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Die Erschöpfung von Frauen in der Corona-Krise

Franziska Schutzbach, Soziologin und Bestsellerautorin über die Geschichte der modernen Marktwirtschaft und die Abwertung der Fürsorglichkeit.


Während der Pandemie wurden unzählige Frauen aus der Erwerbs- und in die unbezahlte Sorgearbeit gedrängt. Das ist kein Zufall, sondern historisch begründet, meint die Soziologin Franziska Schutzbach, Autorin des Bestsellers Die Erschöpfung der Frauen. Ein Gastbeitrag über die Geschichte der modernen Marktwirtschaft und die Abwertung der Fürsorglichkeit.


In Deutschland hat sich die Zahl der Frauen, die sich ausschließlich um die Kinder kümmern, im ersten Lockdown von acht auf 16 Prozent verdoppelt. Jede vierte Frau gab im April 2020 an, wegen der Kinderbetreuung ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Bei den Männern waren es nur 13 Prozent. Laut einer Studie des Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft erleiden Frauen zudem stärkere Erwerbseinbußen in der Pandemie als Männer, da sie in Bereichen, in denen es viele Minijobs gibt – Gastronomie, Einzelhandel, Tourismus, Kultur – überrepräsentiert sind und viele dieser Minijobs durch Schließungen ersatzlos wegfielen. Ferner: Nirgendwo arbeiten so viele Frauen wie im Gesundheitswesen. Das Pflegepersonal wurde zwar am Anfang beklatscht, aber daraus folgte wenig. Mittlerweile haben Zehntausende den Beruf verlassen.

Das ist die Bilanz von Sabine Rennefanz in ihrem neu erschienen Buch „Frauen und Kinder zuletzt“. Und es geht noch weiter: Das Konjunktur- und Krisenpaket aus dem Jahr 2020 verteilte 73 Prozent der Gesamtausgaben an Branchen, in denen mehrheitlich Männer arbeiten. Nur 4,2 Prozent des Gesamtfinanzvolumens entfielen auf Bereiche, in denen überwiegend Frauen vertreten sind. Die Arbeit von Männern wurde als systemrelevant angesehen, nicht aber die von Frauen, resümiert Rennefanz. Global sieht es nicht besser aus: Weltweit haben Frauen allein im Jahr 2020 800 Milliarden Dollar an Einkommen verloren.  In Japan wurde doppelt so vielen Frauen gekündigt wie Männern; n den USA gaben zwischen März und April 2020 3,5 Millionen Frauen mit Kindern im Schulalter ihren Job auf.

Es ist eine Bilanz, die wenig überrascht. Frauen werden bis heute für Tätigkeiten zuständig gemacht, die in unserer Gesellschaft wenig Prestige haben und wenig Ressourcen zugesprochen bekommen. Besonders dann, wenn gesellschaftliche Krisen eintreten, wenn dereguliert oder gespart wird, fungieren Frauen als Sozialpuffer, die ihren Familien Erholung von der harten Welt ermöglichen sollen.

 

Die Erwartung an Frauen: Die Wirtschaft am Laufen halten – ohne Gegenleistung


Die Verletzlichkeit der Menschen wird seit jeher ins Gratis-Privatkrankenhaus „Mutter“ beziehungsweise „Frau“ ausgelagert. Seit Jahrhunderten wird Weiblichkeit mit Fürsorglichkeit gleichgesetzt. Daraus wird abgeleitet, dass Frauen diese Tätigkeiten qua ihrer vermeintlichen natürlichen Bestimmung gerne übernehmen – und sie deshalb unbezahlt machen können. Im Jahr 1971 gründete die Aktivistin Mariarosa Dalla Costa daher gemeinsam mit anderen Frauen in Italien das International Feminist Collective, mit dem sie die Kampagne „Lohn für Hausarbeit“ lancierte. Auch in der Bundesrepublik bildeten sich viele Gruppen, die diese Forderung vertraten. Sie argumentierten, dass die unbezahlte Hausarbeit der Frauen weder „natürlich“ sei noch aus dem Mutterinstinkt entstehe, sondern als ökonomischer Faktor die kapitalistische Produktion überhaupt erst ermögliche. Bevor Menschen in Fabriken und Angestellte in Büros Gewinne erarbeiten können, müssen sie geboren, gepflegt, geliebt, erzogen und versorgt werden. Care-Arbeit ist, wie die Aktivist_innen formulierten, die unsichtbar gemachte Grundlage des Marktes.

Zur Verdeutlichung: Weltweit werden pro Tag 16,4 Milliarden Stunden unbezahlte Haus- und Familienarbeit geleistet – drei Viertel davon von Frauen. Wenn der Markt für diese Arbeit aufkommen müsste, könnte er weniger Profite erzielen. Es ist also ökonomisch lukrativ, an an der Vorstellung festzuhalten, Frauen seien von Natur aus für unbezahlte Sorgearbeit prädestiniert.

Gemäß der Ökonomin Mascha Madörin wird der Sorgearbeit nicht zuletzt deshalb ein so geringer Status beigemessen, weil es sich nicht um einen sogenannten „wertschöpfungsstarken“ Bereich handelt. In der Automobilindustrie zum Beispiel lässt sich Arbeitszeit verdichten, outsourcen, automatisieren. Das senkt die Produktionskosten und steigert die Wertschöpfung. Im Gesundheits-, Pflege- und Erziehungssektor ist das nicht in gleichem Maße möglich. Die Kosten scheinen daher ständig zu explodieren. Um sie dennoch zu drücken, spart man beim Personal und bei den Löhnen.

 

Die Prekarisierung der (bezahlten) Sorgearbeit


Eine Folge der Abwertung von Sorgearbeit ist, dass die Arbeit an immer stärker prekarisierte Menschen ausgelagert wird. Wer es sich leisten kann, kauft diese Arbeit günstig bei Frauen aus ärmeren Gesellschaftsschichten und Ländern ein. Es gibt heute ein globales Sorgearbeit-Wander-Prekariat aus ungefähr 100 Millionen Hausangestellten, die rund um den Globus die wachsende Nachfrage bedienen. Nur einige Beispiele: Rund 5,6 Millionen philippinische Frauen arbeiten meist unterbezahlt in US-amerikanischen Privathaushalten; 300 000 Indonesierinnen machen sich jährlich auf den Weg, um in Hongkong, Singapur oder Saudi-Arabien in privaten Haushalten zu arbeiten. In Deutschland sind vor allem Frauen aus Osteuropa in Privathaushalten tätig. Ihre Arbeitsbedingungen gehören zu den widrigsten, denn für sie gilt nicht das gesetzliche Arbeitsrecht.

Die Historikerin Jovita dos Santos Pinto spricht in diesem Zusammenhang von einem sowohl sexistischen als auch „rassisierten“ Kapitalismus, in dem sich der Markt die Überschneidungen ethnisierter/rassistischer und vergeschlechtlichter Bilder zunutze macht. So werden gesellschaftliche Fürsorgeerwartungen nicht nur mit geschlechtlichen, sondern auch mit ethnisierenden Vorstellungen etwa über „das Wesen der migrantischen Frau“ verbunden. Die Soziologin Sarah Schilliger zeigt, dass Schweizer Agenturen, die Pendel-Migrantinnen als Pflegerinnen in Schweizer Privathaushalte vermitteln, konkret damit werben, dass diese Frauen wegen ihrer „slawischen Abstammung“ besonders fürsorglich, fleißig, ergeben und genügsam seien.

 

Die Abwertung der Sorgearbeit – kein neues Phänomen


Der Zusammenhang zwischen der kapitalistischen Marktwirtschaft, der Abwertung von Frauen und ihrer Verfügbarmachung für Sorgearbeit liegt bereits frühen liberalen Wirtschaftstheorien zugrunde: Von Anfang an rückte die nationalökonomische Theoriebildung die sogenannten „produktiven“ Tätigkeiten wie Forschung und Entwicklung, Herstellung von Waren und Handel in den Vordergrund, während reproduktive Tätigkeiten wie Schwangerschaft, Geburt, Kinderbetreuung, Pflege von Alten und Kranken sowie Hauswirtschaft unsichtbar blieben. Der Begründer der klassischen Nationalökonomie, Adam Smith (1723–1790), proklamierte in seinen Theorien zum Wohlstand, jeder Mensch sollte seinen individuellen Profitinteressen und Nutzenüberlegungen folgen. Auf diese Weise würde sich automatisch Wohlstand automatisch einstellen. Smith schrieb 1776: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Bauers oder Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“

Gearbeitet und gehandelt wird also nicht aus Nächstenliebe oder Freude, sondern aus Eigeninteresse. Um die Entfaltung und Ausübung dieses Eigeninteresses optimal zu gewährleisten, braucht es Smith zufolge – stark verkürzt gesagt – freie Märkte. Zugespitzt formuliert: Durch Egoismus entsteht automatisch Wohlstand für alle. Dabei kommt der Homo oeconomicus scheinbar ohne Liebe und Fürsorge aus: Das Allgemeinwohl basiert auf Profit; andere Kategorien wie emotionale Versorgung spielen keine Rolle.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Adam Smith große Teile seines Lebens zu Hause bei seiner Mutter lebte und von ihr versorgt wurde. Sie kochte, wusch und putzte für ihn. Dieser Umstand fand jedoch keinen Eingang in seine Überlegungen – sonst hätte er vermutlich nicht von der „unsichtbaren Hand des Marktes“, sondern von der „unsichtbaren Hand der Mutter“ geschrieben.

Noch früher zeigt sich die völlige Ausblendung der Sorge und Sorgebedürftigkeit in ökonomischen Theorien bei dem von Thomas Hobbes entworfenen Bild eines sogenannten „Naturzustands“, in dem die Menschen miteinander konkurrieren oder sich gar gegenseitig auszulöschen versuchen. Hobbes sieht Menschen als Pilze, die „aus dem Boden hervorkommen und ohne jede Verbindlichkeit gegeneinander aufwachsen“. Solche Modelle entsprechen einem maskulinistischen Phantasma: nicht geboren worden zu sein durch einen anderen Körper, „sondern aufrecht aus der Erde hochzupoppen, unabhängig von einem anderen“, wie Eva von Redecker es formuliert. Dieses (männliche) Menschenbild ist bis heute der Ansatzpunkt ökonomischer Standardlehren und prägt nach wie vor die Einstellung vieler Menschen im Alltag. Wer aber ein solches Menschenbild durchsetzen und aufrechterhalten will, muss vieles von dem, was die menschliche Existenz sonst noch ausmacht, ausklammern. Genau das geschah: Bereiche wie Fürsorglichkeit, Beziehung, Hausarbeit und Gefühle wurden abgespaltet, einer bestimmten Gruppe (Frauen) zugeordnet und dabei gleichzeitig entwertet.

 

Es braucht ein Umdenken!


Dagegen wehrten sich Frauen und sie tun es noch heute. Weltweit fordern Frauen Anerkennung, mehr Zeit und Ressourcen für die Sorgearbeit, die nicht nur in Familien, sondern auch in Büros, unterbezahlt in Krankenhäusern, Kitas, in Freundschaften oder Partner_innenschaften verrichtet wird. Bis heute bleiben diese Forderungen jedoch ungehört. Es ist sogar schlechter geworden: Während es in anderen Bereichen geschlechterpolitische Fortschritte gibt, haben sich Ausbeutung und Erschöpfung in Bezug auf die Care-Arbeit deutlich verschlimmert. Im Zuge von Deregulierungen, Sparmaßnahmen, dem Abbau der Sozialsysteme und der zunehmenden Erwerbstätigkeit der Frauen wurde Sorgearbeit immer prekärer. Das Füreinander-Sorgen wird immer mehr in den Hintergrund gedrängt; es gibt in der Erwerbsorientierung immer weniger Akzeptanz dafür, dass diese Tätigkeiten notwendig sind. Gleichzeitig gibt es einen immer größeren Bedarf an diesen Tätigkeiten, weil Menschen immer älter werden und länger Umsorgung brauchen.

Die Ausbeutung von Sorgearbeit kann, genauso wie die Ausbeutung der ökologischen Ressourcen, auf Dauer nicht aufgehen. Deshalb werden wir nicht darum herumkommen, Sorgearbeit – und das enthält auch die Sorge um den Planeten – ins Zentrum der Gesellschaft und der Wirtschaft zu stellen. Feministische Denkerinnen wie Gabriele Winker, Ina Praetorius, Antje Schrupp, Nancy Fraser, Frigga Haug und viele andere fordern seit langem, dass ökonomischen Grundfragen sich ändern müssen. Sie können nicht mehr lediglich lauten: „Wie erzielen wir Gewinn?“, sondern müssen danach fragen, was Menschen brauchen, damit es ihnen gut geht.

Es braucht ein Umdenken, das Sorgearbeit und Beziehungshandeln ins Zentrum rückt. Wir brauchen eine Care-Ökonomie, die anerkennt, wie Ina Praetorius schreibt, „dass alle Menschen, nicht nur die so genannten ‚Schwachen‘, fürsorgeabhängig sind“. Diese Einsicht wiederum hat Praetorius zufolge Konsequenzen auch für eine ökologische Politik, weil klar wird, dass Menschen abhängig voneinander, aber auch von einer intakten Mitwelt sind. Das Ziel ist also, Sorgearbeit als gesellschaftliche Praxis und Aufgabe zu verstehen und nicht als etwas, das sich innerhalb von Familien von selbst erledigt.

Wenn wir Arbeit und Ökonomie von der Verletzlichkeit und Bedürftigkeit der Menschen, aber auch von der begrenzten, verletzlichen Natur her denken, bekommt Ökonomie eine andere Bestimmung. Es ist an der Zeit, dass wir Sorge und Beziehung ins Zentrum unserer Gesellschaft rücken und allen Menschen die Zeit und die Ressourcen zur Verfügung stellen, die für gelingende Sorgebeziehungen notwendig sind. Wie die Soziologin Nancy Fraser schreibt: „Das Kunststück besteht darin, die soziale Welt irgendwann so einzurichten, dass Bürgerinnen und Bürger das Geldverdienen, Betreuen, den Einsatz für die Gemeinschaft, politische Mitwirkung und gesellschaftliches Engagement unter einen Hut bringen können – und möglichst noch Zeit für vergnügliche Dinge haben.“

 

Dr. Franziska Schutzbach, geboren 1978, ist promovierte Geschlechterforscherin und Soziologin, Publizistin, feministische Aktivistin und Mutter von zwei Kindern. Im Jahr 2017 initiierte sie den #SchweizerAufschrei, seither ist sie eine bekannte und gefragte feministische Stimme auch über die Schweiz hinaus. Sie ist Autorin des Bestsellers Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit.


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