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Die Bildungspolitik wird zu oft reduziert auf eine Frage von zentralen Prüfungen, Smartboards und Lehrerausbildung. Zweifelsohne sind diese wichtigen Faktoren, aber wenn ich als Lehrkraft drei Wünsche an die Politik freihätte, gingen sie für ein holistisches Verständnis von Bildung und Erziehung auf.
Bild: Ryan Plocher von GEW BERLIN / Christian von Polentz
Den Film „Systemsprenger“ (2019) wollte ich nicht im Kino sehen, denn ich mag keine Horrorfilme. Einige Aspekte der Protagonistin sind jeder Lehrkraft bekannt, die nicht auf das Gymnasium verschanzt ist. Die Ängste der Eltern vor Inklusion und zwecks Erhalt der heiligsten Kuh Deutschlands, des selektiven und ausgrenzenden Gymnasiums, stammen alle von einem gewissen Bild von „schwierigen“ Kindern.
Nicht jedes Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist ein Systemsprenger. Nicht jedes Kind aus einer bildungsfernen Familie ist ein Systemsprenger. Aber Systemsprenger gibt es in der Realität genug.
Hierfür müssen dringend die Jugendämter, die Polizei, die Schulpsychologie, die Sonderpädagogik und die Schulsozialarbeit besser ausgestattet und vernetzt werden. Die Verringerung innerlicher und äußerlicher Schuldistanz beginnt zwar im Klassenraum, aber die Koordination der begleitenden Maßnahmen sollte nicht weiter die Klassenleitung verantworten. Zu viele Kolleg_innen beißen sich die Zähne an solchen Fällen aus; zu viele Kolleg_innen fürchten sich vor dem Nicht-Gymnasium wegen solchen Fällen; zu viele Eltern scheuen deshalb die für ihr Kind passende Schulform. Eine Klassenleitung ist keine Koordinierungsstelle für soziale Maßnahmen, die weit über die Schule hinausgehen.
Eine ehrliche Bildungspolitik erkennt auch, dass viele Herausforderungen der Erziehung und Bildung in der Armut liegen. Armutsbekämpfung führt auch zu besseren Schulabschlüssen. Die Bildungspolitik betrifft uns alle und sollte kein Thema nur für Spezialist_innen sein. Eine umfassende Bildungspolitik ist eine umfassende Sozialpolitik.
Die Gemeinschaftsschule ist die gerechteste Schulform. An einer Gemeinschaftsschule von Klasse 1 bis Klasse 13 gibt es keine schwierigen Übergänge, kein Schulwechsel, und keine Hürden zur Kommunikation zwischen den Stufen. Um einen besseren Schulabschluss zu erreichen, muss das jeweilige Kind bessere Leistungen erzielen, anstatt wie im mehrgliedrigen System den Freundeskreis verlassen zu müssen, um in den besseren Kurs oder auf die bessere Schule zu gehen. Das Kind kann auch Unbekanntes wagen und Neues ausprobieren, ohne die schlechte Note zu befürchten, die zu einem Schulverweis führt. Die Erfahrung der Heterogenität in der eigenen Klasse ist notwendig für den Erhalt unserer Demokratie. Das Abschotten und Verschanzen der bildungsnahen Kinder schafft bloß Ignoranz und Arroganz, und trägt zu der unzumutbaren Belastung der Kolleg_innen an anderen Schulformen bei. Die jahrzehntelange Erfahrung der Gesamtschulen beweist doch, dass das Gymnasium nicht Voraussetzung für ein gutes Abitur ist.
Aufgrund der durch die Schulform bedingte Größe der Schule ist die Gemeinschaftsschule auch die effizienteste Schulform. Die Aufgaben der Schulsozialarbeit, der Hausmeisterei, des Sekretariats und der Verwaltung gibt es an jeder Schule. Die Praxis, einzelne Personen auf mehrere Schulen aufzuteilen, ist jedoch höchst ineffizient. Weiter gibt es an größeren Schulen eine effektive Vertretungsreserve. Wo die Langzeiterkrankung weniger Kolleg_innen das Genick von kleinen Schulen bricht, kann eine größere Gemeinschaftsschule erfolgreich jeden Winter überstehen. Zuletzt sind Fachräume für Musik, Naturwissenschaften, Kunst und Arbeitslehre nützlich in jeder Stufe und in jeder Schulform, aber für kleine Schulen eben zu teuer.
Für eine gerechtere, effizientere und vernünftigere Schulpolitik fehlt es nur an Mut seitens der Politik.
Schulen brauchen dringend mehr nichtpädagogisches Personal. Lehrkräfte sind Expert_innen für Didaktik, Erziehung und Pädagogik. Es gibt aber immer wieder Unmengen an nichtpädagogischen Aufgaben, die immer mehr Zeit für die wesentlichen Tätigkeiten wegnehmen. Ich gebe ein Beispiel: Anwesenheitskontrolle.
Kürzlich wurden in Berlin alle Lehrkräfte aufgefordert, zu kontrollieren, welche Kinder am ersten Tag des Fehlens aus der Schule krankgemeldet wurden, und die Eltern der nicht krankgemeldeten Kindern anzurufen. Im Grunde fordert hiermit die Senatsverwaltung für Bildung alle Klassenleitungen dazu auf, in jeder ersten Schulstunde die Anwesenheit zu kontrollieren, sich mit dem Sekretariat auszutauschen und dann Telefonate zu führen. Die Klassenleitungen haben allerdings nicht immer in der ersten Stunde frei und werden keineswegs für diese aufwendige Kontrolle bezahlt.
Für diese Aufgabe gibt es in anderen Ländern einfach mehr Arbeitskräfte im Sekretariat. Die in der ersten Stunde unterrichtenden Lehrkräfte kontrollieren die Anwesenheit und melden dies im Sekretariat, was dann die Krankmeldungen vergleicht und bei den Eltern anruft. Das erfordert offensichtlich weitere Arbeitskräfte in den Schulsekretariaten, aber hierfür sind nicht teuer bezahlte und ausgebildete Lehrkräfte notwendig.
Als Klassenlehrer verschwende ich mehrere Stunden im Monat mit dem Abgleich des Klassenbuchs mit Entschuldigungen, den Eintrag in einer offiziellen Anwesenheitstabelle und ggf. dem Erstellen von Schulversäumnisanzeigen und der damit verbundenen Koordination mit dem Jugendamt. Hierfür hätte ich keineswegs auf Lehramt studieren müssen; ich muss bloß die deutsche Sprache beherrschen und mit einem Kalender umgehen können. Viel lieber würde ich genauer im Unterricht differenzieren, schneller und detailreicher Rückmeldung zu schriftlichen Aufgaben geben und insgesamt meine Kernaufgabe—Unterrichten—besser machen. Stattdessen bin ich eher für die Einhaltung der Schulpflicht zuständig.
In Zeiten des Dauersparens und des Lehrkräftemangel fragt man sich oft, was das Ziel der Bildungspolitik eigentlich sei. Zunehmend hat man das Gefühl, dass die Schulpflicht nur dem Ziel dient, die Kinder von der Straße zu halten. Man bewahrt sie bloß auf. Wenn aber alle Kinder tatsächlich zu mündigen Bürger_innen unserer Republik werden sollten, dann braucht es viel mehr als nur Smartboards und Tablet-Klassen, sondern eine holistische Bildungspolitik, die das ganze Kind im Blick nimmt, und eine realitätsnahe Gestaltung der Schule, die die Arbeitskraft von Pädagog_innen nicht verschwendet.
Ryan Plocher ist Lehrer für Englisch und Politikwissenschaften an der Fritz-Karsen-Schule in Berlin. Von 2017 bis 2019 war er Bundesjugendsprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.
Über diesen Bildungsblog
Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.
Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.
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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin
Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung
Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung
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