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„Niemand weiß, wer alles in diesem Land ist.“ Zumindest bezogen auf das Potential für den Arbeitsmarkt, ist diese Behauptung Realität.
Dieser Beitrag von Linn Jansen ist im Rahmen der Internationalen Konferenz „Migration progressiv ausbuchstabieren“ der Friedrich-Ebert-Stiftung entstanden. Im September 2024 haben wir uns gemeinsam mit internationalen Vertreter_innen aus Politik, Zivilgesellschaft, Medien und Wissenschaft intensiv mit den drängenden Fragen und Herausforderungen menschlicher Mobilität beschäftigt und progressive Antworten darauf formuliert. Lesen Sie hier alle Beiträge dazu!
In naher Zukunft sagen Expert_innen eine notwendige „Massenmigration“ für Deutschland in die EU voraus, auch weil die Bundesrepublik unter einem Fachkräftemangel leidet, beispielsweise in kritischen Berufsgruppen wie Pflege und Bildung.
Um die betroffenen Branchen mit Fachkräften zu versorgen, hat die Bundesregierung 2023 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) reformiert, das es ausländischen qualifizierten Arbeitskräften erleichtern soll nach Deutschland zu migrieren und hier zu arbeiten. Diejenigen, die über das FEG nach Deutschland einwandern, sind der Fokuspunkt der Fachkräftediskussion, denn diese erhalten vergleichsweise schnell eine Arbeitserlaubnis und können in der Regel einen Abschluss nachweisen, der zu einer Eingliederung in die entsprechende Branche führen kann. Soweit zumindest die Theorie.
In der Debatte werden aber meist diejenigen außenvorgelassen , die über Asylanträge legal nach Deutschland migrieren. Die europäische Gesellschaft scheint sich geeinigt zu haben, dass Menschen, die gezwungenermaßen aus ihrer Heimat flüchten und unter anderem in Deutschland ein neues Leben beginnen, nichts mit denjenigen zu tun haben können, die über ein Arbeitsvisum nach Deutschland kommen. Geflüchtete und Fachkräfte scheinen sich im Diskurs gegenseitig auszuschließen.
Dabei versteht es sich von selbst, dass Teile der Asylantragstellenden in Deutschland sehr wohl qualifizierte Fachkräfte sind. Wieso also diese Tatsache nicht nutzen? Dies hat bürokratische Gründe: Die Asylanträge müssen geprüft, Arbeitserlaubnisse erteilt werden. Das kann Jahre dauern. Selbst diejenigen, die eine Arbeitserlaubnis erhalten haben und einen Ausbildungsabschluss vorweisen können, der in Deutschland auch als solcher anerkannt wird, landen oft lange in Jobs, für die sie überqualifiziert sind. Was zu Beginn für die Arbeitnehmenden noch in Ordnung sein mag, schlägt schnell in Frustration um. Wenn sie können, wandern sie durch den Mangel an Aufstieg in andere EU-Länder ab, wo sie sich bessere Chancen erhoffen.
Diejenigen, die noch auf eine Arbeitserlaubnis oder sogar eine Aufenthaltserlaubnis warten, sind allerdings in der Regel durch begrenzte finanzielle Mittel dazu gezwungen, sich der deutschen Bürokratie zu fügen.
Das Absurde ist, dass in dieser Zeit niemand weiß, welche Qualifikationen und Potentiale sich unter denjenigen befinden, die auf die Bewilligung ihrer Asylanträge warten, erklärte Dr. Gunilla Fincke, Abteilungsleiterin für Qualifizierung, Aus- und Weiterbildung und Fachkräftesicherung im Bundesministerium für Arbeit bei der internationalen Konferenz „Migration progressiv ausbuchstabieren“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Denn bei Aufnahme der Menschen und Registrierung ihrer Asylanträge, werden weder Abschlüsse noch sonstige Qualifikationen erfasst. Dies geschieht erst, wenn der Antrag bewilligt wird.
Als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine Millionen Menschen aus der Ukraine zur Flucht zwang, versuchte man auf Grundlage des speziellen Schutzstatus, der ihnen von Anfang an eine Arbeitserlaubnis zusprach, bereits bei der Erfassung der Menschen deren berufliche Qualifikationen mit aufzunehmen. Dr. Fincke berichtete, dass dieses Vorhaben bereits eine große Herausforderung darstellte.
Problematisch ist vor allem, dass laut dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz nur rund 25 Prozent aller Geflüchteten in Deutschland in ihren Heimatländern ein Studium oder eine Ausbildung begonnen und 17 Prozent diese abgeschlossen haben. Unter den restlichen 75 Prozent finden sich jedoch zahlreiche Menschen, die einen Abschluss gemacht haben, der in Deutschland nicht als solcher anerkannt wird oder die Berufe auf informelle Weise erlernt haben und somit ein ebenso wichtiger Bestandteil des Arbeitsmarktes sein könnten. Aber dieses Narrativ verliert sich in den eindrücklichen Zahlen der „Ausbildungsstatistik“ und dem Begriff der „Fachkraft“, der nur mit bestimmten Ausbildungen assoziiert wird. Und das hat Folgen: Niemand weiß wirklich wie viele und welche Fachkräfte in Flüchtlingsunterkünften sitzen. Das bestehende Potential ist vollkommen unbekannt.
Ein System muss her. Eine Datenbank, ein Erfassungstool, aus dem hervorgeht, welche Menschen mit welchen Qualifikationen über Asylanträge nach Deutschland migrieren, um eine vollständige Lageanalyse durchführen zu können. Dies ist nicht nur wichtig, um das inländische Potential zu evaluieren, sondern dient auch als quantitative Argumentationsgrundlage bei politischen Entscheidungen. Ein Vorbild könnte das Schweizer System der Potentialabklärung sein, die eine Erhebung von für die Arbeitsmarktintegration vorteilhaften Sachverhalte genutzt wird. Schließlich darf vor allem der Effekt auf das gesellschaftliche Klima nicht übersehen werden: Der Gesellschaft zu zeigen, dass Geflüchtete nicht nur „Mehrkosten“ verursachen, sondern auch Ressource sind, wie unter anderem die 2021 veröffentlichte Studie „Ohne sie geht nichts mehr“ der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigte, könnte den Diskurs auf eine neue, weniger emotionale Ebene heben.
Jedoch muss hier mit Vorsicht vorgegangen werden. Denn was in diesem Diskurs schnell verloren geht, ist die Menschlichkeit: Sowohl die Wahrnehmung von Geflüchteten als Bürde oder sie ausschließlich auf ihren Nutzen als Arbeitskräfte zu reduzieren – beides gefährdet die Würde dieser Menschen. Hier wird über Individuen gesprochen: Menschen mit eigenen Geschichten, Träumen und Talenten. Diese menschliche Perspektive muss stets die Grundlage und der Ausgangspunkt jeder Debatte über Fachkräfte bleiben.
Linn Jansen hat Internationale Beziehungen und Sozialwissenschaften in Erfurt studiert und ist beim Deutschen Institut für Urbanistik im Team Infrastruktur, Digitalisierung und Sicherheit tätig.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.
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