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Mitbestimmung in Europa

von Cansel Kiziltepe


Wir brauchen mehr Wirtschaftsdemokratie und eine starke Mitbestimmung in Europa. Mitbestimmung in Unternehmen und Betrieben ermöglicht die Kontrolle wirtschaftlicher Macht und stärkt die gelebte Demokratie. Sie ist das Herzstück der Wirtschaftsdemokratie, wurde hart erkämpft und muss heute umso stärker verteidigt werden. Die zunehmenden internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen und die diversen europarechtlichen Regelungen, die die nationale Gesetzgebung in diesem Bereich überlagern, lassen den Blick auf die europäische Dimension der Mitbestimmung umso interessanter werden. Nicht zuletzt fordert auch der universelle Anspruch der Demokratie die Einbeziehung der europäischen Perspektive auf Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie.

Wir stehen vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie der Transformation der Arbeitswelt, dem Klimawandel und der Digitalisierung. Schon länger stellte sich die Frage, wie die ökonomische Ungleichheit abgebaut werden kann. Für all diese Herausforderungen, die sich bereits vor der Corona-Pandemie aufdrängten, kann Mitbestimmung Lösungen ermöglichen, die im Interesse der Beschäftigten sind.

Wir erleben einen Rechtsruck in Europa, der mit antidemokratischen Einstellungen und autoritären Tendenzen einhergeht. In der Corona-Krise zeigte sich noch deutlicher, wie weit verbreitet antidemokratische, antisemitische und autoritäre Verschwörungsmythen sind und in Krisensituationen noch mehr um sich greifen. Um die Demokratie in Europa, auch in Deutschland, zu festigen und den Anspruch einer Demokratisierung aller Lebensbereiche zu verwirklichen, ist es unerlässlich, die Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen zu stärken.

Insbesondere in Krisenzeiten zeigen sich die positiven Effekte der Mitbestimmung, die nicht nur den Beschäftigten, sondern auch den Unternehmen zugutekommen. Mitbestimmte Unternehmen kommen wirtschaftlich besser durch die Krise. Auch Transformationsprozesse, die durch Krisen hervorgerufen oder verschärft werden, lassen sich in Unternehmen mit einem Aufsichtsrat besser begleiten.  Das hat sich auch in der Corona-Krise im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung mit den zahlreichen Betriebsvereinbarungen zur Kurzarbeit bestätigt. Dort, wo es einen Betriebsrat gibt, können Arbeitgeber_innen mit diesem schnell entsprechende Betriebsvereinbarungen aushandeln, anstatt auf individualvertragliche Vereinbarungen zurückgreifen zu müssen.

Die neuesten Studien zur Unternehmensmitbestimmung zeigen jedoch auf, dass etwa ein Drittel der Unternehmen in Deutschland die Mitbestimmung umgeht.  Auch die Anzahl der Betriebe mit einem Betriebsrat geht seit den frühen 2000er Jahren in Deutschland stark zurück.  Dieser Trend zur Mitbestimmungsflucht muss gestoppt werden, wenn wir die Herausforderungen der Zukunft gemeinsam mit den Beschäftigten gestalten wollen.

Unternehmensmitbestimmung – die Erosion stoppen

Die Unternehmensmitbestimmung ist Teil der europäischen Wirtschaftsordnung. Im europäischen Recht werden die Rahmenbedingungen für die Mitbestimmungen definiert. Das ist vor allem seit der Verordnung und Richtlinie zur Europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europaea; SE) deutlich zu spüren. Im Rahmen der europäischen Harmonisierung der Mitbestimmung sind aber auch Schlupflöcher entstanden. Ein großes Schlupfloch für die Vermeidung der Mitbestimmung im Aufsichtsrat ist etwa das sogenannte „Einfrieren“ des Mitbestimmungsstatus vor der Umwandlung in eine SE. Europäische Standards in der Mitbestimmung sind im Sinne einer starken Mitbestimmung in Europa notwendig. Sie müssen unabhängig vom Sitz des jeweiligen Unternehmens gelten. Sie dürfen aber nicht dazu führen, dass Unternehmen sich der Mitbestimmung entziehen können.

Das sogenannte „Einfrieren“ bildet ein wesentliches Einfallstor für die Umgehung der Mitbestimmung im Zusammenhang mit der SE und den Schwellenwerten für die Unternehmensmitbestimmung. So kann ein bisher nicht mitbestimmtes Unternehmen kurz vor Erreichen des Schwellenwertes, bei dem eine Form der Unternehmensmitbestimmung vorgesehen wäre, in die Rechtsform der SE wechseln. Dann wird der Mitbestimmungszustand im Zeitpunkt der SE-Gründung „eingefroren“. Lediglich die zu diesem Zeitpunkt bestehende (oder vielmehr nicht bestehende) Mitbestimmung wird gesichert. Sowohl auf nationaler als auch europäischer Ebene sind hier dringend Nachbesserungen notwendig, um sämtliche Formen der Mitbestimmungsumgehung und -vermeidung wirksam zu bekämpfen. Neben einem Mitbestimmungserstreckungsgesetz auf nationaler Ebene ist auf europäischer Ebene eine Rahmenrichtlinie zu schaffen, die für die demokratische Beteiligung der Arbeitnehmer_innen Mindeststandards setzt. Auf nationaler Ebene müssen diejenigen Rechtslücken geschlossen werden, die zur „schleichenden Erosion der Mitbestimmung“  maßgeblich beitragen. Das sind insbesondere fehlende Sanktionen bei der Umgehung des geltenden Mitbestimmungsrechts.

Betriebliche Mitbestimmung – europäischer Arbeitskampf bei Ryanair

Die Auswirkungen der Internationalisierung und die sich daraus ergebenden Herausforderungen für die Mitbestimmung auf europäischer Ebene lassen sich am Beispiel der Billigfluglinie Ryanair beispielhaft nachvollziehen. Den CEO Michael O’Leary wird der vielsagende Ausspruch zugeschrieben, dass eher die Hölle zufriere, als er mit Gewerkschaften Verhandlungen führe. Die praktischen Auswirkungen dieser Aussage lassen sich vielfach beobachten: Ryanair versucht seit jeher, gewerkschaftlichen Einfluss, Tarifverträge und betriebliche Mitbestimmung kleinzuhalten. Im Rahmen der Corona-Krise wurde ein weiteres Mal deutlich, was Ryanair von seinen Beschäftigten hält. Die Krise wird seitens Ryanair genutzt, um weiter Sozialdumping zu betreiben und Beschäftigtenrechte zu umgehen.  Soziale Verantwortung findet sich im System Ryanair nicht. Und wenn es um Staatshilfen in der Krise geht, fällt Michael O’Leary dazu nur ein: „Die Regierung soll den Mund halten und zahlen, ohne Einfluss auf das Unternehmen zu bekommen.“

Im März 2019 konnte aufgrund des hohen öffentlichen Drucks endlich ein Tarifvertrag zwischen Ryanair und der Gewerkschaft ver.di ausgehandelt werden. Dem Tarifabschluss war ein langer, europäisch koordinierter Arbeitskampf vorausgegangen. Der erfolgreiche Tarifabschluss war auch möglich, weil die europaweit koordinierten Aktionen der Beschäftigten deren geschlossene Stärke und unbedingten Mitbestimmungswillen artikulierten. Gerade das Beispiel der international agierenden Billigfluggesellschaft Ryanair zeigt, dass die Internationalisierung der Arbeitswelt neue Organisationsformen und eine breite internationale Organisierung der Beschäftigten erforderlich werden lässt. Darüber hinaus braucht es klare gesetzliche Regelungen, die die Mitbestimmung auch auf nationaler Ebene stärken. Nur so können auch die Beschäftigten von einem Unternehmen wie Ryanair einen Betriebsrat gründen. Der Blick auf die Zahlen der betrieblichen Mitbestimmung in Deutschland zeigt, dass diese weiterhin verteidigt werden muss: Es ist ein Rückgang an mitbestimmten Betrieben zu erkennen, der gestoppt werden muss, wenn die Teilhabe der Beschäftigten in den Betrieben gesichert sein soll.

Die dritte Säule der Mitbestimmung – starke Gewerkschaften

Im Kontext der Mitbestimmung sind neben Unternehmensmitbestimmung und betrieblicher Mitbestimmung die Rechte der Gewerkschaften nicht zu vergessen. Denn es sind die Gewerkschaften, die im Rahmen der Sozialpartnerschaft Tarifverträge aushandeln und so die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten grundlegend mitbestimmen. Eine umfassende Stärkung der Mitbestimmung lebt auch von verhandlungsstarken Gewerkschaften. Auch hier zeigt die Corona-Krise, dass Tarifverträge sich für die Beschäftigten auszahlen und wo es noch Nachholbedarf gibt. Gerade die systemrelevanten Berufe, denen in der Krisenzeit von allen Seiten Respekt und Applaus zuteil wurde, unterliegen viel zu oft nicht der Tarifbindung und weisen einen vergleichsweise geringen gewerkschaftlichen Organisierungsgrad auf. Wer die Mitbestimmung stärken will, darf die Tarifbindung nicht vergessen.

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie dürfen nicht dazu führen, dass sich bestehende Ungleichheiten weiter verschärfen. Vielmehr müssen die bitteren Erkenntnisse dieser Krise genutzt werden, um die Wege aus der Krise im Sinne der Vielen zu gestalten. Das heißt auch: Die Wege aus der Krise und eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nach Corona müssen maßgeblich von den Beschäftigten mitbestimmt werden. Die Antwort auf die wirtschaftlichen Folgen von Corona darf auf keinen Fall ein weniger an Mitbestimmung und ein Erstarken des Neoliberalismus sein. Vielmehr ist jetzt die Zeit gekommen, um solidarische, sozial gerechte und nachhaltige Lösungen für bereits vor der Krise bestehende Herausforderungen gemeinsam zu entwickeln und umzusetzen. Diese Krise hat uns gezeigt, dass der Markt alleine nicht in der Lage ist, die Probleme der Menschen zu regeln. Uns wurde deutlich vor Augen geführt, dass ein starker und handlungsfähiger Staat und die grundlegenden Säulen unserer Wirtschaftsdemokratie Beschäftigte und Unternehmen sicher durch die Krise bringen. Diese Instrumente gilt es weiter aufzubauen, nicht nur hierzulande, sondern auch auf europäischer Ebene. So schaffen wir ein starkes und vor allem gerechtes Europa.

 


Über die Autorin

Cansel Kiziltepe ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages. Sie ist Mitglied des Finanz- sowie des Sportausschusses und Geschäftsführerin von Steuermythen.de.


Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

 

 


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