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Die Kultusministerkonferenz (KMK) entwickelte 2016 eine Strategie „Bildung in der digitalen Welt“. In den darauf folgenden Jahren gab es verschiedene Schritte, diese Strategie umzusetzen und weiterzuentwickeln.
Bild: Horst Niesyto
Von Horst Niesyto
Die Kultusministerkonferenz (KMK) entwickelte 2016 eine Strategie „Bildung in der digitalen Welt“. In den darauffolgenden Jahren gab es verschiedene Schritte, diese Strategie umzusetzen und weiterzuentwickeln. Für die aktuelle Weiterentwicklung der Strategie stützte sich die „Ergänzende Empfehlung“ der KMK, die im Dezember 2021 erschien, u.a. auf die im Oktober 2021 veröffentlichte Stellungnahme der neu eingesetzten „Ständigen wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz“ (SWK). Zu dieser Stellungnahme gibt es kritische Einwände.
Mit der Einrichtung der „Ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz“ verbindet sich der Anspruch, auf der Basis einer systematischen Recherche und Bewertung vorliegender Forschungsbefunde Problemlagen zu beschreiben, Entwicklungen einzuordnen und Handlungsempfehlungen zu geben (KMK). Eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe von Wissenschaftler_innen und in der Bildungsarbeit aktiven Kolleg_innen nahm die Veröffentlichung der SWK-Stellungnahme zum Anlass, um sich in kritischer Perspektive mit dieser Stellungnahme auseinanderzusetzen. Es entstand ein Positionspapier, das im November 2021 veröffentlicht wurde. Das Ergebnis: Wichtige Forschungsperspektiven und -befunde werden in der Stellungnahme der SWK nicht berücksichtigt. Als Co-Autor der Schrift möchte ich im Folgenden in Anlehnung an die Thesen des Positionspapiers die zentralen Kritikpunkte zusammenfassen und durch weitere Aspekte ergänzen.
Medienbildung sowie ein kritisch-reflexiver Umgang mit digitalen Bildungstechnologien lassen sich nicht auf Skills und Anwendungskompetenzen reduzieren.
In der Stellungnahme der SWK fehlt der Bezug auf ein umfassendes Verständnis von Medienbildung, das nicht nur auf Lernen mit (digitalen) Medien fokussiert. Ein solches Verständnis lag z.B. dem Bericht „Kompetenzen in einer digital geprägten Kultur“ zugrunde, der von einer Expertenkommission des BMBF (2010) erstellt wurde. Auch der KMK-Beschluss (2012) zu „Medienbildung in der Schule“ orientierte sich an einem Verständnis von Medienbildung, zu dem z.B. auch Fragen der Identitätsbildung und der Persönlichkeitsentwicklung gehören.
Auch fehlt in der Stellungnahme der SWK eine Auseinandersetzung mit der Bezeichnung „digitale Bildung“. Zu diesem Schlagwort, das vor allem in bildungspolitischen Arenen häufig verwendet wird, gibt es zunehmend kritische Stimmen. So wird u.a. darauf hingewiesen, dass es weder eine analoge noch eine digitale Bildungstheorie gibt. Auch wird angemerkt, dass „digitale Bildung“ den Blick auf die Vieldimensionalität der pädagogischen Aufgabenstellung verstellt. So ist z.B. nach wie vor die Aneignung von grundlegenden Kompetenzen zu Sprache, Schrift, Stehend- und Bewegtbilder, Musik etc. notwendig. Diese Ausdrucksformen verändern sich zwar in digitalen Kontexten, es entstehen auch neuartige Verbindungen zwischen ihnen – aber die Grundlagen verschwinden nicht. Auch geht es bei Bildung um alle Grunddimensionen menschlichen Lebens. Deshalb ist die Bezeichnung „digitale Bildung“ meines Erachtens nicht zutreffend.
Das SWK-Papier erwähnt zwar die Notwendigkeit von „Medienbildungskonzepten“, „medienpädagogischen Konzepten“ oder „kritischem Denken“. Es wird jedoch nicht näher ausgeführt, was damit gemeint ist. Stattdessen rücken Kompetenzen in der Anwendung digitaler Technologien („Skills“) in den Fokus. Hierfür betont das Papier vor allem informatische und berufsbezogene Kompetenzen. Der medienbezogene Bildungsauftrag der Schule ist jedoch viel breiter. Er geht deutlich über technisch-informatische und didaktische Sichtweisen hinaus und umfasst auch persönlichkeitsbildende, soziale, kulturelle, politische, ökonomische, ethische und weitere Dimensionen.
Auch kreativ-ästhetische Gestaltungsmöglichkeiten sowie medien- und gesellschaftskritische Fragen werden in der Stellungnahme der SWK ausgeblendet. Es ist irritierend, dass die SWK andere Analysen und Sichtweisen nicht berücksichtigt, die ein weiter gefasstes Verständnis von (Medien-)Bildung in der digitalen Welt zugrunde legen und einen kritisch-reflexiven Umgang mit digitalen Technologien befördern möchten. Beispiele hierfür finden sich im Positionspapier der Autor_innen-Gruppe (Hinweise auf verschiedene Stellungnahmen, teilweise von breiten Bündnissen).
Es braucht eine Demystifizierung der ‚Potenziale‘ digitaler Technologien und eine differenzierte Sicht auf Chancen und Problemfelder.
Selbstverständlich ist es heutzutage elementar, Strukturen und Möglichkeiten von Digitalmedien zu kennen und aktiv zu nutzen, um Bildungs- und Lernprozesse zu fördern. Die Aneignung grundlegender Medienkompetenzen war schon immer eine zentrale Aufgabenstellung einer handlungsorientierten Medienbildung. Diese Aufgabenstellung hat im „digitalen Zeitalter“ mit den komplexen und ständig neuen Herausforderungen noch erheblich an Bedeutung gewonnen. Auch für den (medien-)didaktischen Bereich gibt es diverse Möglichkeiten, um z.B. individuelle und gemeinschaftliche Prozesse des Lernens, eigenständige Recherchen und mediale Gestaltungen, Formen des Feedbacks etc. durch eine praktische und reflektierte Nutzung von Digitalmedien zu fördern und positiv zu beeinflussen.
Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass „Potenziale“ digitaler Technologien überhöht und überschätzt werden. So macht das Positionspapier zur Stellungnahme der SWK darauf aufmerksam, dass inzwischen zahlreiche Stimmen aus der Wissenschaft klar und empirisch fundiert dafür plädieren, realistischer einzuschätzen, was digitale Technologien befördern können und was nicht. In diesem Zusammenhang wird die Forderung erhoben, bei der Bewertung der Nutzung digitaler Technologien in pädagogischen Kontexten auch die damit verbundenen Risiken und nicht-intendierten Effekte systematisch(er) mit einzubeziehen.
Dies erfordert eine differenzierte Vorgehensweise bei der Entwicklung entsprechender Bewertungskriterien. Die Autor_innen des Positionspapiers verdeutlichen dies an den Themen Learning Analytics und gamifizierten digitalen Lernumgebungen. Ihre Schlussfolgerung lautet: die genaue Kenntnis von Risiken ist notwendig, um über Datenschutzfragen hinaus eine kritisch-reflexive Nutzung bzw. Gestaltung digitaler Technologien zu gewährleisten. Dies sollte zum festen Bestandteil der Lehrkräfteaus- und -fortbildung gehören.
Der Ausbau der Vermessung von Bildung ist kein Konsens!
Die digitale Vermessung von Menschen und ihrer Aktivitäten – bis in sensible und intime Bereiche hinein – ist inzwischen Bestandteil vieler alltäglicher Lebenswelten. Algorithmische Verfahren werden dabei für unterschiedliche Zwecke genutzt. Auch im Bildungsbereich ist inzwischen die Vermessung auf dem Vormarsch.
Die Analyse der SWK-Stellungnahme zeigt, dass der Diagnostik und dem Monitoring digitaler Kompetenzen sowie der digitalen Schulentwicklung eine substantielle Bedeutung zugeschrieben wird. Input-Prozess-Output-Modellierungen gelten als vermeintlicher wissenschaftlicher „Konsens“ und als Grundlage für Schulentwicklung. In diesem Kontext werden Bildungsziele auch als prüfbare Kompetenzen verstanden. Empfehlungen der SWK legen nahe, Prüfungsleistungen verstärkt digital zu erfassen und mit statistischen und Leistungsdaten zu verknüpfen.
Dazu merkt das Positionspapier kritisch an, dass eine sog. „evidenzbasierte Bildungssteuerung“ mittels digitaler Vermessungstechnologien wissenschaftlich umstritten ist. Dies zeigen – auch international – viele kritische Forschungsbefunde, z.B. im World Yearbook of Education (2021). Dabei geht es nicht nur um das Problem einer quantitativen Erfassung und Vermessung von Bildungsprozessen. So gibt es verschiedene Studien, die auf die Folgen und „Nebenwirkungen“ solcher digitaler Vermessungen eingehen, siehe z.B. Hartong (2019) zu „Learning Analytics und Big Data in der Bildung“.
Die Rolle und der wachsende Einfluss der IT-Wirtschaft im Bildungsbereich müssen kritisch reflektiert und transparent gemacht werden.
Die wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz betont in ihrer Stellungnahme an verschiedenen Stellen die Notwendigkeit einer „systematischen Kooperation“ auch mit der Wirtschaft – insbesondere mit Software-Unternehmen – zur Entwicklung digitaler Lehr-Lern-Umwelten und ihrer Integration in den Fachunterricht. Dabei setzt sich die SWK nicht mit Bedenken und kritischen Analysen auseinander, die in den letzten Jahren zum Vormarsch privatwirtschaftlicher IT-Firmen (darunter auch kleinere EdTech-Anbieter), zur speziellen Problematik globaler IT-Monopole im Bildungsbereich und dem „bildungsindustriellen Komplex“ erstellt wurden (national und international, z.B. Hug/Madritsch 2020).
Diese Analysen verdeutlichen unter anderem, dass Formen eines digitalen Kapitalismus bzw. eines Daten- und Überwachungskapitalismus entstanden sind, die entlang von profitorientierten Zielen eine umfassende Ausbeutung persönlicher Datenprofile und eine massive Kommerzialisierung von Lebenswelten und auch Bildungsorten betreiben. Unterstützt von bildungspolitischen Leitlinien und Netzwerken hat dies im öffentlichen Bildungsbereich dazu geführt, dass privatwirtschaftliche IT-Firmen unter dem Label „digitale Bildung“ erheblichen Einfluss an Schulen gewonnen haben. Hier sind meines Erachtens u.a. folgende Maßnahmen dringend nötig:
Ausblick
Die Autor_innen des skizzierten Positionspapiers verbinden mit ihrer kritischen Analyse und Positionierung die Hoffnung auf einen verstärkten öffentlichen Diskurs zu den genannten Themenaspekten. Sie fordern Korrekturen an der gegenwärtigen „Digitalpolitik“ im Bildungsbereich und eine ernst gemeinte Berücksichtigung der vielfältigen Befunde und der damit verknüpften interdisziplinären Perspektiven sowohl in der Kommission der Kultusministerkonferenz als auch in der politischen Strategieentwicklung.
Die von der KMK am 09.12.2021 verabschiedete ergänzende Empfehlung zur Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ erschien unter dem Titel „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“. Die Empfehlung thematisiert an zahlreichen Stellen Chancen, die mit der Nutzung von Digitalmedien in schulischen Lernkontexten verbunden sind. Sie bezieht sich auch – in Anlehnung an Stalder – auf kulturelle Dimensionen von „Digitalität“. Vereinzelt wird auf „medienpädagogische Herausforderungen“, „medienethische Fragestellungen“ und „medienkritische Aspekte“ hingewiesen. Dies geschieht allerdings mehr in stichwortartig-abstrakter Form.
Zwar ist es richtig, Dimensionen von digitalisierungsbezogenen Kompetenzen deutlich anzusprechen. Zu kritisieren ist jedoch nach wie vor u.a. eine weitgehende Reduktion des Medienbegriffs auf Digitalmedien, die Betonung von Lernen auf Kosten eines umfassenden Verständnisses von Bildung, der starke Fokus auf informatik- und fächerbezogene Kompetenzfelder bei gleichzeitiger Unterschätzung fächerübergreifender Grundlagen von Medienbildung. Erneut zeigt sich auch die Wirtschaftsnähe der „ergänzenden Empfehlung“ – es fehlen z.B. kritische Hinweise zum Vormarsch der IT-Wirtschaft im Bildungsbereich.
In dieser Situation ist es wichtig, alternative Entwicklungspfade zu erproben und kritische Netzwerke im Bildungsbereich zu stärken. Dies ist auch Anliegen des Positionspapiers zur SWK-Stellungnahme, deren wesentliche Aspekte hier zusammengefasst sind. Inzwischen haben viele Personen das Positionspapier unterstützt. An dem Positionspapier arbeiteten auch mehrere Kolleg_innen der neuen Initiative „Bildung und digitaler Kapitalismus“ mit. Die Auftaktveranstaltung der Initiative findet am 20./21. Juni 2022 an der Akademie der Kulturellen Bildung in Remscheid statt.
Prof. Dr. Horst Niesyto (im Ruhestand), bis 2017 Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Medienpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
https://horst-niesyto.de
Der Beitrag basiert (im Hauptteil) auf dem Positionspapier, an dem der Autor des Blogbeitrags mitwirkte: https://doi.org/10.21240/mpaed/00/2021.11.29.X
Über diesen Bildungsblog
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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin
Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung
Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung
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