Friedrichs Bildungsblog

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„Bildungsstandards haben mit Bildung gar nichts zu tun“

Burkhard Jungkamp im Gespräch mit Prof. Heinz-Elmar Tenorth, Prof. i.R., HU Berlin

Burkhard Jungkamp im Gespräch mit Prof. Heinz-Elmar Tenorth, Prof. i.R., HU Berlin

 

Warum für ihn die Logik von Ungleichheit, Macht und Vorurteil allein durch Bildung nicht außer Kraft gesetzt werden könne, Bildungsstandards mit Bildung nichts zu tun hätten, die Garantie einer Grundbildung für alle mehr denn je vordringliche Aufgabe der Schule sei und was Schulschließungen in Zeiten der  Corona-Pandemie für die Bildung von Kindern und Jugendlichen bedeuten – unter anderem das erläutert Professor Heinz-Elmar Tenorth im nachfolgenden Gespräch. Seine Aussagen werden nach wie vor nicht nur in der wissenschaftlichen Community, sondern auch in Schule und Politik aufmerksam wahrgenommen.

 

Burkhard Jungkamp: Herr Prof. Tenorth, „Die Rede von Bildung“ ist der Titel Ihrer jüngsten Publikation. Auf fast 650 Seiten gehen Sie der Frage nach, wie im Laufe der Jahrhunderte über Bildung geredet wird, was Bildung bedeutet, wie sie ermöglicht wird.Von der Frage „Was ist Bildung?“, sagen Sie bilanzierend, sollten wir uns verabschieden. Sie führe geradezu ins Elend. Warum?

 

Heinz-Elmar Tenorth: Historisch kann man sehen, dass „was ist“-Fragen nichts als Streit, totalitäre Ansprüche und einen dauerhaften Kampf der Ideologien befördert haben. Man nährt die Fiktion, es gäbe eine einzige und allein richtige Antwort. Aber die gibt es nicht, schon gar nicht für „Bildung“. Hier gibt es nur Varianz: biographisch, kulturell, kollektiv, gesellschaftlich und historisch.

Die für mich produktive Leitfrage ist deshalb auch: Wie ist Bildung - im jeweiligen Verstande - möglich? Und die allgemeine Antwort ist dann: „besser oder schlechter“, nie „richtig“ vs. „falsch“.

 

Heißt das, Sie können uns nicht sagen, was heutzutage einen gebildeten Menschen auszeichnet?

 

Ich kann nicht mit einer für alle gültigen, allgemeinen und unbezweifelbaren Definition aufwarten. Mein eigenes Bild des Gebildeten formuliert nur die Erwartung, dass der Mensch fähig sei, sein Leben selbstverantwortlich nach seinen Erwartungen und Fähigkeiten zu gestalten und handlungsfähig an Gesellschaft teilzuhaben - in der Fülle der Möglichkeiten, die sich dann historisch bieten. An deren Gestaltung, Veränderung und Verbesserung zu arbeiten, ist selbst Teil der Wechselwirkung mit Welt - und wir reproduzieren sie, indem wir an ihr teilhaben.

 

Im 20. Jahrhundert, sagen Sie, werde Bildung von einer kulturellen und politischen zu einer sozialen Integrationsformel. Heute sei das Versprechen des Aufstiegs durch Bildung die neue Legitimationsformel angesichts unverkennbarer Ungleichheit. Die moderne Version heiße dann „Aufstieg durch Bildung“. Überspitzt formuliert werde ein Menschenrecht auf Abitur versprochen und legitime Ungleichheit undenkbar. Das sei eine Fehlentwicklung. Spricht wirklich etwas gegen den „Aufstieg durch Bildung“?

 

Ich habe nichts gegen Aufstieg durch Bildung, warum auch, ich habe selbst davon profitiert. Aber mich stört das Kriterium - nur der Hochschulzugang und das akademische Leben, dann monetärer Ertrag zählen. Berufliche Bildung, Handarbeit oder eigene Lebensentwürfe jenseits dieser einseitigen Normalmodelle werden abgewertet.

 

Die empirische Befundlage ist eindeutig: Bildungserfolg erklärt sich wesentlich durch soziale Herkunft und keineswegs allein durch Leistung. Was können Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit heutzutage bedeuten, und welche Anforderungen sind daraus an Bildungssystem und Schule zu stellen? Was heißt es, dem Lernenden gerecht zu werden, und wie kann das gelingen?

 

Ohne Frage, das Bildungssystem muss seine Legitimität, Qualität und Effizienz auch darin beweisen, dass es nicht die Nachteile der sozialen Herkunft reproduziert oder sogar noch bestärkt - das ist eine grundlegende politische Forderung an den Sozialstaat.

Aber „dem Lernenden gerecht zu werden“ kann doch nur heißen, über das Bildungssystem je individuell die Kompetenzen zu sichern und die Erwartungen zu stärken, sein Leben selbst zu konstruieren - in freien Stücken, unter gegeben Bedingungen. Grundbildung für alle zu garantieren, ist dann die erste Forderung an das Bildungssystem. Das erzeugt pädagogische Gleichheit, aber in der Individualisierung auch neue Differenzen, die dann neue Aspirationen ebenso entstehen lassen und neue Ungleichheitsdiagnosen.

Man kann aber nicht erwarten, dass dadurch gesellschaftliche und ökonomische Gleichheit hergestellt werden - die Historie und die Bildungsforschung zeigen, dass das Bildungssystem das schlicht nicht kann, auch die Gesamtschulen nicht, auch Einheitsschulen in staatssozialistischen Ländern nicht, schon gar nicht jetzt und sofort, innerhalb einer Generation. Die Akteure machen nämlich auch ihre Bildungsgeschichte selbst, sie lernen dabei, in der Folge der Generationen ganz eindeutig , dass Lernen Wert hat, und verhalten sich entsprechend, wie man an Frauen, Katholiken, Arbeiterkindern oder Migranten im 20. Jahrhundert sehen kann: erstaunliche individuelle und kollektive Biografien, in denen alte Strukturen des Ausschlusses von Bildung überwunden worden sind - ohne dass im Ergebnis soziale Gleichheit hergestellt wird oder gar Armut und ökonomische Ungleichheit verschwunden wären - wie auch?

 

Sie bezeichnen die Garantie eines Bildungsminimums als „Bringschuld des Bildungssystems“ und fordern die Gewährleistung einer Grundbildung für alle. Wäre das ein realistisches Ziel für die Bildungspolitik und unsere Schulen?

 

Das Ziel halte ich für realistisch, ihm müsste man Priorität einräumen - organisatorisch, sachlich, personell und finanziell. Diese Voraussetzungen sind aktuell nicht gegeben.

Wenn wir immer noch hinnehmen, dass im Bildungssystem „Bildungsarmut“ erzeugt wird, dass nahe 20% der Absolventen der Sekundarschule I weder die notwendigen Kompetenzen haben, um ihren Alltag selbständig zu bewältigen, eine berufliche Ausbildung zu beginnen oder politisch urteilsfähig am öffentlichen Leben teilzunehmen, dann ist das der wahre Skandal. Diesen Jugendlichen wird die Möglichkeit versperrt, den eigenen Lebenslauf als Bildungsgang selbst zu gestalten.

Aber, die Bildungsstatistik zeigt auch, dass es Länder und Kommunen, Schulformen und Schularbeit gibt, die Gleichheit auf diesem Niveau möglich machen - man muss nur die Voraussetzungen schaffen.

 

Was bedeutet „Grundbildung“ für Sie konkret? Welches Wissen, welche Kompetenzen sind heutzutage unverzichtbar? Verstehen Sie darunter einen Kanon als Einheit von Kenntnissen und Fertigkeiten, Wissen und Haltung?

 

Ja, Grundbildung ist gegeben, wenn ich die Kompetenzen erwerbe, die im klassischen Kanon gefordert werden, wie bei Humboldt: „linguistische“, also sprachliche, muttersprachlich und fremdsprachlich, um an Kommunikation in der eigenen Kultur und mit einer fremden verständig teilhaben zu können, „historische“, also Vertrautheit mit den Regeln und Normen, Traditionen und Praktiken, die unsere Gesellschaft und Kultur lebensweltlich und zivilgesellschaftlich prägen; „mathematische“, um die Sprache von Maß und Zahl zu verstehen, in der Naturwissenschaft und Technik bis in die Logik des Digitalen unsere Welt auffassen und gestalten; „ästhetische“, also die Kompetenz, uns in Leiblichkeit und Körperlichkeit, in je individueller, auch künstlerischer Praxis als Subjekt zu artikulieren.

Die Stundentafeln unserer Pflichtschulen zeigen weltweit, dass diese kanonischen Dimensionen dort in Fächern bzw. Fächergruppen verankert sind. Die Praxis des Unterrichts steht unter der Erwartung, die Einübung in diese Kompetenzen zu eröffnen, beginnend mit der Überformung des Alltagswissens bis zur Kultivierung unseres selbständigen Lernens.

 

Zu den Eigenschaften der „empirischen Bildungsforschung“, sagen Sie, zähle es, dass sie den Bildungsbegriff so gut wie gar nicht nutze, ihn eher explizit abwehre, stattdessen meist über Lernprozesse rede. Was haben unsere „Bildungsstandards“, die ja nicht zuletzt von der empirischen Bildungsforschung entwickelt worden sind, dann mit Bildung zu tun?

 

Hart gesagt: gar nichts! Das wurde von ihren Erfindern auch nie behauptet. Standards bieten domänen- bzw. fachspezifische Kriterien, von denen aus man den outcome schulischer Lernprozesse an den Leistungen der Lernenden messen kann, vor allem in den Domänen - „linguistisch“ und „mathematisch“ -, die für weitere Lernprozesse im schulischen Bildungsgang und im Lebenslauf als zentral ausgewiesen sind.

Die Frage, „wie es möglich ist“, Lernprozesse so zu gestalten, und zwar individualisiert für alle Lernenden, dass sie in gleicher Weise die Standards erreichen, zumindest die Regelstandards nicht unterbieten, stellt eine eigenen Aufgabe dar - diese Frage ist bis heute ungelöst, Standards lösen sie nicht.

 

Was müssten Kultusminister tun, um möglichst optimale Bildungswege für alle zu ermöglichen? Welche Einflussmöglichkeiten hat der Staat überhaupt?

 

Der Staat hat großen Einfluss, vor allem in der Sicherung der Rahmenbedingungen, die ja mit den Bildungsstandards kriterial definiert sind. Dann muss aber mehr kommen: die Ausbildung hoch qualifizierter Lehrer, gleiche und hinreichende Ausstattung der Schulen mit fachlich qualifiziertem Personal, auch für Aufgaben jenseits von Unterricht, gut ausgestattete - saubere, gepflegte - Gebäude, einen Etat für die Einzelschule, der ihre Arbeit mit den Lernenden und die Fort- und Weiterbildung der Lehrenden möglich macht, und schließlich: Handlungsfreiheit der einzelnen Schule, in Kooperation mit Eltern, Lehrenden und der lokalen Gemeinde die Qualität von Unterricht und Schule anzubieten, die für gute Ergebnisse notwendig ist - und natürlich, ich weiß, dass dafür mehr Geld als bisher notwendig ist. Aber wenn Bildung so wichtig ist, wie die Politiker sagen, dann müssen sie es beschaffen.

 

Ist Bildung in Zeiten digitaler Technologien neu und anders, mit Erwartungen der traditionellen Bildung nicht mehr zu vergleichen?

 

Man muss die Schule nicht neu erfinden, um mit den Folgen von Digitalisierung im Bildungswesen umzugehen. Schule war in den letzten 200 Jahren schon immer ein sehr lernfähiges System im Umgang mit Veränderungen in der Umwelt, gleich ob politisch oder technologisch, ökonomisch oder sozial. „Digitale Bildung“ muss deshalb auch, um wirksam zu werden, in die Logik der Schule eingebunden werden, die Differenz von grundlegender und erweiterter allgemeiner Bildung, von beruflicher, Spezial- und Hochschulbildung, Erwachsenen- und Weiterbildung beachten, dann wird sie produktiv werden - denn die Anforderungen sind hier jeweils deutlich unterschieden. Technologie allein macht Bildung nicht möglich, das hatten schon die Propheten der „programmierten Instruktion“ versprochen, deren Geräte und Erfindungen heute zu Recht in den Kellern der Schulen verstauben.

 

Was hat die Corona-Pandemie, was haben Schulschließungen für die Bildung von Kindern und Jugendlichen bedeutet? Die Schule ist ja seit jeher mit dem Problem konfrontiert, Individualisierung und Vergesellschaftung gleichzeitig leisten zu sollen. War das unter Pandemiebedingungen überhaupt möglich?

 

Die Pandemie hat - in der Absenz regelhaften Unterrichts - gezeigt, welche genuinen Leistungen ein gut ausgebautes Schulsystem bietet, nicht nur mit dem Unterricht, vor allem auch als soziale Form, die abhängig von den Bildungsmöglichkeiten des Elternhauses Lerngelegenheiten anbietet, soziale Erfahrungen in der Schule und in der peer group eröffnet, einen sicheren Raum des Aufwachsens darstellt, mit professioneller Betreuung (obwohl die nicht immer und überall in der gleichen Qualität präsent war, so dass hier der Nachbesserungsbedarf sichtbar wurde), relativ unabhängig von der sozialen Lage.

Insgesamt  - die leichtfertige Schulkritik wurde genauso blamiert wie die Propagandisten des home-schooling, die meinen, die öffentliche Pflichtschule durch die pädagogische Arbeit der Eltern ersetzen zu können. Nur schade, dass für diese Anerkennung der Leistungen von Schule erst die hoch problematischen Folgen der Pandemie sichtbar werden mussten.



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

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