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Friedrichs Bildungsblog

„Wir müssen uns ehrlich machen!“

War was? Vor wenigen Wochen schreckte der IQB-Bildungstrend mit schlechten Ergebnissen von Grundschülerinnen und Grundschülern die Bildungspolitik auf. Das scheint jetzt wieder in Vergessenheit zu geraten. Dabei braucht Deutschland dringend eine Zeitenwende in der Bildung. Und zwar sofort.

Der Katastrophenbefund zu den Leistungen deutscher Grundschüler hat gut eine Woche lang in den Medien Widerhall gefunden. Jetzt beherrschen Klima, Krieg und China aber auch Energie, Entlastungspaket und Elections erneut die Schlagzeilen. Bildung rückt schon wieder aus dem Focus. Dabei ist erfolgreiche Bildung der Schlüssel zur Bewältigung der Krisen von Gegenwart und Zukunft.

Holen wir uns kurz den brutalen Befund vom Oktober 2022 in Erinnerung. Etwa 20 Prozent aller Grundschülerinnen und -schüler in Deutschland können nicht ausreichend Lesen und Rechnen. Beim Schreiben sind es gut 30 Prozent. Zugleich nimmt die Spreizung der sozialen Ungleichheit weiter zu. Kinder aus Elternhäusern mit einem höheren Bildungsgrad schneiden signifikant besser ab. Auffallend ist die gestiegene Zahl von Kindern mit Migrationsgeschichte im Vergleich zu früheren Studien. Aber selbst, wenn die Statistiker sie herausrechnen, bleibt der Gesamttrend schon seit 2011 und deutlich seit 2016 negativ. Jetzt sind die Ergebnisse noch schlechter. Alle entschuldigenden Erklärungsmuster der letzten Jahre helfen nicht weiter. Wir müssen uns ehrlich machen! Wir müssen die Probleme endlich konzertiert und konzentriert annehmen - und nicht eine Woche nach der Vorstellung der Ergebnisse wieder zur bisherigen Tagesordnung übergehen.

 

Hier ein Vorschlag für eine bildungspolitische Agenda in den kommenden Jahren:

 

Erstens: Am Anfang muss ein ehrgeiziges und realistisches Ziel formuliert werden. Das lautet: Bis zum nächsten IQB Bildungstrend-Grundschule in fünf Jahren soll die Zahl der Kinder, die nicht einmal die Regelstandards erreichen, halbiert werden und die Zahl der Kinder, die nicht die Mindeststandards erreichen, muss ebenfalls halbiert werden.

Zweitens: Kinder mit Migrationsgeschichte lassen sich nicht länger aus dem Schulsystem herausrechnen. Wie jüngst eine Studie aus Essen zeigte, sind in der Grundschule sogar die vielgerühmten Willkommensklassen auf den Prüfstand zu stellen. Generell aber gilt, dass wir unser Schulsystem umbauen müssen zu einem System, das regelhaft mit Zuwanderung erfolgreich umgehen kann. Ziel muss ein Schulsystem sein, das wie zum Beispiel Kanada erfolgreich und dauerhaft auf Zuwanderung ausgelegt ist. Der Fachkräftemangel lässt uns keine andere Wahl: Deutschland ist und bleibt Einwanderungsland. Auch hier gilt es, sich ehrlich zu machen. Auch ist die Realität in vielen Grundschulklassen längst eine andere, als dass wir das Schulsystem noch länger allein von einer europäisch-deutschen Mittelklasse her denken können. Einwanderungsland sein bedeutet auch, ein Schulsystem so zu bauen, dass darin mit Einwanderung erfolgreich umgegangen werden kann.

Drittens: Erfolgreiche Bildungsbiografien brauchen so früh wie möglich Unterstützung – gerade dann, wenn dies in den Elternhäusern (die hier als erstes in der Pflicht sind) nicht geleistet wird. Daher sind bundesweit einheitlich die Kompetenzen der vierjährigen Kinder zu testen. Insbesondere wenn sprachliche, soziale und motorische Defizite in der Entwicklung festgestellt werden, ist anschließend für diese Kinder eine Kitapflicht angezeigt und umzusetzen.

Viertens: Kitas verstehen sich vornehmlich als Bildungsorte. Spiel und Spaß haben darin genauso ihren Platz wie Entspannung und Anregung. In den letzten Jahren lag der (finanzielle) Fokus vielfach auf quantitativen Verbesserungen in der Kitalandschaft (Ausbau der Plätze, Beitragsfreiheit etc). In den kommenden Jahren muss noch mehr als bisher die qualitative Verbesserung der Kitas im Vordergrund stehen. Dafür braucht es auch bundesweit einheitliche Bildungsstandards für den frühkindlichen Bereich.

Fünftens: Verbesserungen im frühkindlichen Bereich brauchen noch mehr finanzielle Mittel. Dafür muss mittel- und langfristig in den Haushalten umgesteuert werden. Statt am Ende der Bildungskette kostspielige und wenig wirksame Auffangprogramme zu finanzieren, lohnt es sich weit mehr im frühkindlichen Bereich zu investieren.

Sechstens: Mit dem Ausbau der Ganztagsschulangebote im Grundschulbereich ergibt sich eine Chance für mehr Zeit für Bildung.  Statt wie vielfach bisher eine klassische Halbtagsschule am Vormittag und anschließend mehrheitlich Betreuung am Nachmittag zu organisieren, muss der ganze Ganztag zur Zeit zum Lernen werden. Studien zeigen, dass wir im Durchschnitt mit unserer bisherigen Art und Weise Ganztag zu organisieren keinen qualitativen Mehrwert für die Kinder erreichen. Hier muss grundlegend umgesteuert werden. Konzepte dafür gibt es bereits.

Siebtens: Lesen und Schreiben regelmäßig üben und Mathematik verstehen lernen! Es gibt zahlreiche gute Beispiele wie es gelingen kann, allen Kindern – egal aus welchem Elternhaus sie kommen – Lesen und Schreiben beizubringen. Eine tägliche Lese- und Schreibzeit von 20 Minuten für alle Grundschulkinder wäre ein erster Schritt und wirkt. Hamburg hat es aufgezeigt und viele erfolgreiche Schulen in ganz Deutschland haben erfolgreiche Wege gefunden. Also hinsehen, abgucken und nachmachen!

Ebenso ist es mit dem Fach Mathematik. Eine zeitgemäße und professionelle Mathematikdidaktik ist die Grundlage für erfolgreichen Unterricht. Die Materialien dafür gibt es längst. Auch hier gilt es zügig mit Weiterbildungen eigeninitiativ nachzusteuern.

Achtens: Selbstlernkompetenzen! Die jetzt vom IQB getesteten Kinder waren stark von den Folgen der Schulschließungen in der Corona Pandemie betroffen. Das mag einiges erklären, aber nicht entschuldigen. Insbesondere die Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Familien sind besonders hart betroffenen. Ob die Aufholmilliarden in den verschiedenen Landesprojekten daran viel geändert haben, darf solange bezweifelt werden, wie die Länder keine gegenteiligen Daten vorlegen.

Wenn wir Digitalisierung, die nach wie vor nur schleppend in den Klassenzimmern Einzug hält, richtig nutzen wollen, müssen wir die Selbstlernkompetenzen so frühzeitig wie möglich lehren und lernen. Also kurz und knapp: Wie lerne ich selbstständig zu lernen? Wie eigne ich mir auch zuhause Lernstoff an und wie organisiere ich mein Lernen? Diese Fähigkeiten müssen vom ersten Schultag an eingeübt werden und gehören in den Pflichtkanon der Grundschule im digitalen Zeitalter. Dazu kommt die zeitgemäße digitale Ausstattung der Schule inklusive fortgebildeter Lehrkräfte. So kann Digitalisierung helfen, individualisiert zu fördern beim Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen.


Diese Tagesordnung umzusetzen, ist keine banale Aufgabe. Hier müssen vom Schulleiter bis zur Landtagsabgeordneten, vom Schulrat bis zur Ministerin alle an einem Strang ziehen. Wissenschaft kann dabei ebenso unterstützen wie Zivilgesellschaft, Stiftungen und Wirtschaft. Ein „Weiter so“ wie bisher und ein zögerliches Abwarten bringt uns nur noch tiefer in die nun offengelegte Misere. Zeit für eine Zeitenwende in der Bildung!

 


 

Stephan Dorgerloh

war 2011 bis 2016 SPD-Kultusminister in Sachsen-Anhalt. 2018 gründete er das jährlich tagende Nationale Bildungsforum. Heute leitet er die Strategieberatung „Wider Sense“, die sich unter anderem Bildungsfragen widmet.



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

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