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Die für Kinder und Jugendliche bislang wirkmächtigste Auswirkung der Digitalisierung spiegelt sich in Kommunikationswegen wie Facebook, Instagram, Twitter, YouTube und Whats-App.
Bild: Tim Engartner von Privat
Von Tim Engartner
Dadurch werden einerseits neue Partizipationsmöglichkeiten geschaffen. Andererseits hat das weltweite Netz zu Solipsismus – sprich: einem radikalen Rückzug auf sich selbst – geführt. Diese Entwicklung gefährdet nicht nur unsere derzeit taumelnde Demokratie, die von einer gemeinsam geteilten Öffentlichkeit lebt – und gerade nicht von isolierten „Teilöffentlichkeiten“. Zugleich darf uns die derzeitige „Digitalisierungseuphorie“ nicht dazu verleiten, die Bildschirmzeit Lernender noch weiter zu erhöhen. Schon jetzt sehen Kinder im Alter zwischen 12 und 13 Jahren durchschnittlich 91 Minuten täglich fern und surfen 83 Minuten im Internet. 2019 förderte eine Studie der Universität Helsinki zutage, dass nur diejenigen Lernenden von dem Einsatz digitaler Medien profitieren, die über eine ausreichende Konzentrationsfähigkeit verfügen, während andere Schüler_innen Nachteile zu erleiden scheinen.
Natürlich kann man Platons Höhlengleichnis, Kants kategorischen Imperativ oder Marx‘ historischen Materialismus auch durch YouTube-Clips nachvollziehen. Aber ist das medial Dargestellte nachhaltiger als das mehrfach Gelesene, mühsam Erarbeitete und dann im Unterricht Besprochene? Zu glauben, dass sich die Sprachkompetenz von Schüler_innen verbessere, wenn sie möglichst früh an digitale Endgeräte herangeführt werden, ist ein Irrglaube. Schon jetzt surfen Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren hierzulande durchschnittlich 3 Stunden und 25 Minuten pro Tag im Internet, wobei die Nutzungsdauer damit gegenüber 2007 eine Verdoppelung erfahren hat (Weidenbach 2019).
Dass wir nicht in einen von blinder Euphorie gekennzeichneten Digitalisierungsrausch verfallen sollten, zeigt auch die Tatsache, dass beim Lesen und Zuhören nur noch rund zehn Prozent der Lernenden hierzulande den Optimalstandard erreichen. Statt lediglich die Computerausstattung an Schulen zu modernisieren, müssen wir mindestens ebenso intensiv über den Ausbau von Leseecken und -patenschaften nachdenken. Andernfalls laufen wir Gefahr, in unserer Digitalisierungseuphorie Marshall McLuhans viel zitierten Ausspruch „The medium is the message“ zum Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt von Lehr- und Lernprozessen zu machen. Aber auch im 21. Jahrhundert gilt: Der Inhalt ist die Botschaft. Dem hat sich jedes methodische Werkzeug unterzuordnen – die Kreidetafel ebenso wie das Whiteboard.
Vertrauen Bildungspolitiker_innen weiterhin schwerpunktmäßig auf den „DigitalPakt Schule“, um einen Ausweg aus der Bildungsmisere zu weisen, drohen die übrigen Defizite unseres Schulsystems aus dem Blick zu geraten. Dabei sind die Versäumnisse unseres Schulsystems nicht allein in dessen unzureichender Digitalisierung zu sehen. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik verzeichnen die Kommunen zwischen Flensburg und Passau allein mit Blick auf ihre Schulen einen Investitionsrückstand von 42,8 Milliarden Euro. Die baulichen, technischen und hygienischen Mängel hiesiger Schulgebäude wiegen umso schwerer, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die weltweit besten Schulen über eigene Bibliotheken, Theater, Sportstätten und Gärten verfügen. Privatschulen sind nicht nur deshalb so begehrt, weil sie mit Sport- und Kulturangeboten die Entwicklung individueller Stärken von Schüler_innen forcieren, sondern auch, weil sie Ganztagsunterricht in Lerngruppen mit maximal einem Dutzend Schüler_innen anbieten, während sich an staatlichen Gymnasien in der Sekundarstufe I durchschnittlich 26 Lernende pro Klasse zusammenfinden.
Eine weitere mit der Digitalisierung der Bildungswelten verbundene Herausforderung liegt in der fehlenden Überprüfung der über digitale Lernplattformen zur Verfügung gestellten Unterrichtsmaterialien. Gemeinsam mit den Ländern sollte die Kultusministerkonferenz eine unabhängige Monitoringstelle für externe Lehr- und Lerninhalte einrichten, die zugleich als Informations- und Anlaufstelle für Lehrkräfte dient. Die dauerhafte Finanzierung des vom Verbraucherzentrale Bundesverband betriebenen „Materialkompass“ durch den Bund erscheint dabei als Erfolg versprechende Möglichkeit. Ein eindeutiges Qualitätssiegel böte auch der stetig wachsenden Zahl von Lehrpersonen Orientierung, die Fächer ohne eine entsprechende Fakultas unterrichten (müssen). Zugleich würde die „Zweiklassenbehandlung“ zwischen Schulbüchern einerseits und traditionellen Lehr- und Lernmaterialien andererseits ein Ende finden. Es gibt keinen plausiblen Grund, warum Schulbücher in elf von 16 Bundesländern ein engmaschiges Begutachtungsverfahren durch das jeweilige Schul-, Bildungs- oder Kultusministerium durchlaufen, Unterrichtsmaterialien, die von Unternehmen, unternehmensnahen Stiftungen oder entsprechenden Initiativen online vorgehalten werden, hingegen nicht.
Es braucht nur bescheidene prognostische Fähigkeiten, um zu erkennen, dass die Digitalisierung schulischer Organisations-, Lehr- und Lernprozesse durch den in der Corona-Krise auf besonders fruchtbaren Boden fallenden „DigitalPakt Schule“ im Zeitraffer erfolgen wird. Wenn aber der Ruf nach einem digital turn erwartungsgemäß nicht verhallt, gilt es, einen Weg zu finden, der von dem Zukunftsforscher Matthias Horx mit dem Begriff „Digitaler Realismus“ – in Abgrenzung zu „Digitalfatalismus“ und „Digitalfanatismus“ – geprägt wurde. Dem Totalitätsanspruch von Digitalität muss ein Konzept der digitalen Emanzipation entgegengehalten werden, welches eine selbstbestimmte Rolle der Lernenden im technologischen Entwicklungsprozess vorsieht. Mimik und Gestik, Stimmung und Emotion sowie Freude und Reaktanz können nur im Präsenzunterricht zur Geltung kommen. Und Online-Tutorials fördern weder soziale noch emotionale Kompetenzen.
Um zu erfolgreichen Bildungsnationen wie Finnland oder Estland aufzuschließen, wird es nicht reichen, die IT-Infrastruktur an Schulen auf- und auszubauen. Stattdessen muss zugleich dafür Sorge getragen werden, dass unhygienische Toiletten, zugige Fenster und defekte Dächer der Vergangenheit angehören. Die weltweit besten Schulen sollten den Referenzpunkt für die „Bildungsrepublik“ Deutschland bilden. Erst wenn die Lehrenden-Lernenden-Relation durch die Einstellung von mehr (engagierten) Lehrkräften verbessert ist, der Anteil fachfremd erteilten Unterrichts reduziert ist und Sozialpädagog_innen und Psycholog_innen zum schulischen Stammpersonal zählen, bräuchte sich das „Land der Dichter und Denker“ um seine Schulen nicht mehr sorgen.
Literatur
Weidenbach, Bernd (2019): Tägliche Dauer der Internetnutzung durch Jugendliche bis 2019, https://de.statista.com, 12.8.2021
Prof. Dr. Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. und Direktor der dortigen Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung. Gerade ist die zweite Auflage seines Buchs „Staat im Ausverkauf“ im Campus Verlag erschienen.
Über diesen Bildungsblog
Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.
Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.
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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin
Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung
Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung
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