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Zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Wofür steht Deutschland aus Sicht der Wähler_innen?

Auf Basis von Umfragedaten untersucht Michael Jankowski, welche Werte Deutschland derzeit verkörpert und welche es zukünftig repräsentieren sollte.



Der Autor, Michael Jankowski untersucht auf Basis von Umfragedaten, welche Werte Deutschland derzeit verkörpert und welche es zukünftig repräsentieren sollte. Ziel der Analyse ist es, die größten Diskrepanzen zwischen Anspruch (wofür Deutschland stehen sollte) und Wirklichkeit (wofür Deutschland derzeit steht) aus Sicht der Bürger_innen herauszuarbeiten. Gleichzeitig wird geprüft, inwieweit sich diese Einschätzungen zwischen verschiedenen Gruppen der Bevölkerung unterscheiden. Die Untersuchung basiert auf der Annahme, dass politische Präferenzen einen wesentlichen Einfluss darauf haben, wie Bürger_innen die aktuellen und zukünftigen Werte Deutschlands wahrnehmen und bewerten.

 

Wofür Deutschland steht und stehen sollte
 

Betrachtet man das Antwortverhalten auf eine Reihe von Werten für die Deutschland stehen könnte, fällt auf, dass bei fast allen Aussagen eine er­hebliche Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wahrgenommen wird. Bei fast allen Aussagen geben die Be­fragten im Durchschnitt an, dass Deutschland aktuell weniger für die jeweiligen Werte steht, als es stehen sollte.


Die einzige Ausnahme von diesem Muster ist die Aussage zu kultureller und religiöser Vielfalt. Keine andere Aussage hat eine so hohe Zustimmung zu der Frage, ob Deutschland aktuell für diesen Wert steht (Durchschnitt von 2,86 auf einer Skala von 1 bis 4). Zugleich ist allerdings bei keiner anderen Aussage die Zustimmung zu der Frage, ob Deutschland für diesen Wert stehen sollte (Durchschnitt ebenfalls von 2,86), so gering wie in diesem Fall. Entsprechend liegt hier die Differenz zwischen der Einschätzung des Status quo und des Zukunftsanspruchs im Durchschnitt bei exakt 0. Es wäre zu einfach, dieses Ergebnis als perfekte Übereinstimmung zwischen Anspruch und Wirklichkeit aus Sicht der Bürger_innen zu bewerten. Wie später bei der Analyse anhand von Parteipräferenzen gezeigt wird, bestehen auf individueller Ebene erheblich Unterschiede bei dieser Aussage, die sich lediglich im Durchschnitt aller Bürger_innen gegenseitig aufheben und daher hier nicht zum Vorschein kommen.

Die anderen Aussagen zeigen ebenfalls interessante Muster. Zunächst ist auffällig, dass die Befragten bei vielen Aussagen möchten, dass Deutschland für die darin genannten Werte steht. Fast alle blauen Kreise, die abbilden, wofür Deutschland stehen sollte, liegen deutlich über dem Skalenmittelpunkt von 2,5. Die höchste Zustimmung bekommt die Aussage „Demokratie und Menschenrechte“, was zeigt, wie fundamental wichtig diese Werte für die Befragten sind. Obwohl es bedenklich sein könnte, dass die Befragten bei dieser Aussage weniger zustimmen, ob Deutschland aktuell für diesen Wert auch steht (etwa 0,75 Zustimmungspunkte weniger als bei „sollte“), liegt die Zustimmung im Vergleich zu den anderen Aussagen auch bei der aktuellen Einschätzung auf einem vergleichsweise hohen Niveau.

Deutlich anders verhält es sich mit der Aussage zum gerechten Sozialstaat. Diese Aussage hat die durchschnittlich geringste Zustimmung bei der Frage, ob Deutschland derzeit für diesen Wert steht. Mit einer durchschnittlichen Zustimmung von nur 2,28 liegt die Zustimmung hier sogar unter dem Skalenmittelpunkt, das heißt, im Durchschnitt stimmen die Befragten dieser Aussage „eher weniger“ zu. Gleichzeitig besteht ein hoher Anspruch, dass Deutschland für einen gerechten Sozialstaat stehen sollte (3,50 Zustimmung). Als Konsequenz zeigt sich hier die größte Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit (fast 1,25 Differenzpunkte). Ähnliche Muster ergeben sich auch für die Aussagen nach „innovativer Wirtschaft“ sowie „Bildungschancen und Aufstieg“. Zusammengenommen deuten diese Befunde daraufhin, dass Fragen der sozialen Gerechtigkeit wie auch der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einen hohen Stellenwert haben, deren derzeitige Verwirklichung in Deutschland jedoch kritisch gesehen wird. Entsprechend legen diese Befunde nahe, dass bei wirtschafts- und sozialpolitischen Themen Anspruch und Wirklichkeit besonders stark auseinandergehen.
 

Unterschiede in der Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit basierend auf Parteinähe
 

Untersucht mach die Unterschiede zwischen Anspruch und Wirklichkeit nach Parteipräferenzen, so zeigen sich einige spannende Muster: Zum einen findet sich bei gesellschaftspolitischen The­men eine stärkere Variation zwischen „aktuell“ und „sollte“. Wenngleich es auch bei wirtschafts- und so­zialpolitischen Einstellungen Variationen gibt, fallen diese schwächer aus und unterscheiden sich weniger stark zwischen den Anhänger_innen der Parteien. Insbesondere die Frage der „kulturellen und religiösen Vielfalt“ erweist sich als The­menfeld, bei dem die Zielbilder, wie sich Deutschland entwi­ckeln sollte, erheblich und in gegensätzliche Richtung unter­scheiden. Bei den anderen Aussagen besteht letztlich Einig­keit darüber, dass Deutschland die Werte noch nicht so stark erfüllt, wie es aus Sicht der Befragten wünschenswert wäre. Unterschiedlich fällt aber das Niveau aus, wie groß die Diffe­renz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist. Zum anderen bringt die Analyse auch zum Vorschein, dass die Einstellun­gen der BSW-Wählerschaft eher denen der AfD-Wählerschaft ähneln.

 

Fazit
 

Die meisten Bürger_innen haben eine grundsätzlich ähnliche Einschätzung darüber, bei welchen Werten Deutschland noch hinter­herhinkt. Die Unterschiede zeigen sich hier maßgeblich in ei­ner unterschiedlich starken Priorisierung. Beispielsweise steht für die Wähler_innen der AfD Deutschland bei Klima- und Umweltschutz schon da, wo es stehen sollte, während für die Anhängerschaft linkerer Parteien hier noch eine deutliche Lü­cke zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft. Bei Aussagen, die eher ein konservatives Wertebild implizieren, ist das Mus­ter umgekehrt. Nur beim Thema der kulturellen und religiö­sen Vielfalt zeigt sich ein diametraler Gegensatz. Während manche Wähler_innen finden, dass Deutschland zu stark für diese Werte steht, finden (viele) andere Wähler_innen, das Land sollte noch etwas stärker für diese Werte stehen.

Die aktuelle Diskussion um die Verschärfung der politi­schen Konflikte lässt sich somit auch mit der öffentlichen Dis­kussion um Fragen der Migration verknüpfen, die eng mit der Aussage zur religiösen und kulturellen Vielfalt verknüpft sind. Durch die hohe Aufmerksamkeit, die diesem Thema in der öffentlichen Debatte geschenkt wird, treten die in der Analyse ausgearbeiteten Unterschiede stark zum Vorschein. Dies geht auf Kosten von Themen, bei denen eine stärkere Übereinstim­mung zwischen den Befragten herrscht. So hat die Analyse auch gezeigt, dass bei wirtschafts- und sozialpolitischen The­men weniger gegensätzliche Positionen zwischen den Wähler­gruppen festgestellt werden können. Gleichzeitig sind das die Themen, bei denen die Befragten insgesamt eine starke Diffe­renz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wahrnehmen. Eine stärkere öffentliche Fokussierung auf diese Themen erscheint daher angebracht.

 

Über den Autor

Michael Jankowski hat an der Universität Oldenburg im Bereich der empirischen Wahl- und Einstellungsforschung promoviert. Er befasst sich in seiner Forschung mit quantitativen Methoden und wendet diese auf Fragen der empirischen Demokratieforschung an.


Ansprechpartner in der FES

Jan.Engels(at)fes.de

 

Jankowski, Michael

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Wofür steht Deutschland aus Sicht der Wähler ̲innen?
Berlin, 2024

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