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Basiskompetenzen sichern Partizipation und Lebenschancen

Kein anderes Bundesland hat sich bisher einer vergleichbar intensiven Evaluation vorschulischer und schulischer Bildung unterzogen wie Berlin. Im folgenden Beitrag werden die wichtigsten Empfehlungen der Berliner Kommission für Bildungsqualität vorgestellt und auf drei häufig vorgebrachte Kritikpunkte entgegnet.

Bild: Felicitas Thiel von Felicitas Thiel, Privat

 

Von Felicitas Thiel

 

Kein anderes Bundesland hat sich bisher einer vergleichbar intensiven Evaluation vorschulischer und schulischer Bildung unterzogen wie Berlin. Die Senatorin für Bildung, Jugend und Familie hat Ende 2019 eine Kommission von Expert_innen beauftragt, Vorschläge zur Verbesserung der Lernergebnisse von Schüler_innen in den Kernfächern zu machen. Zwar war der fachliche Fokus eingegrenzt auf Deutsch und Mathematik, allerding hat die Evaluationskommission auch das gesamte Gefüge der Qualifizierungs-, Unterstützungs- und Steuerungseinrichtungen in ihre Analysen einbezogen. Im Kommissionsbericht wird dargelegt, dass die Situation nicht durch einen Mangel an Ressourcen erklärt werden kann, sondern auf eine zu schwache Fokussierung von Ressourcen auf die Verbesserung des Unterrichts, eine mangelnde Kohärenz von Maßnahmen und teilweise unklare Zuständigkeiten zurückzuführen ist.

Die Kommission hat eine Neuausrichtung der bildungspolitischen Strategie für Kitas und Schulen in Berlin vorgeschlagen, die folgende ineinandergreifende Maßnahmen umfasst:

  • Konzentration auf die Risikogruppen durch eine gezielte Diagnostik und Förderung sprachlicher und mathematischer Basiskompetenzen
  • Qualifizierung von pädagogischen Fachkräften und Lehrkräften für Diagnose und Förderung in allen Ausbildungsetappen
  • Forschungsbasierte Entwicklung und Implementation von Materialien für Diagnose und Förderung
  • Systematische Verzahnung von Maßnahmen der Qualitätssicherung und -entwicklung miteinander und mit konkreten Unterstützungsangeboten für die Verbesserung des Fachunterrichts.

Die Umsetzung dieser Strategie bedarf nach Auffassung der Kommission einer Ausrichtung der Schulpolitik an konkreten und terminierten Zielen; der Konzentration, fachdidaktischen Ausrichtung und Abstimmung von Maßnahmen der Fortbildung, Beratung und Unterstützung; einer von Schulen und Schulaufsicht gemeinsam verantworteten evidenzbasierten Rechenschaftslegung sowie einer intensiven Kooperation zwischen einer einschlägigen empirischen fachdidaktischen Unterrichtsforschung und der Fort- und Weiterbildung, insbesondere auch beim Quereinstieg.

Weite Teile der Analyse und Empfehlungen treffen auch auf andere Bundesländer zu. Auch die Kritik an den Vorschlägen der Kommission basiert auf Annahmen, die weit verbreitet sind. Auf drei häufig vorgetragene Kritikpunkte möchte ich an dieser Stelle eingehen:

Die Konzentration auf sprachliche und mathematische Kompetenzen vernachlässige soziales Lernen oder kreatives Problemlösen

Grundsätzlich gilt: Guter Fachunterricht, der dafür Sorge trägt, dass alle Schüler-innen Mindeststandards oder – besser – Regelstandards erreichen, ist von zentraler Bedeutung, weil das Fehlen basaler Kompetenzen Anschlusslernen erheblich erschwert und damit die Perspektiven für eine selbstbestimmte Gestaltung des eigenen Lebenslaufs verengt. Das gilt insbesondere für Kinder aus sozial benachteiligten Familien, deren Eltern eine unzureichende schulische Förderung in der Regel nicht kompensieren können.

Sprachliche und mathematische Basiskompetenzen sind nicht nur der Schlüssel für gesellschaftliche Partizipation und eine erfolgreiche Erwerbsbiografie, sie bilden auch die Grundlage für die Entwicklung von (häufig unzutreffend als „nicht-kognitiv“ bezeichneten) überfachlichen Kompetenzen. Problemlösen ist abhängig von der Fähigkeit zu abstrahieren, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Faktoren herzustellen und dabei sprachliche und mathematische Symbole zu nutzen. Soziale Kompetenzen beruhen auch auf kognitiven Kompetenzen, wie der Interpretation von Äußerungen oder der Übernahme der Perspektive anderer Personen - Fähigkeiten, die ohne sprachliche Basiskompetenzen überhaupt nicht vorstellbar sind. Partizipation an politischen Entscheidungen und ein friedlicher Ausgleich von unterschiedlichen Interessen sind daran gebunden, dass unterschiedliche Positionen sprachlich artikuliert und nachvollzogen werden können. Aus diesen Gründen wäre es fahrlässig, wenn Schulen die Entwicklung fachlicher Kernkompetenzen zugunsten sogenannter 21st Century Skills vernachlässigen würden. 

 

Die Fokussierung auf Diagnostik und Förderung durch die Lehrkraft vernachlässige selbstreguliertes Lernen

Selbstregulation ist nicht nur Mittel, sondern gleichermaßen auch Voraussetzung und Ziel des Lernens. Anders formuliert: die Potentiale selbstregulierten Lernens können nur dann ausgeschöpft werden, wenn Lernende den eigenen Lernprozess tatsächlich auch regulieren können, wenn sie also in der Lage sind, ihre Lernvoraussetzungen einzuschätzen, Ziele in Teilschritte zu übersetzen und sowohl den Lernprozess als auch das Lernergebnis selbst zu überprüfen. Besitzen sie diese Fähigkeiten der Selbstregulation noch nicht, müssen sie von Lehrkräften unterstützt werden. Um das richtige Maß von Fremd- und Selbstregulation einschätzen können, benötigen Lehrkräfte diagnostische Kompetenzen in ihrem Fach und sie müssen unterschiedliche Maßnahmen kennen und beherrschen, mit denen sie Schüler_innen so unterstützen können, dass sie Selbstregulation einerseits nicht untergraben, andererseits aber auch kein orientierungsloses Navigieren in einem offenen Aufgabenraum befördern, das am Ende weder Kompetenzerwerb noch nachhaltige Lernmotivation hervorbringt.

Wer selbstreguliertes Lernen fördern will, kann nicht einfach Methoden des offenen Unterrichts wie Lernen an Stationen oder Lernbüros implementieren, sondern muss zunächst dafür sorgen, dass Schüler_innen ausreichende fachliche Voraussetzungen und Kompetenzen der Selbstregulation besitzen. Diagnose- und Förderkompetenzen der Lehrkräfte sind dafür entscheidende Voraussetzungen.

 

Die Stärkung der Rechenschaftspflicht unterhöhle die professionelle Autonomie und stehe im Gegensatz zur selbstverantworteten Entwicklung von Schule und Unterricht  

Dass Rechenschaftspflicht und professionelle Selbstverantwortung nicht zusammenpassen, ist ein in der deutschen pädagogischen Diskussion häufig artikulierter Standpunkt. Dabei kann professionelle Handlungsautonomie nie bedeuten, dass Entscheidungsmacht von Akteuren und Kontrolle in einer Hand liegen. Im Gegenteil: weil Erweiterungen professioneller Entscheidungsspielräume immer mit Machtzuwächsen verknüpft sind, ist Kontrolle im Interesse der vulnerablen Adressat_innen professioneller Leistung unverzichtbar. Im Bereich der Medizin wird das auch kaum bezweifelt. Rechenschaftspflicht und Gestaltungsspielräume sind zwei Seiten einer Medaille. Dies bedeutet, dass gerade in Schulsystemen, in denen Schulen und Schulleitungen hohe Entscheidungsspielräume besitzen, Controlling der Lernerfolge durch die Schulaufsicht selbstverständlich sein sollte. Dass dabei Daten aus Vergleichsarbeiten und zentralen Abschlussprüfungen sowohl von der Schulleitung als auch von der Schulaufsicht als Indikatoren der Qualität genutzt werden, widerspricht nur dann der gemeinsamen Verantwortung für die Erfüllung des Bildungsauftrags, wenn einzuleitende Maßnahmen ohne Kenntnis der Situation vor Ort und ohne Beteiligung der dort Verantwortlichen aufoktroyiert werden.

 

Die Kommission hat aus den vorgetragenen Gründen in ihrem Bericht konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Bildung in Kitas und Schulen in Berlin gemacht, die den komplementären Charakter der Förderung fachlicher und überfachlicher Kompetenzen, der Fremd- und Selbststeuerung beim Lernen sowie der Entwicklung und Kontrolle bei der Qualitätssicherung betonen. Die Umsetzung der Empfehlungen erfordert eine große Kraftanstrengung und kann nur dann gelingen, wenn sich die Verantwortlichen nicht in fruchtlosen Debatten um scheinbare Gegensätze verkämpfen.

 

Prof. Dr. Felicitas Thiel ist Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin. Sie war Mitglied der von der Senatsverwaltung für Bildung beauftragten Expert_innenkommission zur Bildungsqualität in Berlin, die im Oktober 2020 ihren Abschlussbericht vorgestellt hat.

Der Abschlussbericht ist zu finden unter: www.berlin.de/sen/bjf/Service/presse/abschlussbericht_expertenkommission_6-10-2020.pdf/



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

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