil der türkischen Bevölkerung hinter sich. Der Preis, den die EU für ein neues, erweitertes Abkommen zahlen müssten, wird also hoch sein – vermutlich aus der europäischen Sicht zu hoch, um darauf eingehen zu können. Der einzige ausreichend wertvolle Verhandlungschip, den die EU noch in der Hand hat, ist eine allgemeine Visumsliberalisierung, also eine Befreiung der Visumspflicht für alle Türk_innen, die in die EU reisen möchten. Dieses Zugeständnis wiederum dürfte aus innenpolitischen Gründen in den EU-Ländern nicht vermittelbar sein. Wir steuern deswegen auf eine Sackgasse zu. Die Opfer hierbei werden die afghanischen Schutzsuchenden sein.
Hinweis: Auf dem FMI-Portal verwenden wir das Wort „Flüchtlinge“ mit Bezug zu internationalen Rechtsdokumenten, die diese Begrifflichkeit beinhalten. Außerhalb dieses Zusammenhangs verwenden wir die Begriffe „Flüchtende“, „Geflüchtete“ und „Schutzsuchende“.
Henrik Meyer
leitet seit 2021 das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in der Türkei. Von 2015-2021 war er der Landesvertreter der FES in Tunesien. Zuvor war er für die Iran-Arbeit der FES zuständig sowie für das Auslandsbüro Palästinensische Gebiete (Ost-Jerusalem) tätig. Er studierte Politik- und Islamwissenschaft an den Universitäten Hamburg und Damaskus und ist Autor des Buches „Hamas und Hizbollah“ (2009).
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