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Die Peripherie oder wo steht Lateinamerika postpandemisch?

Die Pandemie hat Lateinamerikas Probleme entblößt, sie hat die Desillusionierung vieler über die Situation in ihren Ländern bestätigt. Covid-19 war der Tropfen auf den heißen Stein.

Bild: Fernglas mit Blick auf eine Stadt von Ricardo Esquivel, pexels.com

Die nächsten zwei Jahre werden für Lateinamerika eine entscheidende und turbulente Zeit. Die Auswirkungen der Pandemie im sanitären, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich werden in der ganzen Region auch nach dem dystopischen Jahr 2020 stark zu spüren sein.

Die Pandemie hat Lateinamerikas Probleme entblößt, sie hat die Desillusionierung vieler über die Situation in ihren Ländern bestätigt. Covid-19 war der Tropfen auf den heißen Stein. Wirtschaftlicher Abschwung, Ungleichheiten, soziale Unzufriedenheit, politische Umbrüche und Polarisierungen prägten bereits vor Corona die Region. Die sozialen Krisen sind durch die Pandemie sichtbarer geworden. Natürlich ist die Situation, sind die Ursachen für Probleme in jedem Land anders, dennoch können allgemeinere Rückschlüsse für die Gesamtregion gezogen werden.

Denn die Gesundheitskrise hat nun in Lateinamerika zu einer Wirtschaftskrise geführt mit einem 10-jährigen Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens. Und während der Welthandel zwischen Januar und Mai 2020 um 17 Prozent zurückging, war Lateinamerika mit einem Rückgang der Exporte um 26,1 Prozent und der Importe um 27,4 Prozent die am stärksten von diesem Rückgang betroffene Entwicklungsregion.

Die sozialen Krisen sind durch die Pandemie sichtbarer geworden

Es wird erwartet, dass weitere 15 Millionen Personen von Armut betroffen sein werden. Corona hat die soziale Spaltung auf dem Arbeitsmarkt offengelegt. Personen mit formeller Beschäftigung erfreuen sich einer Absicherung auch in Coronazeiten, während die vielen Menschen mit informeller Arbeit ohne staatliche Transferleistungen keinerlei Absicherung haben. Und durch die Digitalisierung – durch Corona ebenfalls gepusht - wächst der informelle Arbeitsmarkt. Die sanitäre Infrastruktur sowie andere Bereiche der staatlichen Grundversorgung sind in vielen Ländern nicht resilient. Ein weiterer Krisen-Faktor, dessen Auswirkungen wir möglicherweise erst in einigen Jahren analysieren und verstehen werden können, sind die Schulschließungen in fast allen Ländern der Region über mehrere Monate, teils ein ganzes Schuljahr. Eine unvorstellbare, aber doch sehr reale Dystopie. Aus präventiven gesundheitlichen Gründen und aufgrund defizitärer öffentlicher Gesundheitssysteme wurde der Präsenzunterricht der Primar- und Sekundärstufen ausgesetzt. Online-Angebote, Digital-Unterricht, Aufgaben via Radio und TV sind vor allem in den staatlichen Schulen bescheidende edukative Komplementärangebote und können die sozialen, integrativen und kulturellen Aufgaben von Schulen nicht ausgleichen.

Regionale Beziehungen gemeinsam und neu denken

Klare und frische Antworten seitens der Entscheidungsträger_innen und des Staates auf diese enormen Probleme und für die Wiederbelebung sind noch nicht sichtbar, nur einzeln und in wenigen Ansätzen. Nicht nur stehen die Länder der Region vor der Herausforderung im Inneren ihrer jeweiligen Länder nach diesen Antworten zu suchen, sondern das periphere Lateinamerika sollte auch seine intra- und extraregionalen Beziehungen gemeinsam und neu denken. Lange war die Region im internationalen Vergleich nicht so schwach aufgestellt wie aktuell.[1] Navigierte Lateinamerika vor zehn bis 15 Jahren noch recht selbstbewusst auf internationalem Parkett, ist davon heute nicht viel übrig. Regionale Institutionen wurden in den vergangenen Jahren nicht gestärkt, einige wie die UNASUR bewusst abgewickelt.

Die Welt ist in Transformation. Die Region Lateinamerika steht diesem Wandel in doppelter Hinsicht angeschlagen gegenüber. Zum einen aufgrund der zahlreichen innenpolitischen und sozialen Herausforderungen. Zum anderen aufgrund einer fehlenden gemeinsamen Stimme bzw. ohne funktionierende Mechanismen der Artikulation gemeinsamer Interessen der gesamten Region. Wenig scheint übrig geblieben von dem Lateinamerika der Nuller-Jahre, das Lateinamerika des Wachstums, neuer progressiver Politiken und größerer Autonomie. Lateinamerikas Wirtschaften sind bis auf Ausnahmen vom Rohstoffexport und Agrarprodukten abhängig. Sinken die Preise für Rohstoffe, fehlen bedeutende Einnahmen. Geringe Diversifizierung der Volkswirtschaften, wenig Investitionen in Wissenschaft und Technologie, kaum Patentanmeldungen, die höchsten Ungleichheitsindizes weltweit, hohe Armutsraten, auch im Bildungsbereich eine schlechte Performance, all diese Aspekte lassen die mangelnde Fähigkeit Lateinamerikas aktuell innerhalb wie außerhalb der Region „zu wirken“ erkennen.

Gerade deswegen ist Multilateralismus wichtig, für die Schwächeren, für die Zwischenländer, für die Länder an der Peripherie, weil er dazu dient, sich zusammenzutun und die Willkür der Mächtigen einzuschränken.

Die Verbreitung der neuen Impfstoffe ist ein beeindruckendes Beispiel für die aktuelle geopolitische Verteilung von Macht und Einfluss

Die Ankunft der Covid-19-Impfstoffe markiert den Beginn einer neuen Phase der Pandemiebekämpfung. Neben Kontrolle und Bekämpfung der Krankheit beginnt nun die Logistik für die Beschaffung und Verteilung der Impfstoffe. Die Verbreitung der neuen Impfstoffe ist ein beeindruckendes Beispiel für die aktuelle geopolitische Verteilung von Macht und Einfluss. Ein Wettlauf unter den Ländern und Regionen um den Kauf und die Herstellung von Anti-Corona-Impfstoffen hat begonnen. Europa, USA, China und Japan landen dabei auf den ersten Plätzen. Sowohl beim Kauf als auch bei der Herstellung. Doch die Länder des Globalen Südens müssen schauen, wie sie diesen Wettlauf meistern. Denn sonst gehen sie leer aus. Dies betrifft vorläufige Vereinbarungen mit Ländern oder Firmen, die Frage nach einer Aussetzung des geistigen Eigentumsrechtes an den Impfstoffen, oder den Ruf nach gleichberechtigtem Zugang zu den Wirkstoffen.[2] Und all dies, während lateinamerikanische und karibische Länder weiterhin Schwierigkeiten haben, die Ausbreitung der Krankheit zu kontrollieren. Man spricht bereits von einer zweiten Welle in Mexiko und Brasilien. Wird die regionale Zusammenarbeit im Gesundheitswesen in Lateinamerika in der Lage sein, den Bedürfnissen der Region in dieser neuen Phase der weltweiten Pandemie gerecht zu werden? Bisher waren die Antworten so fragmentiert wie die Region. Die größeren Länder wie Brasilien, Mexiko und Argentinien haben bereits ihren Zugriff auf verschiedene Impfungen gesichert und erste Impfzeitpläne bekannt gemacht.

Während die Pandemiekontrolle auch 2021 andauern wird, werden die gesellschaftlichen Kämpfe um Rechtsansprüche und eine authentische Interessensvertretung in Ländern wie Chile, Bolivien, Guatemala, Kuba und Argentinien weitergehen. Dieses Panorama deutet auf eine unruhige Zeit, dafür aber auch sehr intensive und bedeutende demokratische Dynamik hin, die notwendig, positiv und motivierend für die Region ist: Ob eine neue, zeitgemäße Verfassung wie in Chile, der Kampf gegen Korruption und für Institutionen, die die Interessen einer Mehrheit und nicht einer privilegierten Minderheit vertreten wie in Guatemala oder die Abstimmung um das Recht der Frau über ihren Körper zu bestimmen wie in Argentinien oder der Kampf für Gleichberechtigung und gegen Gewalt an Frauen in ganz Lateinamerika. Denn die Ungleichheiten sind nicht allein auf Fragen der wirtschaftlichen Performance zurückzuführen, sondern auf ungleiche Möglichkeiten und ungleichen Zugang zu Bildung, Gesundheit und den Arbeitsmarkt. Und diese Ungleichheit betrifft die Frauen Lateinamerikas noch einmal stärker. Covid-19 hat diesen Einsatz für ein selbstbestimmtes und besseres Leben zum Glück nicht gebremst.

Jetzt ist der Moment, in dem sich die Agenda für die Postpandemiezeit herauskristallisiert

Es gibt wenige Indikatoren, die uns zeigen, dass die kommenden Jahre für die Region ruhig, sicher und von Stabilität und Wachstum geprägt sein werden. Die Wirtschaften Lateinamerikas liegen am Boden, die Auslandsverschuldung steigt (trotz erfolgreicher Verhandlungen in Ländern wie Argentinien und Ecuador), die Privatverschuldung steigt, die regionale Kooperation ist mager, die Militärs erfreuen sich in vielen Ländern eines comebacks, die soziale Textur zerbröselt im Angesicht von Corona. Jetzt ist der Moment, in dem sich die Agenda für die Postpandemiezeit herauskristallisiert. Nicht nur Regierungen, auch nichtstaatliche Akteure und soziale Bewegungen sind entsprechend aufgefordert, Initiativen und Aktionen zu reaktivieren oder aktiv zu werden, sei es in mini- und multilateralen oder bi-regionalen Räumen. Einzelne Länder Lateinamerikas (bis auf Brasilien) haben nicht genug Masse, um für Aufmerksamkeit zu werben. Und Europa sollte die soziale Katastrophe, die Covid-19 im fragmentierten Lateinamerika schonungslos aufgedeckt hat, ernst nehmen. Der Lateinamerikagipfel des Auswärtigen Amtes zielte 2019 auch darauf ab – „nationalistischen Tendenzen weltweit mit einem breiten multilateralen Bündnis zu begegnen“. Jetzt ist der Moment, gemeinsam vorzugehen.

Dr. Svenja Blanke, Repräsentantin der FES Argentinien und Leiterin der Nueva Sociedad

Stand: 18.12.2020

 

[1] Weiterführende Analyse zur geopolitischen Aufstellung Lateinamerikas, insb. G. Gonzalez, M. Hirst et al., Transición de poder internacional y el vaciamiento latinoamericano, in der nächsten Ausgabe der Nueva Sociedad 291, enero/febrero 2021 (forthcoming).

[2]https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/patente-4867/?utm_campaign=de_40_20201215&utm_medium=email&utm_source=newsletter; https://news.un.org/es/story/2020/05/1475182


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