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Wir reden oft nur darüber, aber nicht miteinander. Heute wollen wir die Chance nutzen, um über die Herausforderungen im Studium in Zeiten von Corona zu sprechen.
Bild: Screenshot Podiumsdiskussion von Screenshot: ArbeiterKind.de
Von Evamarie König
„Wir reden oft nur darüber, aber nicht miteinander. Heute wollen wir die Chance nutzen, um über die Herausforderungen im Studium in Zeiten von Corona zu sprechen“, so ArbeiterKind.de-Gründerin Katja Urbatsch bei der Eröffnung einer großen Online-Konferenz ihrer Organisation am 21. November 2020. Einen ganzen Tag lang sprachen wir mit Schüler_innen, Lehrer_innen, Hochschulmitarbeitenden, Dozent_innen und vielen Ehrenamtlichen über Herausforderungen und Lösungsansätze in der aktuellen Situation. Eine nicht-repräsentative Umfrage von ArbeiterKind.de unter Schüler_innen und Studierenden zeigte: 80% der Arbeiterkinder sagen, dass Corona ihnen finanzielle Schwierigkeiten bereitet hat. Viele leben sparsamer. Einige haben gesagt, dass sie am Essen sparen. An den Schulen ist die Benachteiligung von sozial schwächeren Schüler_innen gestiegen. Viele haben keine Rückzugsmöglichkeit, keinen Raum, um in Ruhe zu lernen. Stattdessen müssen manche bei der Hausarbeit und der Finanzierung der Familie mithelfen. Im Studium erschwert das digitale Semester den Einstieg, einigen Studierenden fehlt die technische Ausrüstung. Die Verunsicherung ist so groß, so dass manche gar den Abbruch in Erwägung ziehen. Die ungeklärte Finanzierung ist ein entscheidender Faktor, der die Unsicherheit verstärkt.
In insgesamt sechs moderierten Worksessions gingen wir den zentralen Fragen nach, die sich durch Corona neu und in größerer Relevanz stellen.
Schule in Zeiten von Corona
Harald Mieden, Berufs-, Studien- und Berufsorientierungslehrer an der Frida-Levy-Gesamtschule in Essen, Tanaz, Schülerin einer 13. Klasse in NRW, und Meret, Schülerin einer 13. Klasse in Bremen berichteten von ihren Erfahrungen und Perspektiven aus der Corona-Zeit 2020. Tanaz berichtete von vielen Schüler_innen, denen die technische Ausstattung fehlt und denen sie aushelfen muss, indem sie beispielsweise Unterlagen ausdruckte. Sie verwies darauf, dass Homeschooling kein digitaler Unterricht ist, sondern Selbststudium bedeutet, ohne Unterstützung und der Möglichkeit, direkte Rückfragen zu stellen. Meret muss sich die bedrückende Frage stellen, ob sie in ihre Bildung investiert und in die Schule geht, um ihren Abschluss gut zu machen, oder Rücksicht auf Risikopatient_innen zu Hause nimmt. Harald Mieden stellte fest, dass die Pandemie die soziale Selektion verfestigt. Schüler_innen fallen aus dem System, da die persönlichen, strukturellen und technischen Hürden einfach zu groß sind. Die Session schloss mit dem Wunsch, dass alle an der Schule stärker in ihren Lebensrealitäten gesehen werden.
Veränderte Studienfinanzierung in Zeiten von Corona
Lisa Herold, Studentin und engagiert bei ArbeiterKind.de in Passau, Marc Stern, Student und engagiert bei ArbeiterKind.de in Chemnitz, Mylene Wienrank, Programmleiterin der Studienstiftung des deutschen Volkes, und Mike Pillardy, Mitarbeiter in der Sozialberatung des Studierendenwerks Kassel diskutierten über die Anforderungen an die Studienfinanzierung in Zeiten von Corona. Daniela Keil, Bundeslandkoordinatorin von ArbeiterKind.de in Sachsen und Sachsen-Anhalt, führte ins Thema ein: „Die Corona-Krise verschärft die Bildungsungleichheiten. Studierende aus nicht-akademischen Familien sind besonders betroffen. Sie haben meist ihre Nebenjobs verloren. Dies erhöht bei vielen die Existenzangst. Doch je höher diese ist, desto weniger Kurse belegen die Betroffenen im Semester. Das führt wiederum zu einer Verlängerung der Studienzeit, was sich die Studierenden aus Arbeiterfamilien meist nicht leisten können.“ Nicht-Akademikerhaushalte sind eher von Kurzarbeit betroffen. Als Lösungswege wurden die Verlängerung des BAföG-Antrags, den Wechsel des Nebenjobs von der Gastronomie in den Einzelhandel, die Aufnahme eines KfW-Studienkredits, der Rückzug zurück zu den Eltern mit Kids-Notfallfonds für unter 25-jährige, der Antrag auf Überbrückungsgeld und Notfallfonds an verschiedenen Universitäten identifiziert. Es wurde in der Diskussion sehr schnell deutlich, dass das Überbrückungsgeld zu spät kam und die Kriterien für die Beantragung nicht hilfreich waren. Die Zinslosstellung des KFW-Kredites bis Ende März verschafft nur kurzfristig etwas Luft, es bleibt immer noch ein Kredit, der zurückgezahlt werden muss. Wenn man berücksichtigt, dass das Aufnehmen von Schulden gerade in Nicht-Akademikerfamilien keine Option darstellt, trägt dieses Instrument nicht zur Problemlösung bei.
Berufs- und Studienorientierung in Zeiten von Corona
Katrin Balthaus, Studienberaterin an der TU Clausthal und Melanie Tajnsek-Gehne, Lehrerin am Louis-Baare Berufskolleg Bochum gaben einen Einblick in die Gestaltung und Umsetzung von Angeboten zur „Berufs- und Studienorientierung in Zeiten von Corona“. Mit den rund 50 Teilnehmenden aus Schulen und Hochschulen fand ein reger Austausch statt. Die Teilnehmenden waren sich einig: Studienorientierung ist und bleibt wichtig, die vielfältigen Angebote von Seiten der Hochschulen werden aber leider trotz Bedarf aus vielerlei Gründen nicht wirklich angenommen, so dass das Erleben von Hochschule nicht gegeben ist. Die Zielgruppe ist derzeit nur schwer zu erreichen und die Handlungsspielräume von Seiten der Hochschulen sind begrenzt. Es wurde deutlich, dass Vertreter_innen aus Schulen und Hochschulen sehr engagiert, flexibel und offen diese Lücke schließen wollen und weitere Vernetzung und Kooperation geplant ist.
Studium – Diversität – Corona
Lynn Mecheril, Projektmitarbeiterin für Antidiskriminierung und Diversity an der HAW Hamburg, betonte zum Thema Diversität, dass die vielfältige Benachteiligung in unserer Gesellschaft im digitalen Studium offensichtlicher wird. Die technische Ausstattung verdeutliche, wer sich ein Studium leisten könne und wer nicht. Generell lässt sich eine punktuelle Verschärfung von Diskriminierung beobachten. Als Hürden wurden insbesondere die gestiegenen Anforderungen an die Selbstorganisation und das Zeitmanagement erkannt. Die technische Ausstattung ist für viele Erstakademikerkinder eine große Herausforderung. Insbesondere fehlt der direkte Austausch in den Veranstaltungen, die Flurgespräche mit den Mitstudierenden, aber auch mit den Lehrenden. Erstsemesterstudierende müssen sehr flexibel sein und noch intensiver recherchieren und relevante Informationen erarbeiten. Lern- bzw. Chatgruppen ermöglichen hier einen verbesserten direkten Austausch und eine soziale Anbindung. Wer sich im digitalen Raum gut bewegt, kommt auch im digitalen Studium gut zurecht und genießt die zeitliche und räumliche Unabhängigkeit. Zum Teil gelingt die Vernetzung mit Fachstellen, Fachschaften und Lehrenden sogar besser als Offline. Gerade Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen kommen mit Online-Veranstaltungen besser zurecht. Die Möglichkeit, Veranstaltungen wiederholt anzuschauen, ist für Menschen mit sprachlichen Barrieren oder Lese-Rechtschreib-Störung hilfreich.
Studienstart – Ankommen und Bleiben
Rebecca Rippert, Jura-Studentin im ersten Semester an der Goethe-Universität Frankfurt a.M., gab einen anschaulichen Einblick in ihren Studienstart. Sie hat sehr viel Recherche im Vorfeld betreiben müssen, da das Umfeld nicht weiterhelfen konnte. Nachdem sie ArbeiterKind.de kennen gelernt hatte, erhielt sie Antworten auf ihre Fragen. Gute Vernetzung, via Smartphone oder Social Media, hilft aus ihrer Erfahrung, im Gespräch mit anderen zu sein und im Studium anzukommen. Empfohlen wird von einigen Hochschulmitarbeitenden Peer-to-Peer: Angebote über Studierende, die direkt ansprechbar sind und sich erkundigen, wie es den Studierenden geht, die Austausch und Partizipationsmöglichkeiten schaffen. Unter den teilnehmenden Beratungsinstitutionen und Hochschulen herrschte große Bereitschaft, nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Es wurde aber auch deutlich, dass die Hochschulen selbst auf eine digitale Lehre bzw. ein Hybridsemester nicht vorbereitet waren. Der Kontakt zu den Studierenden ist erschwert. Es herrscht eine große allgemeine Unsicherheit.
Wie wirken sich die pandemiebedingten Veränderungen auf Engagement aus?
Im Rahmen der Konferenz wurde diese Frage bezogen auf das Engagement bei arbeiterkind.de konkretisiert. Hier waren sich die Teilnehmenden einig, dass die Umstellung am Anfang nicht leicht fiel und auch technische Hürden gemeistert werden mussten. Einige Engagierte gingen verloren, auf der anderen Seite haben sich viele Neuengagierte gemeldet und sind sehr unkompliziert eingestiegen. Sie gut einzubinden, aber vor allem auch virtuelle Treffen und Veranstaltungen so zu bewerben, dass Ratsuchende den Weg zu ArbeiterKind.de finden, ist die Herausforderung, die mit der Zeit immer besser gelingt. Janna Voigt, ehrenamtlich bei ArbeiterKind.de in Emden engagiert: „Ich finde, wir sind in Emden als Engagierte bei ArbeiterKind.de während der Corona-Krise stärker zusammengewachsen.“ Hannah Rindler, Bundeslandkoordinatorin von ArbeiterKind.de in Berlin, betonte: „Die virtuellen Begegnungen haben uns nicht nur im Hauptamtteam von ArbeiterKind.de die Möglichkeit gegeben, uns öfter zu sehen und stärker zu vernetzen. Wir beobachten auch, dass die vielen ArbeiterKind.de-Gruppen sich deutschlandweit untereinander häufiger begegnen, z. B. durch das Veranstaltungsformat 'Blind Match'. Treu nach unserem Jahresmotto #StarkVernetztGemeinsamStärker.“ Ein schönes Fazit wurde in der Diskussion gezogen: Das Gute behalten, an den Herausforderungen wachsen, stolz auf die eigene Leistung sein und sich feiern.
Bei der anschließenden Podiumsdiskussion wurden die vielen Detailfragen noch einmal abschließend zusammengeführt. Prof. Dr. Joybrato Mukherjee, Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen und Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), Anna Traus, Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Autorin der Studie „Stu.diCo – Studieren digital in Zeiten von Corona“, Tan Minh Nguyen, Student und engagiert bei ArbeiterKind.de Bochum, Sarah Tenholte, Studienrätin und Lehrerin an der Humboldtschule Hannover, sowie Katja Urbatsch, Gründerin und Geschäftsführerin von ArbeiterKind.de, brachten noch einmal die unterschiedlichen Perspektiven zum Ausdruck. Anna Traus fasste die Herausforderungen auf der Podiumsabschlussdiskussion zusammen: „Die Planungsunsicherheiten für die Studierende sind sehr gravierend. Drei Semester in der Pandemie sind ein großer Zeitraum. Die Familie ist sehr wichtig geworden, viele sind beispielsweise nach Hause zurückgezogen. Ohne Familiensupport sind Studierende stark benachteiligt. Der fehlende direkte Kontakt zu den anderen, das sehr eigenständige Lernen sind die größten Belastungen gerade für Arbeiterkinder. Der akademische Habitus kann online noch weniger erlernt werden. Die Hemmschwelle, online in direkten Kontakt zu den Lehrenden zu gehen, ist höher. “
Und beim Thema Finanzierung erklärte Katja Urbatsch: „Wichtig wäre der Perspektivwechsel und die Kenntnis der Lebensrealität von Studierenden, die kein Geld haben. Manche akademischen Eltern merken nicht mal, wenn sie mal eben den Semesterbeitrag für ihr Kind überwiesen haben. Das Unverständnis für andere und die Unfähigkeit, sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen, werden immer größer. Es gibt Studierende, die völlig auf sich allein gestellt sind. Diese Dramatik wird nicht wahrgenommen. Eine Haltung des Misstrauens ist weit verbreitet in Bezug darauf, wer finanzielle Hilfen bekommt und ob man die auch wirklich verdient hat. “
Weitere Informationen, den Live-Blog sowie Unterlagen und Präsentationen zum Download sind auf der Seite www.konferenz.arbeiterkind.de eingestellt.
Evamarie König ist Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei ArbeiterKind.de
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat sich im Rahmen der Online-Konferenz „Neu an der Hochschule: Und alles ist anders?“ konkret mit dem Thema Studieneinstiegsphase für Erstakademiker_innen beschäftigt. Der Livestream der Veranstaltung ist hier abrufbar: https://www.fes.de/themenportal-bildung-arbeit-digitalisierung/bildung/hochschuled-alles-anders
Über diesen Bildungsblog
Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.
Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.
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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin
Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung
Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung
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