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Feministische Bewegungen, die Logik des Neoliberalismus und Kapitalismuskritik in Chile: ein Interview mit Javiera Vallejo

Seit mindestens fünf Jahren setzen Feministinnen in Chile zusätzlich zu den klassischen Kämpfen wie dem Recht auf Abtreibung oder gegen patriarchale Gewalt eine radikale Infragestellung des neoliberalen Kapitalismus auf die Tagesordnung; und das mit Erfolg.

Bild: Demonstration in Santiago de Chile von © Sahah Herold

Ein Interview von Sarah Herold, FES Chile mit Javiera Vallejo, chilenische Journalist_in, Teil des Netzwerks ‘FESminismos- El Futuro es Feminista‘ und seit 2018 in der feministischen Organisation »Coordinadora 8M« aktiv.

Sarah Herold: Die chilenische Politik zeichnet sich durch Individualismus und Neoliberalismus aus. In den letzten Jahren haben feministische Bewegungen diese innere Logik jedoch durcheinandergebracht. Handelt es sich dabei tatsächlich um einen echten Bruch oder nur eine Unterbrechung mit den bisherigen Verhältnissen? Und welche Wirkung konnten sie in den vergangenen Jahren tatsächlich entfalten?

Javiera Vallejo: Meiner Meinung nach lässt sich darin bislang noch kein echter Bruch erkennen. Viele feministische Strömungen in Chile haben sich bislang auf die gesellschaftliche Organisation konzentriert und dabei – ähnlich wie FESminismos (https://fes-minismos.com/) – insbesondere in den letzten Jahren die Sorgearbeit in den Mittelpunkt gestellt. Dabei ging es einerseits um eine Theoriebildung und die Kritik an ursächlichen gesellschaftlichen Strukturen, andererseits aber auch um konkrete Aktionen und Maßnahmen zum Thema Nachhaltigkeit.

Aus unterschiedlichen Richtungen haben sich Frauenorganisationen und soziale Führungspersonen an dem Prozess beteiligt und zu der Bewegung beigetragen, auch wenn sie sich nur teilweise als feministisch bezeichnen. Die Akteure kommen aus der Umweltschutzbewegung und der Verteidigung nationaler Souveränität[1], sie organisieren sich in Stadtvierteln und setzen sich für den Schutz der indigenen Bevölkerung oder die Sorgearbeit, der Nahrungsmittelsouveränität, dem sozialen Wohnungsbau und die Betreuung von Kindern und Senior_innen ein.

Es gibt eine Geschichte von Frauenkämpfen, die aus neoliberaler Lesart als Bereiche individueller Verantwortung verstanden und in den privaten Bereich verbannt werden, die nun jedoch durch die gemeinschaftliche Organisierung vergesellschaftet und durch öffentliche Forderungen ersetzt wurden.

Seit mindestens fünf bis sechs Jahren setzen Feministinnen in Chile zusätzlich zu den klassischen Kämpfen des Feminismus wie dem Recht auf Abtreibung, gegen patriarchale Gewalt und politische Partizipation eine radikale Infragestellung des neoliberalen Kapitalismus in Chile kämpferisch auf die Tagesordnung, wobei die Nachhaltigkeit des Lebens im Mittelpunkt steht. Frauen, die in der Vergangenheit für einen Großteil dieser Sorgearbeit verantwortlich waren, fühlten sich dazu aufgerufen, mehr und mehr auf die Straße zu gehen. So war es am 8. März 2019, als zwischen 900.000 und einer Million Menschen aus unterschiedlichen sozialen Organisationen unter maßgeblicher Beteiligung von Frauen auf die Straße gingen. Damit wurde die gängige Kritik widerlegt, der Feminismus sei vor allem ein akademisches und elitäres Projekt wie in bestimmten Kreisen immer wieder zu hören ist.

Aus diesem Blickwinkel könnte man also sagen, dass die herrschenden Verhältnisse und die Annahmen hinterfragt werden, auf denen der chilenische Individualismus in seiner radikalsten Ausprägung beruht: dass nämlich die Menschen kein Verlangen danach hätten, sich zu organisieren oder das System zu kritisieren, in dem sie derzeit leben, und sich stattdessen lieber dem Konsum in den großen Einkaufszentren hingäben.

Wie Rancière sagen würde, ergriff das Wort den öffentlichen Raum. Das verursachte einen Bruch, der die Aufstände vom 18. Oktober vergangenen Jahres erst ermöglichte. Das »Bis hierhin und nicht weiter« wurde gewissermaßen ergänzt durch ein »Wir sind mehr«, dass der Slogan der Feministinnen während der bürgerlich-militärischen Diktatur war. Diese Ablehnung war transversal und manifestierte sich quer durch die Gesellschaft ohne Führungsfiguren traditioneller politischer Organisationen, eine Form, die sich auch während des feministischen Mai 2018 zeigte und zu der hier meiner Meinung nach eine enge Verbindung besteht.

Feministische Organisation oder eher die Feminismen sind sehr divers, organisieren sich aber zumindest in Chile über verschiedene Frauen- und Widerstandsorganisationen. in denen sich ein neues Narrativ herausgebildet hat. Eine radikale Kritik am herrschenden System in dem wir uns befinden und die Organisationsformen, mit denen traditionelle linke Politik gemacht wurde. Diese zeichnet sich durch eine besondere Vertikalität und die Begrenzung auf das Mögliche sowie eine Angst vor einer zunehmenden Radikalisierung angesichts rechter Vorstöße etc. aus.

Man könnte vor diesem Hintergrund also durchaus von einer historischen Wende reden. Einerseits erleben wir die Entstehung einer sozialen Bewegung, die sowohl die Rechte für die Vertiefung der kapitalistischen, neoliberalen und fundamentalistischen Logik als auch die Linke kritisiert, die in Lateinamerika in den letzten Jahren gescheitert ist. Wir sind von totalitären und rechtsfaschistischen Regierungen umgeben, während die progressive Politik auf dem Rückzug ist. Diese Veränderung ist für sich genommen zwar noch kein Bruch; man sieht aber, dass sich die Gesellschaft immer weiter polarisiert und die Rechte sowohl in diesem Land als auch in der gesamten Region zunehmend in Richtung Autoritarismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Fundamentalismus abdriftet. Wir befinden uns also gerade immer noch in einer wichtigen Phase und erleben eine Öffnung, die zwar noch nicht weit genug geht, uns aber eine Marschrichtung vorgibt.

Sarah Herold: Sie haben das Thema Marxismus und Kapitalismuskritik bereits angesprochen. In Lateinamerika sind die Theorien des Marxismus und marxistische Gruppierungen ja im Kontext von Diktaturen und Leben im Untergrund immer präsent gewesen. Sie kritisierten den Kapitalismus, und heute sind es gerade Frauen und LGBTIQ-Menschen, die sich noch immer besonders stark mit linker oder marxistischer Politik identifizieren. Wie wichtig oder wie viel Marxismus oder antikapitalistische Kritik steckt heute in den feministischen Bewegungen in Chile?

Javiera Vallejo: Meiner Meinung nach ist der Marxismus noch immer äußerst wichtig für unsere Bemühungen. Man muss aber unterscheiden zwischen marxistischer Theorie und marxistischer Kapitalismuskritik auf der einen Seite und den traditionellen Linken auf der anderen Seite, die zwar marxistische Fahnen schwenken und sich als Marxist_innen bezeichnen, in den letzten 20 oder 30 Jahren aber ihren Weg hin zur Institutionalisierung gegangen sind und die Logik der liberalen Demokratie für sich angenommen haben.

Um es mit Donna Haraway auszudrücken, ist der Marxismus zwar wichtig, darf sich aber nicht auf bloße Kritik beschränken. Vielmehr muss er über andere mögliche Welten nachdenken. Und genau das tut meiner Meinung nach der Feminismus. Er überlegt, was falschläuft und setzt sich zum Ziel, eine andere Gesellschaft aufzubauen. Dabei dürfen wir uns keineswegs nur auf den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital beschränken, der sehr wichtig ist, nicht allein in den Mittelpunkt gestellt werden sollte.

Stattdessen befasst sich der Feminismus zunehmend mit dem Themen der unbezahlten Arbeit, der Sorgearbeit und der reproduktiven Arbeit, welche für die feministischen und sozialen Bewegungen Lateinamerikas seit jeher wichtig sind, von der traditionellen Linken aber nicht aufgenommen wurde. Der Schutz und das Bewahren von Umwelt und Natur wurde von der Linken systematisch außer Acht gelassen und stattdessen in die entwicklungsorientierte wirtschaftspolitische Logik eingefügt. Der Extraktivismus wurde von der Linken nicht hinterfragt, obwohl er vielen Gemeinschaften und Regionen großen Schaden zugefügt hat. In dieser Hinsicht kann man die traditionelle Linke also durchaus kritisieren. Ich glaube aber dennoch, dass der Marxismus ein wichtiges Feld ist und der marxistische Feminismus ebenfalls eine wichtige Strömung innerhalb eines Feminismus darstellt, der sich zunehmend organisiert und einbringt.

Ein anderes Thema in Lateinamerika ist das Hinterfragen des historischen Subjekts im Kontext der Erwerbstätigkeit, mit dem sich in Chile und Argentinien sowie in Brasilien zahlreiche soziale Bewegungen befassen. Sie verstehen unter Arbeit nicht unbedingt nur bezahlte Arbeit und definieren die Arbeiter_innenklasse nicht ausschließlich über Lohnarbeit. Man denke etwa an die Kooperativen, die genossenschaftlich organisierten Projekte und den informellen Arbeitsmarkt, auf dem äußerst prekäre Verhältnisse herrschen. Sie begreifen sich als autonom und organisieren sich ebenfalls zunehmend.

Tatsächlich entsteht in Argentinien gerade ein Zentrum für diese Beschäftigten. Dort stellt sich die Frage, wie die gesellschaftliche und politische Organisation in diesem Bereich aussehen kann. Dadurch entsteht meiner Auffassung nach eine relevante Kritik am Marxismus in seiner klassischen Ausprägung. Außerdem befasst man sich dort mit der Frage, wie wir die Gesellschaft denken wollen und können, ohne nur höhere Gehälter zu fordern, die natürlich genau wie die Arbeitsbedingungen durchaus wichtig sind. Vielmehr geht es darum, wie wir die Produktion autonomer organisieren können, ohne uns von Kapital, Unternehmen oder sogar dem Staat abhängig zu machen. Die Arbeitnehmer_innenorganisationen weisen in dieser Hinsicht Anknüpfungspunkte zur Umwelt- und Frauenbewegung auf, die die reproduktive und unbezahlte Arbeit in den Mittelpunkt rücken. Hier existiert eine interessante Symbiose, die man als Kritik am traditionellen Marxismus auffassen kann. Ohne Zweifel muss diese kritische Auseinandersetzung fortgesetzt werden, die der Marxismus im vergangenen Jahrhundert angestoßen hat und die noch immer große Relevanz besitzt.

Sarah Herold: In Ihrer Antwort auf die erste Frage haben Sie bereits auf die Vielfalt innerhalb des Feminismus hingewiesen, in diesem Fall insbesondere auf die Vielfalt innerhalb der »Coordinadora 8M«. 2019 sagten Sie, dass sich diese einzigartige Vielfalt dort ebenfalls bemerkbar machte, denn andernfalls hätten sich niemals so viele Menschen engagiert. Welche großen Herausforderungen ergeben sich in der politischen Arbeit aus der Notwendigkeit, unterschiedliche Perspektiven, Persönlichkeiten und Erfahrungen miteinander in Einklang zu bringen, um die Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen?

Javiera Vallejo: Die Koordinationsstelle ist allein schon deshalb vielfältig, weil sie sich aus unterschiedlichen Individuen zusammensetzt. Es geht weniger um gesellschaftliche und politische Organisationen, als um Menschen, die verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Organisationen angehören. Auch Vertreter_innen der Parteien sind dabei. Und innerhalb der Koordinationsstelle gibt es unterschiedliche Schwerpunktbereiche.

Sarah Herold: Einer davon ist der Bereich Umwelt und Gesellschaft...

Javiera Vallejo: … andere befassen sich mit Internationalismus, andere wiederum sind Sozialarbeitende und wieder andere engagieren sich im Kampf gegen die Gefängnislogik. Die Aktionen sind vielfältig. Meiner Auffassung nach ist die Koordinationsstelle in einem Feminismus zu verorten, der sich zwar deutlich vom liberalen, institutionalisierten Feminismus abgrenzt, diesen aber nicht verneint. Wir übernehmen die Koordination bei zahlreichen Aktionen mit unterschiedlichen Organisationen, die mitunter viel stärker institutionalisiert und auch liberaler sind. Dabei geht es uns stets darum, nicht nur die Gleichstellung von Männern und Frauen innerhalb der Gesellschaft herzustellen, sondern gemeinsam Dinge anzustoßen, von denen wir überzeugt sind, dass diese gemeinsam angegangen werden müssen.

Die Koordinationsstelle steht aber auch ganz allgemein für Kritik an Kapitalismus und Rassismus. Wir lernen stets dazu und betreiben den Kampf gegen Rassismus zunehmend auch aus feministischer und dekolonialistischer Perspektive. Denn man darf nicht vergessen, dass der Kolonialismus auch die Politik der marxistischen Linken geprägt hat. Es herrscht also eine große Vielfalt, andererseits geht es aber auch um ein größeres Ganzes.

Schwierig ist zum Beispiel die Auseinandersetzung mit Themen, die derzeit die ganze Gesellschaft betreffen, wie das Plebiszit am 25. Oktober 2020. Dabei konnten wir die Koordinationsstelle gut positionieren und einige Projekte anstoßen, um unserer doppelten Funktion gerecht zu werden. Wir werden uns nicht selbst verleugnen und uns aus einem gesellschaftlichen Prozess heraushalten, der nur dank gesellschaftlicher Anstrengungen ins Rollen gekommen ist. Wir werden aber auch keiner Einigung mit genau den Institutionen zustimmen die uns von einer Regierung angeboten wird, die systematisch die Menschenrechte verletzt. Wir werden auch keinen Einzelregelungen zustimmen, wenn es sich dabei nicht um einen kollektiven Prozess handelt. Bei diesem sozialen Prozess sind andere Organisationsformen nötig und es reicht nicht aus, einfach nur zur Wahl zu gehen und seine Abgeordneten zu entsenden.

Vielmehr geht es darum, Themen zu bestimmen, die der chilenischen Bevölkerung wichtig sind, und diese in die neue Verfassung aufzunehmen. Kapitalismus und Neoliberalismus werden uns ja nicht durch Gesetze auferlegt, sondern entstehen durch gesellschaftliche Prozesse. Deshalb ist es wichtig, neue Wege zu beschreiten und dabei feministische Themen mit dem 18. Oktober zu verknüpfen, wobei insbesondere an die gemeinschaftliche Selbstorganisation zu denken ist, die in Zeiten der Pandemie neuen Schub bekommen hat. Ich denke da etwa an Suppenküchen und Nachbarschaftshilfen. Auf diese Weise bringen wir uns ein und führen den sozialen Kampf fort. Außerdem bringen wir uns in bestimmte Prozesse ein, die wir für wichtig halten.

Sarah Herold: Die Vielfalt zeigt sich also in gewisser Weise auch in den unterschiedlichen Gremien und Ausschüssen, die sich um einzelne Themen kümmern. Andererseits bildet sich ein breiterer Konsens bei anderen Themen heraus.

Javiera Vallejo: Das ist ein Lernprozess. Die »Coordinadora 8M« wurde für und mit dem 8. März gegründet. In den letzten zwei Jahren haben die beteiligten feministischen Organisationen aber bemerkt, dass es nicht nur um den 8. März als Datum geht, sondern ein ganzer Prozess angestoßen werden muss. So ist das Konzept des Dauerstreiks und des feministischen Generalstreiks entstanden. Man hat erkannt, dass Streiks ein Organisationsprozess und ein ständiger Kampf sind. Aus diesem Grund hat die Koordinationsstelle auch internationale Treffen angestoßen, bei denen ein Programm entwickelt wurde.

Sarah Herold: Das ist eine große Aufgabe.

Javiera Vallejo: Allerdings. Sie ist durchaus anspruchsvoll und hat auch zu Verwerfungen geführt. Einige gehen, andere kommen, manche Organisationen kritisieren uns. Aber Entscheidungen sind immer schwierig.

Am liebsten wäre es mir, wenn alle Entscheidungen bereits getroffen wären und wir direkt loslegen und handeln könnten. So sind wir aber gezwungen, uns so zu organisieren, wie es dem gesellschaftlichen und politischen Kontext angemessen ist. Das möchten wir gerne fortführen. Wir wollen tiefgreifende Veränderungen bewirken. Das ist schwierig, bietet aber auch Anlass zur Hoffnung.

[1] Unter dem Begriff der Verteidigung des Territoriums wird u.a. die Forderung verschiedener sozialer Bewegungen nach einer grundsätzlichen Rückgewinnung nationaler (staatlicher, kommunaler, lokaler) Souveränität verstanden. Hierbei geht es um Ressourcen wie Wasser, Bodenschätze, Verteidigung indigener Territorien, das Recht auf Wohnen und den Schutz von Natur und Umwelt. Auch ein grundlegender Paradigmawechsel im Bereich Gesundheit, Wohnen und Bildung ist damit gemeint. Es sind vor allem die gesellschaftsrelevanten Bereiche gemeint, die im Zuge des radikalen neoliberalen politischen Kurses in Chile seit der Militärdiktatur privatisiert und z. T. an ausländischen Unternehmen und Konzernen verkauft wurden.

In der deutschen Fassung verwenden wir eine geschlechtersensible Sprache.


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