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Für eine gerechtere Gewinnbesteuerung multinationaler Unternehmen

von Johannes Becker



Reformbedarf

Die Globalisierung hat der Menschheit enorme Wohlstandsgewinne beschert, stellt sie zugleich aber vor ein strukturelles Dilemma: Der Markt ist global, die Politik (weitgehend) national. Internationale Ansätze zur Koordination existieren, doch sie sind häufig nur der kleinste gemeinsame Nenner, begrenzt in Reichweite und politisch fragil. Die globalisierte Welt ist zudem krisenanfällig. Ob Finanzmärkte, Klimawandel, Migration, Covid-19 – im Zweijahrestakt wechselt das Politikfeld, aber das Grundthema bleibt gleich. Ohne internationale Koordination kann es nicht gelingen, die Probleme dieser Zeit in den Griff zu bekommen.

Diese Einsicht hat sich mittlerweile sogar in der Steuerpolitik durchgesetzt, die sich seit jeher als nationales Königsrecht jeder Einmischung von außen verweigert hat. Die Besteuerung multinationaler Unternehmen (MNU) steigt den Nationalstaaten über den Kopf – und bereitet so den Boden für internationale Koordination. Das internationale System der Gewinnbesteuerung hat allerdings ein grundsätzliches Problem: Es versagt darin, Gewinne dort zu besteuern, wo die zugrunde liegenden Werte geschaffen werden („taxation where value is created“).[1] Gerade die großen Digitalunternehmen sind in der Lage, so der Eindruck, das geltende System zu ihren Gunsten auszunutzen.

Im August 2017 hat die OECD eine Initiative mit dem Titel „Tax challenges of the digitalisation of the economy“ vorgestellt. Die Initiative ist motiviert durch die unzureichende Besteuerung großer Unternehmen der Digitalwirtschaft wie Google, Facebook und Apple. Doch schnell stellt sich heraus, dass sich das Problem nicht auf Digitalunternehmen beschränken lässt – und außerdem keine exklusive Herausforderung der hochentwickelten OECD-Staaten ist. Um die bestehenden Regeln in sinnvoller und effektiver Weise zu ersetzen, braucht es einen globalen Ansatz. Fortan finden die Gespräche in dem von der OECD moderierten Inclusive Framework statt, einer Gruppe von mittlerweile über 135 Staaten.

Das System der internationalen Gewinnbesteuerung und seine Schwächen

Das internationale System der Gewinnbesteuerung multinationaler Unternehmen folgt weitgehend dem Prinzip der Quellenbesteuerung. Sobald ein Unternehmen in einem Staat eine Betriebsstätte hat, unterliegen die Gewinne, die der Betriebsstätte zugeordnet werden können, der Gewinnbesteuerung dieses Staates. Unternehmen können dementsprechend auf zwei Wegen die Besteuerung ihrer Gewinne durch diesen Staat vermeiden. Sie können erstens verhindern, dass ihre Aktivitäten die Voraussetzungen einer Betriebsstätte erfüllen, und zweitens den Gewinn, der einer Betriebsstätte zugeordnet wird, möglichst kleinhalten, indem die Bemessungsgrundlage in Staaten mit geringeren Steuersätzen verschoben wird.

In beiden Fällen haben Unternehmen der Digitalwirtschaft besonders große Vermeidungsmöglichkeiten. Über das Internet ist es möglich, Märkte ohne eine physische Präsenz in Form einer Betriebsstätte zu bedienen. Existiert eine Betriebsstätte, nutzen viele Digitalunternehmen die Tatsache, dass ein großer Anteil ihrer Assets immaterielle Wirtschaftsgüter (IP) wie beispielsweise Algorithmen, Patente und Markenrechte sind. Weil IP in vielen Fällen keinen vom Unternehmen getrennten Wert haben und damit kein Marktpreis beobachtbar ist, gibt es hier einen besonders großen Spielraum, etwa die Nutzungsgebühren für Algorithmen o. ä. steueroptimal zu gestalten – und so die Gewinne im Hochsteuerland in einen Niedrigsteuerstandort zu verschieben.

Empirische Studien belegen, dass Unternehmen nicht nur aus der Digitalwirtschaft den so entstehenden Spielraum für Gewinnverschiebung tatsächlich nutzen[2]– sei es mittels einer Manipulation der Verrechnungspreise, durch spezielle Finanzierungsmodelle oder mithilfe einer strategischen Platzierung von IP bzw. von Risiken. Die verschobenen Summen sind – trotz der im Zuge der BEPS-Initiative[3] durchgesetzten Maßnahmen – enorm: Studien zeigen, dass ohne Gewinnverschiebung das US-amerikanische Bruttoinlandsprodukt um 1,5 Prozent höher als zurzeit wäre. Andere Studien ermitteln, dass ca. 600 Milliarden US-Dollar an Gewinneinkommen in Steueroasen verbucht werden. Als Verlierer der Steuervermeidung lassen sich hauptsächlich die europäischen „Nicht-Steueroasen“, aber auch Entwicklungsländer identifizieren, als Gewinner vor allem US-amerikanische multinationale Unternehmen. Diese Erkenntnisse demonstrieren, dass die bisherigen Maßnahmen offenbar zu kurz greifen und weitere Reformen notwendig sind.

Geplante Reformen

Die nun von der OECD/Inclusive-Framework-Gruppe vorgeschlagenen Maßnahmen umfassen zwei Säulen.[4]

Die erste Säule (Pillar 1) verlagert einen Teil der Besteuerungsrechte in die Marktstaaten, das heißt dorthin, wo die Konsument_innen sind. Grundsätzlich sollen kundennahe Unternehmensfunktionen wie Marketing und Vertrieb stärker bei der Zuteilung der steuerlichen Bemessungsgrundlage auf die einzelnen Unternehmensstandorte berücksichtigt werden. Staaten sollen jedoch selbst dann Besteuerungsrechte bekommen, wenn das Unternehmen dort gar keine Betriebsstätte hat. Voraussetzung ist lediglich, dass der Umsatz in diesem Staat bestimmte Schwellenwerte überschreitet.

Die zweite Säule (Pillar 2) sieht eine Art Mindestbesteuerung der Gewinne multinationaler Unternehmen vor. Vor allem sollen die Heimatstaaten von MNU das Recht erhalten, die Auslandsgewinne ihrer Unternehmen teilweise in die heimische Bemessungsgrundlage aufzunehmen, wenn der effektive Gewinnsteuersatz im Ausland ein Mindestmaß unterschreitet.

Intuitiv lässt sich das Reformwerk als Versuch verstehen, das Geschäftsmodell von Steueroasen empfindlich zu schwächen und den Steuerwettbewerb vor allem um Buchgewinne zu dämpfen: Die erste Säule verringert die zu verteilenden Gewinne, die zweite Säule zieht eine Untergrenze für die Steuersätze ein.

Das alles klingt naheliegend und vernünftig – und tatsächlich herrschte Mitte 2019 weitgehend Einigkeit über die Leitlinien der Reform. Doch der Teufel steckt wie immer in den Details, die hier in Gänze darüber entscheiden, ob die Reform ein Papiertiger wird oder ein scharfes Schwert im Kampf gegen Gewinnverschiebung und Steuervermeidung. Diese Details geraten nun im Pariser Hauptsitz der OECD zunehmend in den Fokus, während sich draußen die Interessensverbände formieren.

Die US-amerikanische Business-Lobby hat die US-amerikanische Regierung – bisher die treibende Kraft hinter Pillar 1 – Ende 2019 zu einem Bremsmanöver gezwungen. Die USA fordern nun eine Art Ausnahmeregelung für ihre Unternehmen (eine sogenannte Safe Harbor Rule), die die Teilnahme am neuen Regime optional werden ließe – was der Reform jegliche Effektivität nehmen würde. Die USA befürchten, dass die neuen Regeln eine steuerrechtliche Handhabe für all diejenigen bieten könnte, die neidisch auf die hohen Gewinne der US-amerikanischen Konsumgüterunternehmen schauen und sich gern einen Teil des Kuchens einverleiben würden. Dass diese Sorge nicht ganz unbegründet ist, zeigt sich in US-amerikanischer Lesart auch darin, dass mittlerweile mehrere EU-Staaten (darunter Spanien, Frankreich, Italien) Sondersteuern auf die Umsätze großer, zumeist US-amerikanischer Digitalunternehmen beschlossen haben.

Im Juni 2020 schien der Verhandlungsprozess ernsthaft in Gefahr zu geraten, als US-Finanzminister Mnuchin in einem Brief das vorläufige Ende der US-Beteiligung an Verhandlungen über Pillar 1 verkündet. Ob die Verhandlungen unter diesen Umständen zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden können, ist zum jetzigen Zeitpunkt unsicher.

Ausblick

Mit der OECD-Initiative verbinden sich von Beginn an große Hoffnungen. Viele Regierungsvertreter_innen hoffen auf ein Ende des als ruinös empfundenen Steuerwettbewerbs, die Marktstaaten, insbesondere die Entwicklungsländer, rechnen mit zusätzlichen Einnahmen, und Aktivist_innengruppen wie das Tax Justice Network erwarten eine höhere, angemessene Steuer auf die Gewinne von MNU und damit eine gerechtere Verteilung der Steuerlasten.

Es ist absehbar, dass diese Erwartungen selbst bei einem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen enttäuscht werden. Selbst wenn sowohl eine teilweise Verlagerung von Besteuerungsrechten in die Marktstaaten als auch eine globale Mindeststeuer eingeführt werden, bedeutet dies keineswegs ein Ende des Steuerwettbewerbs. Auf dem Tisch liegen graduelle Verbesserungen, nicht mehr und nicht weniger. Im besten Fall gehen die Verhandlungen direkt nach einem ersten erfolgreichen Abschluss weiter und werden so verstetigt. Internationale Kooperation ist ein generationenübergreifendes Anliegen, kein Hauruckprojekt eines Jahrzehnts.

Bescheidenheit ist für viele Staaten auch angezeigt, was die zu erwartenden fiskalischen Mehreinnahmen angeht – das zeigen aktuelle Studien. Auch wenn dies so manches Finanzministerium enttäuschen wird, sollte es jedoch nicht als Schwäche der Reform gelten. Die nun diskutierten Reformen sind zumindest teilweise eine notwendige Korrektur jahrzehntelanger Fehlentwicklungen. Sie werden Wettbewerbsnachteile für Unternehmen ohne Zugang zu Steueroasen verringern und den Steueranreiz für betriebswirtschaftlich unsinnige Investitionen in periphere Standorte reduzieren. Darüber sollte man nicht aus dem Blick verlieren, dass die Akzeptanz und Legitimität des Steuersystems insgesamt davon abhängt, dass sich große Spieler wie die MNU nicht dauerhaft vor einem angemessenen Beitrag zum Gemeinwesen drücken können.

Schließlich lässt sich nicht hoch genug einschätzen, dass sich weiterhin annähernd 140 Staaten in zielorientierten und produktiven Verhandlungen darum bemühen, das durch offene Märkte und nationale Steuergesetzgebung entstehende Koordinationsproblem zu lösen – und das in Zeiten von Trump und Putin, von Brexit und chinesisch-US-amerikanischen Zollkriegen.
 

[1] Becker, Johannes 2020: Besteuern, wo Werte geschaffen werden – Aufstieg und Niedergang eines Prinzips, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik i. E.

[2] Einen Überblick über die empirische Literatur zur Verminderung steuerlicher Bemessungsgrundlagen und zum grenzüberschreitenden Verschieben von Gewinnen durch multinationale Konzerne vor der Implementierung der BEPS-Maßnahmen bietet u. a. Riedel, Nadine 2018: Quantifying International Tax Avoidance: A Review of the Academic Literature, in: Review of Economics/Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften 69 (2), S. 169–181.

[3] Die OECD-Initiative gegen „Base Erosion and Profit Shifting“ (BEPS) zielt vor allem auf das Schließen von Steuerschlupflöchern.

[4] Eine Übersicht über die Maßnahmen findet sich in OECD 2019: Programme of Work to Develop a Consensus Solution to the Tax Challenges Arising from the Digitalisation of the Economy, Paris.
 


Über den Autor

Prof. Dr. Johannes Becker ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Direktor des Instituts für Finanzwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster.
 


Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

 

 


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