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Die Auswirkungen des Coronavirus in den Gefängnissen Lateinamerikas

Absolute Überfüllung und prekäre Bedingungen lassen viele Gefängnisse in Kolumbien und Lateinamerika seit Monaten zum Corona-Hotspot schlechthin werden. Solange sich das System des Strafvollzugs nicht ändert, gibt es wenig Hoffnung – weder für die Ansteckungsgefahr noch für den sozialen Frieden.

Bild: Angehörige von Insass_innen vor dem Hauptgefängnis La Picota (Bogotá) von © Mauricio Alvarado/ El Espectador

Rund um viele Gefängnisse in der Region kann man derzeit dramatische Szenen beobachten. Frauen und Kinder warten verzweifelt darauf, ihre inhaftierten Angehörigen zu sehen; in einigen Fällen gehen Matratzen, Decken und alles Brennbare in Rauch auf, was von den Insass_innen in Brand gesteckt wurde. Manchmal gibt es auch Tote. Streit und Kummer breitet sich unter denen aus, die ihrer Freiheit und ihrer Familien beraubt wurden. Die Pandemie ist auch in den Gefängnissen angekommen und hat keineswegs vor ihren Toren Halt gemacht.

Covid-19 hat signifikante Auswirkungen auf die Gefängnisse in der ganzen Welt. Einerseits sind die Justizvollzugsanstalten nicht auf eine wirksame räumliche Distanzierung vorbereitet, denn enger Kontakt zwischen Insass_innen und Vollzugspersonal ist hier alltäglich. Andererseits mangelt es in zahlreichen Hafteinrichtungen auch an den sanitären Voraussetzungen und an Krankenzimmern, um dem Virus wirksam begegnen zu können.

Die Krise der Gefängnisse zeigt sich in Lateinamerika in besonders drastischer Form. Hier ist die Überbelegung deutlich größer als im weltweiten Durchschnitt. In fast allen Ländern auf dem Sub-Kontinent übersteigt die Zahl der Inhaftierten die eigentlich verfügbaren Plätze, mancherorts um mehr als 200 Prozent. In einigen Fällen hat sich die Zahl der Personen im Freiheitsentzug in weniger als 20 Jahren sogar verdreifacht. Dabei hat die Gefängnispopulation besonders in den letzten 15 Jahren rasant zugenommen.

So legt das Coronavirus die Schwächen des lateinamerikanischen Vollzugssystems schonungslos offen und verschärft zusätzlich bestehende Konflikte und Herausforderungen. Neben der Überbelegung erhöhen die Güter- und Ressourcenknappheit die Herausforderung, eine  dem Virus schutzlos ausgelieferte Bevölkerungsgruppe gesundheitlich angemessen zu versorgen. Darüber hinaus ist es notwendig, neue Protokolle zu erarbeiten, die den unverzichtbaren Kontakt der Gefangenen mit ihren Familien auf ein Mindestmaß einschränken. Hinzu kommt noch die Angst vor großen Ansteckungswellen, die die ohnehin prekären Krankenhaussysteme in der Region unter zusätzlichen Druck setzen würden. Zusammengefasst bedeutet dies eine große humanitäre und gesundheitliche Herausforderung für Gefängnissysteme in Ländern des Globalen Südens (vgl: Offizielle Zahlen der Nationalen Strafvollzugsbehörde Inpec sprechen davon, dass 84 Prozent der Gefängnisse im Land coronafrei seien).

Ein Expert_innenausschuss rund um die Lateinamerikanische Kriminologische Gesellschaft (Sociedad de Criminología Latinoamericana) hat  im Juni mit einer Studie begonnen, um die Probleme und Herausforderungen zu messen und zu bewerten, die die Pandemie für die lateinamerikanischen Gefängnisse mit sich bringt. Abschließende Antworten stehen zwar noch aus; dennoch bietet Covid-19 Anlass genug, die Gefängnisse in der Region aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Es wird sehr schwierig sein, die gegenwärtige Praxis der Massenverhaftungen ohne angemessene Investitionen aufrechtzuerhalten, die die finanzschwachen lateinamerikanischen Länder aber unmöglich finanzieren können.. Deshalb schließe ich diesen Artikel mit der These, dass Gefängnisse keineswegs »Menschendepots« sein dürfen, deren Insass_innen wir anstandslos vergessen. Verbrechen verhindert man so nicht - denn die überwiegende Mehrheit der festgenommenen und wieder freigelassenen Täter sehr schnell durch neue Insass_innen ersetzt wird. Die Haftanstalten sind also mitnichten dazu geeignet, das Kriminalitätsproblem zu lösen, das die Region plagt.

Die Herausforderungen

Das Coronavirus trifft die lateinamerikanischen Länder in einem Moment, in dem die Zahl der Gefängnisinsass_innen in der Region geradezu explodiert. Die Regierungen verfolgen eine Politik der harten Hand und wollen Gerichtsverfahren »beschleunigen«, um schneller zu Verurteilungen zu gelangen. Das hat dazu geführt, dass Länder wie Kolumbien in den vergangenen zwölf Jahren einen Anstieg in der Anzahl der Inhaftierten um mehr als 50 Prozent verzeichneten. Besonders besorgniserregend daran ist, dass diese Entwicklung nicht aufzuhalten zu sein scheint. Wird am Justizvollzug nichts geändert, dürfte sich die Zahl der Gefängnisinsass_innen also weiter erhöhen. Letztlich werden die Bürger_innen durch ihre Steuern oder durch die Staatsverschuldung die hohen Kosten tragen, die dieses System verursacht.

Vor diesem Hintergrund bringt die Pandemie nun neue Probleme mit sich. Zusätzlich zu den großen Herausforderungen, die Rückfälligkeit zu verringern und zugleich die Grundrechte der Insass_innen zu wahren, verursacht das Virus neue Problematiken, die nur schwer zu bewältigen sein werden.

Die zentralen Herausforderungen für die Strafvollzugssysteme in ganz Lateinamerika lassen sich entlang von sieben Diskussionslinien bündeln: :

  • Überbelegung und räumliche Distanzierung: In lateinamerikanischen Gefängnissen ist es nahezu unmöglich, infizierte Personen zu isolieren. Ist das Virus erst einmal in ein Gefängnis gelangt, kann es sich fast ungehindert und in hohem Tempo ausbreiten. Man geht davon aus, dass sich in vielen Gefängnissen bereits die Hälfte der Inhaftierten angesteckt hat. Doch nicht alle Corona-Toten werden offenbar auch als solche erfasst.
  • Vollzugspersonal: Das Virus gelangt mit der großen Anzahl an Wach- und Vollzugspersonal in die Gefängnisse, das ständigen Kontakt zu den Inhaftierten hat. In entgegengesetzte Richtung kann das Virus auch aus den Gefängnissen heraus in die Bevölkerung übergreifen, wenn es vom Vollzugspersonal in Straßen und Stadtteilen getragen wird. Es wäre also ein Fehlschluss anzunehmen, das Virus sei zusammen mit den Inhaftierten auf die Gefängnisse beschränkt.
  • Angehörige und Besucher_innen: Es ist bekannt, dass die meisten Inhaftierten in der Region zumindest teilweise von ihren Angehörigen und Besucher_innen unterstützt werden. Diese bringen ihnen Verpflegung, Medikamente, Kleidung, Geld und in einigen Fällen illegalerweise auch Drogen. Der Großteil der Inhaftierten in Lateinamerika hängt von Angehörigen ab, um im Gefängnis zu überleben. Doch aufgrund von Covid-19 wurden nun vielerorts alle Besuche untersagt. Wie wirkt sich dieses Kontaktverbot auf die Inhaftierten und ihre Angehörigen aus?

Die Studie deutet bereits darauf hin, dass in 95 Prozent der Gefängnisse keine Besuche mehr stattfinden. Dies hat in einigen Fällen zu Beschwerden und Konflikten unter den Insass_innen geführt. Es ist kaum zu erwarten, dass diese weiterhin ruhig bleiben werden, wenn Besuche und Versorgung nicht bald wieder aufgenommen werden können.

  • Konflikte und Aufstände: In mehr als der Hälfte der lateinamerikanischen Vollzugssysteme ist es seit Ausbruch der Pandemie zu Gefängnisaufständen gekommen. Oft wurden dabei Dutzende Menschen verletzt oder gar getötet. Abgesehen von offensichtlichen Ursachen wie der Überbelegung und den prekären Lebensbedingungen werden diese Konflikte auch durch die Angst vor Ansteckung, die schlechten Isolierungsmaßnahmen, Forderungen nach Haftentlassungen und die Aussetzung von Besuchsprogrammen und Warenversorgung ausgelöst. Derzeit herrscht in den Gefängnissen eine angespannte Ruhe, doch die kann jeden Moment enden, sofern man diesen Herausforderungen nicht begegnet.
  • Übergangsgefängnisse: Um die Gefängnisinsassen zu schützen, wurde in vielen Ländern ein Aufnahmestopp für neue Insass_innen verhängt. Diese werden stattdessen in Übergangsgefängnissen oder Polizeiwachen inhaftiert, um sie dort gewissermaßen unter Quarantäne zu stellen, bevor sie in die Gefängnisse gebracht werden. Doch sind diese Orte sogar noch schlechter ausgestattet und ihrerseits zunehmend überbelegt. So kommt es, dass sich das Virus auch dort ausbreitet, was wiederum die Verlegung in die eigentlichen Gefängnisse für längere Haftzeiten erschwert. Also sammeln sich die Neuinsass_innen in zahlreichen Ländern in Übergangsgefängnissen, die so zu neuen Infektionsherden werden.
  • Haftentlassungen: Covid-19 hat eine regelrechte Lawine an Petitionen ausgelöst, mit denen die Justiz und andere Verwaltungsorgane aufgefordert werden, Inhaftierte frühzeitig aus der Haft zu entlassen. Die jeweiligen Bedingungen sind dabei unterschiedlich und betreffen Gefangene im fortgeschrittenen Alter (über 60 Jahre), Gefangene mit gesundheitlichen Problemen oder aber solche, bei denen das Ende der Haftzeit bereits abzusehen ist. In einigen Fällen wird auch die Verlegung in den überwachten Hausarrest gefordert. All diese Petitionen müssen von den Justizbehörden geprüft werden, dürfen jedoch auch abgelehnt werden. Doch um die Gefängnisse zu entlasten und humanitäre Aspekte zu beachten, wurden in den vergangenen Monaten dennoch viele Inhaftierte entlassen. Den vorliegenden Daten zufolge schwankt ihre Anzahl zwar von Land zu Land, übersteigt jedoch nirgendwo einen Anteil von fünf Prozent der Gefängnisbevölkerung und liegt meist eher im Bereich von zwei Prozent. Die in allen Ländern existierende Überbelegung, die mitunter 50 oder gar 100 Prozent der offiziellen Kapazität beträgt, kann auf diese Weise also kaum gemindert werden. Denn eine Verringerung der Gefängnispopulation um fünf Prozent bliebe nahezu folgenlos. Die ausbleibenden  Entlassungen sind im Allgemeinen auf Vorbehalte in der Bevölkerung gegenüber ehemaligen Gefangenen zurückzuführen, unabhängig davon vor welchem Hintergrund die Freilassung geschehen sollte. . Die Behörden nehmen die Stimmung in der Bevölkerung wahr und lehnen daher die meisten Anträge ab.
  • Wiedereingliederung: Zwar sind die Gefängnisse für die Wiedereingliederung der Gefangenen in die Gesellschaft gedacht; dies gelingt jedoch nur selten. In den Vollzugsanstalten gibt es Bildungsprogramme, Arbeit und Therapieangebote zur Bekämpfung von Gewalt und Suchterkrankungen. In drei von vier Vollzugssystemen in der Region sind diese Programme derzeit ausgesetzt. Die mittel- und langfristigen Folgen könnten verheerend sein – in erster Linie, weil diese Programme extrem wichtig sind, um den Gefangenen eine Perspektive für die Zeit nach ihrer Haftentlassung zu geben; und zweitens, weil die Inhaftierten aufgrund der Aussetzung der Angebote mehr Freizeit haben – eine äußerst gefährliche Mischung. Denn die Gefahr von Unruhen, Gefängnismeutereien und Straftaten in den Haftanstalten wächst, je weniger die Gefangenen zu tun haben.

Diese und andere schwierige Herausforderungen bringt das Coronavirus nun mit sich. Viele existierten in den lateinamerikanischen Gefängnissen bereits zuvor und wurden durch das Virus weiter verschärft. Andere sind relativ neu und erfordern eine Reaktion. Klar ist, dass das Gefängnis als Sinnbild für Isolation und Trennung der Kriminellen vom Rest der Gesellschaft ein Irrglaube ist. Denn es ist unmöglich, die Vollzugsanstalten vollständig vom sozialen Gefüge zu trennen. Und die Pandemie zeigt uns, dass die Ansteckungsgefahr und die daraus resultierenden Probleme auch in die Gefängnisse eindringen und aus ihnen heraus in die Gesellschaft übergreifen. So führt uns Covid-19 vor Augen, dass wir die Folgen der Masseninhaftierung früher oder später im Lichte der gesellschaftlichen Probleme betrachten müssen, die sie verursacht. Die gute Nachricht lautet möglicherweise, dass die Pandemie uns dazu zwingt, darüber nachzudenken, welche Art von Strafvollzug tatsächlich gesellschaftlich notwendig ist.

Marcelo Bergman ist Direktor des Centro de Estudios Latinoamericanos sobre Inseguridad y Violencia (Lateinamerikanisches Studienzentrum Unsicherheit und Gewalt, CELIV) an der Universidad Nacional de Tres de Febrero in Argentinien.

Der Text ist eine Übersetzung aus dem Spanischen, den Originalartikel können Sie unter folgendem Link lesen: www.elespectador.com/noticias/judicial/los-efectos-del-coronavirus-en-las-carceles-de-latinoamerica/

Auf der folgenden Seite finden Sie zudem Informationen in Echtzeit darüber, wie das Coronavirus die humanitäre Krise in kolumbianischen Gefängnissen verschärft, sowie gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien erarbeitete Analysen, Berichte und Podcasts über die kolumbianische und lateinamerikanische Realität in Gefängnissen inmitten der Pandemie: especiales.elespectador.com/covid-19-en-las-carceles/

In der deutschen Fassung verwenden wir eine geschlechtersensible Sprache.


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