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Bildungs- und Zukunftschancen sichern trotz Corona

Ja, das war abzuwarten, dass nun auch Corona dafür herhalten muss, Reformideen und schulstrukturelle Änderungen, die man bisher vergeblich anstrebte, endlich durchsetzen zu können. Reißt die Schule ein, schöner lernen dank Corona, lautet die plakative Forderung von Anna Lehmann in der taz und hier im Blog.

Bild: Heinz Peter Meidinger von Privat

 

Von Heinz-Peter Meidinger

 

Ja, das war abzuwarten, dass nun auch Corona dafür herhalten muss, Reformideen und schulstrukturelle Änderungen, die man bisher vergeblich anstrebte, endlich durchsetzen zu können. Reißt die Schule ein, schöner lernen dank Corona, lautet die plakative Forderung von Anna Lehmann in der taz und hier im Blog. Und sie plädiert für eine „Schule nach Bedarf“, eine radikale Entschlackung der Lehrpläne und klar, für eine Abschaffung der Noten und der allgemeinen Klassenarbeiten.

Dabei muss man sich erst einmal vergegenwärtigen, vor welcher Herausforderung wir derzeit stehen. In der gerade veröffentlichten DAK-Studie zur Lehrergesundheit machten sich über drei Viertel aller befragten Lehrkräfte in NRW Sorgen um Lernfortschritte und Lerndefizite ihrer Schüler während der Corona-Pandemie. Ein Problem übrigens, das die Kultusministerien derzeit permanent klein und schön reden. Dabei zeigt gerade die von Frau Lehmann zitierte ifo-Studie, dass sich allein während der Schulschließungen und des Wechselunterrichts im Frühjahr und Sommer der Zeitaufwand für Schule bei Kindern und Jugendlichen halbiert hat. Kaum ein Bundesland hat übrigens beim Schuljahresbeginn im Herbst die entstandenen Lerndefizite systematisch erheben lassen, sondern die meisten delegierten diese Aufgabe je nach Belieben in die Hände der Lehrkräfte. Vermutlich deshalb, weil eine solche Bestandsaufnahme enormen Druck dahingehend aufgebaut hätte, was denn jetzt die Politik dafür tut, diese Defizite zu beheben. Das, was derzeit von der Politik den Schulen an Unterstützung angeboten wird, reicht nämlich in keiner Weise aus, dieser Herausforderung erfolgreich zu begegnen.

Im Grund beschränkt man sich darauf, großzügige Vorrückungsmodalitäten anzubieten, die ein oder andere vorübergehende Stoffkürzung vorzuschlagen und ein paar freiwillige Förderstunden anzubieten, die Schulen sich meist selbst aus den Rippen schneiden müssen.Klar ist: So wird das nichts werden mit der Bewältigung der Herkulesaufgabe, den versäumten Stoff des alten Schuljahres nachzuholen und gleichzeitig auch die Lernziele des aktuellen Lehrplans zu erreichen. Im Grunde genommen wird das Problem derzeit nur in die Zukunft verlagert.

Anna Lehmann bietet stattdessen eine andere Lösung an, damit Schulen gut durch die Pandemie kommen und wohl auch darüber hinaus. Weg mit dem Gleichschritt, jedes Kind lernt im eigenen Tempo, über Teilnahme an Prüfungen entscheiden die Kinder selbst, Abschaffung der Noten und „radikale Entschlackung“ der Lehrpläne.

Mich wundert immer, mit welcher Leichtigkeit oft Menschen, die sonst immer Bildung als etwas ganz Wichtiges ansehen, bereit sind, auf Lerninhalte zu verzichten. Dabei ist die Zeit schon lange vorbei, als man im Geographieunterricht noch die 14 deutschen Mittelgebirge auswendig lernen musste. Und wie soll denn bitteschön eine radikale Entschlackung der Lehrpläne in den Kernfächern, den Fremdsprachen, der Mathematik im Faches Deutsch aussehen? Lehrkräfte dieser Fächer klagen unisono darüber, dass ihnen selbst für das Erreichen der zentralen Lernziele die nötige Zeit fehlt, und dabei geht es nicht um das Reiten irgendwelcher Steckenpferde oder von überflüssigem Faktenwissen. Im modernen kompetenzorientierten Geschichtsunterricht, der auf exemplarisches Lernen setzt und ganze Zeitepochen ausblendet, purzeln vielen Kids die Jahrhunderte nur so durcheinander, wie viele Lehrkräfte entnervt berichten.

Ich bin sehr skeptisch, und diese Skepsis teile ich mit Vertretern der empirischen Bildungswissenschaft, ob radikale Lehrplankürzungen ohne Kompetenzverluste möglich sind.

Das Lernen im jeweiligen Tempo des Kindes klingt gut, stößt aber an enge Grenzen. Was ist mit den Kindern, die mehr Zeit brauchen? Woher kommen die zusätzlichen Zeitfenster, wenn man zu wenig Lehrkräfte hat und auch das Wiederholen einer Jahrgangsstufe abschaffen will?

 

Schöne heile Welt?

Ja, es wäre ein schöne heile Welt, wo Schülerinnen und Schüler freiwillig im eigenen Takt und mit hoher Selbstmotivation eigenständig Inhalte erarbeiten und selbst darüber entscheiden, worin und wann sie geprüft werden wollen. Das mag in einer beruflichen oder gymnasialen Oberstufe mal funktionieren. Gerade bei der Schülerklientel, die wir per Distanzunterricht in Coronazeiten kaum oder nicht erreichen konnten, ist das aber absolut fraglich. Bei denen hat sich der nicht vorhandene Strukturrahmen der Schule und auch die fehlende Verbindlichkeit von Leistungserhebungen eher negativ ausgewirkt.

Ich verstehe auch nicht, wenn Pädagogen sich dagegen wehren, Noten zu verteilen. Klar, Noten sind nur eine grobe Rückmeldung über in Relation zur Vergleichsgruppe erreichte Leistungen, sie sind keinesfalls Werturteile und sollten auch immer pädagogisch eingebettet sein, also mit einem Hinweis versehen, wie man sich verbessern kann. Ich kenne aber kein Land der Erde, das in seinen Schulen auf Noten völlig verzichtet, bei jüngeren Jahrgängen manchmal ja, bei höheren Jahrgängen und Abschlussklassen nie.

Und selbst wenn man sich auf den Dualismus von Anna Lehmann einlässt und bei Tests nur mehr zwei Urteile kennt, nämlich „bestanden“ und „weiterlernen“:

Was passiert denn, wenn ein Kind niemals das „bestanden“ erreicht, soll es dann am Ende des Jahres doch „weiterlernen“ in der Wiederholungsklasse?

Oder was ist das Abschlusszeugnis einer Absolventenklasse wert, das einheitlich nur das Urteil „bestanden“ kennt? Im Grunde genommen zieht sich durch so eine Praxis die Schule aus ihrer Verantwortung heraus, am besten und am verantwortungsvollsten Urteile über den Kenntnis-, Kompetenz- und Leistungsstand von jungen Menschen zu geben und sie mit einem entsprechenden Abschlusszeugnis auszustatten. Wenn Schule darauf verzichtet, werden andere gesellschaftliche Mechanismen dies übernehmen. Dann werden der soziale Habitus, das kulturelle Kapital, die Unterstützung des Elternhauses und das berüchtigte Vitamin B bei der Frage der Verteilung von Berufs- und Lebenschancen eine noch viel größere Rolle spielen als heute.

Ich halte auch nichts von der Vorstellung, es gäbe ein paar Schulen hierzulande, die sozusagen den Dreh raus haben und allen anderen zeigen könnten, wie es geht, während die meisten Schulen und Lehrkräfte tagtäglich bei ihrer Bildungsaufgabe versagen. Dieses Schwarzweißbild hat noch nie gestimmt und stimmt auch heute nicht.

Bei näherem Besehen zeigt sich immer, dass auch bei den Leuchtturmschulen nicht alles glänzt oder strahlt und dass sich an den „Normalschulen“ genauso viel Vorbild- und Modellhaftes finden lässt.

Es ist wichtig, eine klare Vorstellung von dem zu haben, was eine gute Schule ausmacht, Lehrkräfte, die begeistern können, motivierte Schülerinnen und Schüler, ein Schulklima, in dem es Spaß macht zu lernen.

 

Die Grenzen idealistischer Schulvisionen

Es ist aber auch notwendig, zu erkennen, wo die Grenzen idealistischer Schulvisionen sind. Es wird nie eine Schule geben, in die Kinder vom 6. bis zum 18. Lebensjahr jeden Tag mit größter Lernfreude und Begeisterung gehen, in denen Jugendliche sich für alle Fächer ohne jeglichen Prüfungsdruck gleichermaßen anstrengen und für ihre Lernprozesse die Verantwortung übernehmen. Dafür gibt es in jeder Altersphase zu viele konkurrierende Interessen und Neigungen, die – egal wie gut eine Schule ist – das schulische Engagement mindern können. Das zu erkennen, verhindert übrigens auch Resignation und Frustration bei Lehrkräften, wenn ein bestens geplantes und vorbereitetes tolles Projekt partout nicht gelingen will.

Doch zurück zur Frage, wie man mit den Lerndefiziten umgehen soll, die durch Corona entstanden sind, wenn weder die Unterstützungsangebote der Schulbehörden noch die „Schöner-Lernen-Vision“ von Anna Lehmann dabei hilfreich sind.

Ich plädiere zunächst dafür, die Schülern, bei denen große Lücken aufgetreten sind, verpflichtend in nachmittägliche Zusatzkurse zu schicken, egal ob in Präsenz oder online. Freiwillige Angebote werden oft gerade von denen, die sie am dringendsten bräuchten, am wenigstens wahrgenommen. Das beobachten wir auch beim Förderunterricht, der für Kinder mit Sprachdefiziten an Grundschulen und in Kitas angeboten wird.

Und ich setze mich dafür ein, diesen Kindern und Jugendlichen bei Bedarf insgesamt mehr Lernzeit zu geben, etwa durch freiwilliges individuelles Wiederholen oder durch Einrichtung eigener Lerngruppen, die mehr Zeit bis zum angestrebten Abschluss erhalten. Dafür würde zunächst auch kein Lehrermehrbedarf anfallen, längerfristig natürlich schon.

Oberstes Ziel muss sein, dass wir keine Coronajahrgänge bekommen, die aufgrund von Kompetenzdefiziten später geringere Berufs- und Lebenschancen haben. Großzügige Prüfungs- und Vorrückungsregelungen sind keine Dauerlösung. Wir brauchen ein langfristiges Gesamtkonzept ohne Abstriche an Qualität und Niveau!

 

 

Heinz-Peter Meidinger ist Präsident des Deutschen Lehrerverbands



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

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