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Eine neue Generation von Schulen steht vor der Herausforderung, ihren gesellschaftlichen Auftrag neu zu bestimmen. Die künftige Schule ist eine Bildungsstätte für das „ganze Leben“ und hilft Kindern und Jugendlichen dabei, alle ihre Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. In der neuen Generation von Schulen verändert sich aber auch die Rolle der Schülerinnen und Schüler: Sie sind nicht mehr nur Empfänger pädagogischer Impulse, sondern beteiligen sich selbst immer stärker daran, ihren Lernprozess zu steuern.
Bild: Klaus Hurrelmann von Hertie School of Governance
Die Entwicklungsaufgaben der jungen Generation haben es in sich. Es ist eigentlich erstaunlich, dass- wie sich aus den vorliegenden Kinder- und Jugendstudien ablesen lässt – gut 60 Prozent von ihnen trotz der unendlich vielen Unsicherheiten und Ungewissheiten eine stabile und gesunde Persönlichkeitsentwicklung schaffen, den vielen Herausforderungen auf ihre jeweils persönliche Weise gewachsen sind. Sie bringen das nötige Pensum von Selbstmanagement im sozialen, körperlichen, psychischen und kognitiven Bereich ihrer Entwicklung auf, ohne das man heute nicht überleben kann. Bei 20 Prozent ist die Unsicherheit aber nicht zu übersehen, und bei weiteren 20 Prozent kann von einer nicht erfolgreichen Bewältigung der Entwicklungsaufgaben und einem unzureichenden Aufbau der Selbststeuerung und Selbstwirksamkeit gesprochen werden (vgl. Shell Deutschland (Hrsg.) 2019: Jugend 2019. Weinheim: Beltz)
Welche Herausforderungen ergeben sich hieraus für Schulen? Wie kann es ihnen gelingen, die neue Generation von Kindern und Jugendlichen selbstständig, leistungsstark und sozial verantwortlich zu machen? Wie muss eine „neue Generation von Schulen“ im digitalen Zeitalter aussehen und wie ändern sich die Rollen von Lehrerinnen und Lehrern sowie Schülerinnen und Schülern dabei?
Eine neue Generation von Schulen steht vor der Herausforderung, ihren gesellschaftlichen Auftrag neu zu bestimmen. Die Schule von morgen kann nicht mehr nur eine Lehrinstitution sein, sondern sie sollte eine Bildungsstätte sein, die ihre Schülerinnen und Schüler in allen Entwicklungsaufgaben unterstützt. Die künftige Schule ist eine Bildungsstätte für das „ganze Leben“ und hilft Kindern und Jugendlichen dabei, alle ihre Entwicklungsaufgaben zu bewältigen: das Bilden und Sich-Qualifizieren, der Aufbau sozialer Kontakte und Bindungen, der souveräne Umgang mit Freizeitangeboten, Geld, Konsumwaren und Medien, das soziale und politische Engagement.
Die Schule sollte also nicht nur intellektuell und kognitiv schulen und qualifizieren, sondern zugleich auch auf das soziale Leben, den Konsum- und Wirtschaftssektor, die Mediennutzung und die gesellschaftliche Partizipation vorbereiten. Nur so wird sie den Anforderungen gerecht, vor denen die Angehörigen der jungen Generation heute stehen. Die Familien und die Elternhäuser sind zwar nach wie vor die wichtigste Erziehungs- und Bildungsinstitution, aber sie können ihre Aufgabe ohne die professionellen Institutionen in diesem Bereich nicht mehr erfüllen. Die Schulen einseitig nur darin zu unterstützen, die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler durch gezieltes Training und präzisere Tests zu stärken, ist nicht ausreichend. Schulen müssen auch in der Lage sein, das gesamte Spektrum von sozialen Kompetenzen einschließlich der emotionalen, kommunikativen und interaktiven Fähigkeiten und das von gesundheitlichen Kompetenzen einschließlich der richtigen Ernährung, Bewegung und Spannungsbewältigung mit in ihr Förderprogramm aufzunehmen. Oft ist das sogar die Voraussetzung dafür, Leistung erbringen zu können.
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ist der inhaltliche Lehrplan weiter zu entwickeln. Eklatante fachliche und inhaltliche Defizite müssen ausgeglichen werden. Die Schule verliert an Autorität, wenn sie auf die tatsächlichen Herausforderungen des Alltagslebens der Schülerinnen und Schüler nicht eingeht. Das gilt für mediale und digitale ebenso wie für wirtschaftliche, finanzielle und gesundheitliche Kompetenzen. Diese werden von den Schülerinnen und Schülern tagtäglich gefordert, und zu Recht erwarten sie eine Reaktion hierauf in ihrer wichtigsten Bildungsstätte, ihrem „Arbeitsplatz“ Schule.
In der neuen Generation von Schulen sollte sich, um diesem Anspruch gerecht zu werden, die Organisation von Unterricht und Schulleben nachhaltig verändern. Die Schule wird zu einer pädagogischen Agentur für Bildungsarbeit, in der Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Schülerinnen und Schüler an der Gestaltung des alltäglichen Schullebens aktiv zusammenwirken. Die Schule als Organisation steht vor der Herausforderung, durch ihr soziales und räumliches Setting neue Kooperations- und Kommunikationsformen zu ermöglichen. Dazu sind Unterricht und Schulleben neu zu gestalten. Der Schultag sollte einem zeitlichen und sozialen Ablauf folgen, der durch feste Rituale gegliedert ist und dem biologischen Rhythmus und der Aufmerksamkeitsspanne von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern gerecht wird. Ziel ist ein Wechsel zwischen konzentriertem und aktivem Arbeiten mit Entspannungs- und Kreativphasen. Dazu bedarf es einer Vielfalt von Unterrichtsformen – einer Mischung aus Frontalunterricht, Teamunterricht, Gruppenarbeit, selbstständiger Freiarbeit der Schülerinnen und Schüler, Projektarbeit, Hausaufgaben, Forschungsarbeit mit Experimenten und außerschulischer Arbeit. Mit dem Unterricht verzahnt sollte in Werkstätten und Labors experimentiert, produziert, innovativ und schöpferisch gestaltet werden.
Die heutige junge Generation von Schülerinnen und Schülern braucht Schulen, die kompetent, sensibel und liebevoll auf ihre Bedürfnisse und die ihrer Eltern eingehen. Schulen sind in organisationssoziologischer Sicht Dienstleistungseinrichtungen des Typs einer „people processing organization“: soziale Systeme mit der Aufgabe der Beeinflussung und Veränderung der persönlichen Kompetenzen ihrer Klienten. Es handelt sich um einen äußerst komplexen Auftrag, nämlich einen Menschen in der Entwicklung seiner persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten sensibel zu begleiten, ihn anzuregen und anzuleiten.
Eine neue Generation von Schulen verlangt nach einer neuen Generation von Lehrerinnen und Lehrern. Ihre Rolle verändert sich: Sie sind nicht mehr Anweiser, sondern Unterstützer und Koordinatoren von Bildungsprozessen. Ähnlich den Chefs in der Arbeitswelt verändert sich die Rolle der Lehrkraft. Sie ist nicht mehr Boss, sondern Moderatorin, Koordinatorin der Lernvorgänge ihrer Schülerinnen und Schüler, dabei auch Ratgeberin, Inspiratorin und Coach. Der Lehrer oder die Lehrerin bleibt wichtig, weil sie einschätzen kann, was der Schüler kann und was nicht, wo Überforderung droht und Hilfe benötigt wird. Die Lehrkraft ist verantwortlich, dass die soziale und zeitliche Kernstruktur geregelt und eingehalten wird. Aber sie ist nicht Anweiser, sondern Unterstützerin von Bildungsprozessen.
Der Schule stehen die gleichen Herausforderungen bevor, wie sie schon an vielen anderen Arbeitsplätzen beobachtet werden können. Immer mehr Unternehmen wandeln sich zu einem Forum für Arbeit, dessen Formen vom Arbeitnehmer mit ausgestaltet werden können. Der Arbeitnehmer der Zukunft verrichtet weniger vorstrukturierte Tätigkeiten, er ist vielmehr gefordert, den täglichen Arbeitsablauf selbstständig zu planen und nach eigenen Maßstäben zu strukturieren. Er wird zum „Intrapreneur“, der sich an seinem Arbeitsplatz wie ein Unternehmer verhält. Die Angehörigen der jungen Generationen fordern das geradezu heraus, sie unterminieren starre Hierarchien, wünschen Team- und Projektarbeit und möchten auch persönlich angesprochen werden. Sie möchten die Aufgaben in ihrem eigenen Rhythmus abarbeiten, mit selbstgewählten Methoden und Medien, und nach jedem größeren Lernabschnitt eine Rückmeldung erhalten.
Das alles ist im digitalen Zeitalter noch besser als früher möglich. Aber es setzt voraus, dass alle Lehrkräfte über allgemeine Medienkompetenz verfügen und in ihren fachlichen Zuständigkeiten zu Medienexpertinnen und -experten werden. Das bedeutet, dass sie 1. digitale Medien in ihrem jeweiligen Fachunterricht professionell und didaktisch sinnvoll nutzen und im Blick auf den Erziehungsauftrag reflektieren, 2. ihre eigene Medienkompetenz kontinuierlich weiterentwickeln, um sicher mit neuen Geräten, Anwendungen und Plattformen umgehen zu können und 3. die Bedeutung der Medien und der Digitalisierung in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler erkennen und im Unterricht aufnehmen, um Schüler beim Lernen mit und Gestalten von Medien zu unterstützen und kreativ zu fördern.
In der neuen Generation von Schulen verändert sich die Rolle der Schülerinnen und Schüler: Sie sind nicht mehr nur Empfänger pädagogischer Impulse, sondern beteiligen sich selbst immer stärker daran, ihren Lernprozess zu steuern. Der Erfolg ist nur durch eine enge Kooperation mit den Lehrkräften möglich. Bildung ist ein Prozess der Co-Produktion. Aber der Schüler als Lernkraft-Unternehmer legt ein hohes Maß von Selbstmanagement bei der Gestaltung der eigenen Bildungslaufbahn an den Tag. Jeder junge Mann und jede junge Frau wird, so es irgend möglich ist, zum „Bildungsbeauftragten in eigener Sache“ und arbeitet an seinem „Bildungsunternehmen Ich“.
Dazu braucht es den Lehrer als Coach. Nachhaltiges Lernen ist nur möglich, wenn in jeder einzelnen Phase des Trainings maßgeschneiderte Lernangebote unterbreitet werden. Voraussetzung ist, dass der jeweils erreichte Entwicklungsstand eines Schülers oder einer Schülerin durch ein genau passendes Angebot von Lernimpulsen aufgenommen wird. Es ist also eine profilierte Eingangsdiagnose der Fähigkeiten und Fertigkeiten des Lernenden notwendig, um hierauf abgestimmte differenzierte Angebote für Lernprozesse zu unterbreiten.
Die Angehörigen der Generation Z sind hierfür sehr empfänglich. Sie halten es als Digital Natives für selbstverständlich, Wissen jederzeit online abzurufen. Durch ihre permanente Arbeit am Computer und durch ihre intensive Spieltätigkeit sind sie gewohnt, selbstständig voranzugehen, regelmäßiges Feedback zu erhalten, Schritt für Schritt in ein Projekt einzusteigen und nach jeder Arbeitsphase klare Hinweise zum weiteren Vorgehen zu erhalten. Sie erleben schnelle und flexible Methoden der Selbsteinschätzung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, und sie erwarten deren Einsatz auch im schulischen Bereich.
Klaus Hurrelmann ist Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Sein Forschungsinteresse gilt dem Bereich Gesundheits- und Bildungspolitik. Er ist Mitglied des Leitungsteams mehrerer fortlaufender nationaler Studien zur Entwicklung von Familien, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, z.B. der Shell-Jugendstudie (die aktuelle Studie ist am 15.10. erschienen: Link). Zuvor war Klaus Hurrelmann Professor für Sozialisation an den Universitäten Essen und Bielefeld.
Über diesen Bildungsblog
Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.
Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.
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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin
Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung
Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung
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